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Artikel „Tiedge, Christoph August“ von Max Mendheim in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 38 (1894), S. 281–285, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Tiedge,_Christoph_August&oldid=- (Version vom 4. Oktober 2024, 02:38 Uhr UTC)
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Band 38 (1894), S. 281–285 (Quelle).
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Tiedge: Christoph August T. (1752–1841), Dichter, wurde am 14. December 1752 zu Gardelegen in der Altmark geboren; er war der älteste Sohn des Rectors der gelehrten Stadtschule daselbst, Johann Konrad T., und seiner Gattin, der Tochter des Kaufmanns Zacharias Lempolius. Bereits als dreijähriges Kind saß er lauschend zu den Füßen der Mutter, die ihn in jenem Alter in angemessener Weise mit dem reichen Schatze von Fabeln und Märchen vertraut machte, der in ihrem Gedächtniß haftete. Aber auch seine Wärterin suchte nach ihrer Weise zur Bildung des Knaben beizutragen durch Erzählung schauerlicher Geschichten und sog. Ammenmärchen, die nur zu leicht das Gemüth des Kindes gefangen nehmen und mit Grausen erfüllen. Auch auf T. übten diese denselben Einfluß, machten ihn übermäßig scheu und furchtsam und verursachten so eine Schüchternheit und Aengstlichkeit in dem Knaben, die der Vater durch seine gewaltsamen Gegenmaßregeln nur noch verstärkte und dadurch zu dauernden Charaktereigenschaften seines Sohnes machte, der andererseits von der Mutter und den übrigen Hausgenossen in übermäßiger Weise verhätschelt wurde. [282] Dazu kam, daß der Knabe von den Pocken befallen wurde, durch diese seine kindliche Schönheit verlor und auch eine Lähmung des rechten Fußes davon trug, was ihn immer schüchterner und menschenscheuer machte und in den Ruf geistiger Unfähigkeit brachte. Auch in Magdeburg, wohin der Vater 1758 als Conrector des Gymnasiums versetzt worden war, besserte sich diese Gemüthsstimmung nicht; ja sie wurde eher bestärkt durch finstere, rauhe Lehrer, die dem Knaben sowol auf der Volksschule, wie auf dem Gymnasium entgegentraten. Auch der Vater zweifelte an den Fähigkeiten seines Erstgeborenen und nahm ihn deshalb nach wenigen Jahren vom Gymnasium, um ihn in der Häuslichkeit wenigstens zu einem Abschreiber heranzubilden. Durch lebhafte Declamation von Gesangbuchsliedern und Gellert’schen Gedichten, womit sich August in seinen einsamen Mußestunden die Zeit vertrieb, wurde er im November 1764 angeregt, selbst ein Gedicht auf den Geburtstag des Vaters zu verfassen, der nun eine günstigere Meinung von den geistigen Kräften seines Sohnes bekam und beschloß, ihn der wissenschaftlichen Laufbahn zurückzugeben. Von seinem Oheim, einem Candidaten der Theologie, in dem Versäumten unterrichtet und durch eigene Lernbegierde gefördert, konnte August schon bald selbst andere Knaben in dem Erlernten unterweisen und sich ein Taschengeld erwerben, das später der Familie wohl zu statten kam, als der Vater, durch Krankheit genöthigt, seine eigenen Privatstunden aufgeben mußte und dann im Herbst des Jahres 1769 starb. Durch dies Ereigniß gerieth die Mutter mit ihren sechs Kindern in ziemliche Noth, die nach Möglichkeit zu lindern, ihres Erstgeborenen eifrigstes Streben war. 1770 bezog T. dann die Universität Halle, um die Rechte zu studiren. Unter Mühen und Anstrengungen betrieb er hier seine Studien, setzte aber auch seine poetischen Versuche fort, von denen mehrere in die damals verbreiteten Musenalmanache und Zeitschriften aufgenommen wurden, und begann bereits sein größeres Gedicht „Urania“, veranlaßt durch seine eifrige Beschäftigung mit Metaphysik und die philosophischen Unterhaltungen mit seinen Freunden Ragotzky und Wessenberg.

Nach Abschluß seiner Studien ging T. 1777 nach Magdeburg zurück, wo er nun einen Theil seiner Zeit mit Uebungsarbeiten bei einem Advocaten zubrachte, den übrigen Theil aber, zur Erwerbung seines Unterhaltes und der Unterstützungen für seine Angehörigen, dem Ertheilen von Privatstunden, Uebersetzungen und Abschreiben juristischer Actenstücke widmete. Als ihm dann nach drei Jahren die Erlangung eines Justizamtes zunächst nicht glückte, übernahm er 1781 die Stelle eines Hauslehrers in der Familie des Kammerdirectors v. Arnstedt in Ellrich. Hier lernte T. bald auch Göckingk und seine Familie, die Dichterin Christine v. Hagen u. A. kennen und hatte die besondere Freude, Anfang des Jahres 1784 von Gleim eine Einladung nach Halberstadt zu erhalten, der er allerdings erst 1788 Folge leistete. Inzwischen machte er noch in Ellrich die persönliche Bekanntschaft des alten Vater Gleim und auch der Frau Elise von der Recke, die vom November 1784 bis zum Mai 1785 ihrer Kränklichkeit wegen auf Göckingk’s Einladung in dessen Landhaus Wülferode lebte und auf T. gleich bei ihrer ersten Begegnung einen großen Eindruck machte, wenn auch nur als Frau von Geist und edlem Wesen, während ihre Freundin Sophie Becker auch sein Herz zu fesseln schien. In dieser Umgebung, die ihm die Arbeit zur Freude machte und seine Dichtungen eifrig förderte, konnte er sich nun eigentlich zum ersten Male wirklich glücklich fühlen; aber schon Ende des Jahres 1789 sah er sich, als Secretär bei dem Landrath v. Hagen in Eulenstedt, fast gänzlich von seinen Freunden und den Musen geschieden, so daß ihn das Gefühl jener Glückseligkeit, das ihn sowol in Ellrich wie in Halberstadt erfüllt hatte, wo er in stetigem Umgange mit Gleim, Klamer Schmidt, Stamford und vielen anderen [283] Männern dieses Kreises lebte, bald ganz verlassen hätte, wenn er nicht mit den Freunden fortwährend in reger Verbindung geblieben wäre. Aber T. hatte in dieser neuen Stellung mit Gegenständen zu thun, die ihm von Herzen verhaßt waren, wie z. B. die Kantonbereisungen und die Einlieferung der Rekruten an die Regimenter zu seinen Obliegenheiten gehörten, und so entsagte er denn und kehrte 1791 nach Halberstadt zurück, wo er nun als Mitherausgeber an der deutschen Monatsschrift theilnahm, bis er 1792 den Antrag annahm, Gesellschafter und Reisebegleiter eines jungen Herrn v. Stedern zu werden, der jedoch bereits nach achtzehn Monaten starb und eine kranke Gattin mit zwei Töchtern hinterließ. Von der Wittwe gedrängt, auch ferner im Hause zu bleiben und die Erziehung ihrer Kinder zu leiten, ließ sich T. bewegen, eine ihm schon zugesagte bedeutende Stelle in der Provinz auszuschlagen. Ein halbes Jahr später siedelte die Familie nach Magdeburg über und 1795 nach Neinstedt bei Quedlinburg, zuletzt nach Quedlinburg selbst, wo Frau v. Stedern 1797 starb. Die verwaisten Kinder wurden in eine Pension gegeben, und T., dem ihre Mutter eine kleine Präbende verschafft und ein Ruhegehalt ausgesetzt hatte, unternahm nun im März 1798 eine Reise über Berlin zu seinem jüngeren Bruder nach Frankfurt a. d. O., und dichtete in dieser Zeit bei einem Besuche des Schlachtfeldes seine bekannte „Elegie auf dem Schlachtfelde bei Kunersdorf“. Im Herbst dieses Jahres begab er sich sodann nach Berlin, wo er unter Anderen auch J. J. Engel kennen lernte und eine Zeit lang die „Ephemeriden“ herausgab. Von Wilhelm Gottlieb Becker, dem Herausgeber des „Taschenbuchs zum geselligen Vergnügen“, eingeladen, siedelte T. im Frühjahr 1799 nach Dresden über; hier nahm er nun auch nach wiederholten Anläufen seine „Urania“ wieder vor und vollendete deren sechsten Gesang. Doch schon nach zwei Monaten ging er über Halle, wo er durch A. G. Eberhard mit seinem nachmaligen Verleger Schiff, dem Besitzer der Renger’schen Buchhandlung, bekannt wurde, nach Berlin zurück. Hier erneuerte er 1803 auch die Bekanntschaft mit Frau Elise von der Recke, die damals mit ihrer Stiefschwester, der Herzogin von Kurland, deren Leben T. später für Brockhaus’ „Zeitgenossen“ beschrieb, nach Berlin kam und T. alsbald zu sich einlud. Aus diesem Wiedersehen gestaltete sich eine unzertrennliche Freundschaft für das ganze Leben, an deren Reinheit wol nur müßige Schwätzer zu zweifeln unternahmen. Zunächst besuchte T. im Frühjahr 1803 mit der stets leidenden Frau die Bäder von Teplitz, Karlsbad und Franzensbrunnen, kehrte dann, nachdem er noch eine Donaufahrt bis Wien unternommen hatte, allein nach Berlin zurück und schloß sich erst im nächsten Jahre wieder der Badereise seiner Freundin an, die er dann auf ihren Vorschlag auch nach Italien begleitete, wo sie nicht nur den Rathschlägen der Aerzte zufolge die Bäder von Ischia und Neapel aufsuchten, sondern alle hervorragenden Orte und Sehenswürdigkeiten in Augenschein nahmen. Während eines hitzigen Nervenfiebers, das T. am 20. August 1805 in Neapel überfiel und etwa vier Wochen an das Krankenbett fesselte, zeigte sich ganz besonders die liebevolle Aufopferung und Freundschaft der Recke, die ihn mit unermüdlicher Sorgfalt und Ausdauer pflegte. Im Herbst 1806 kehrten sodann die Reisenden über die Schweiz nach Deutschland zurück und verweilten während des Winters von 1806 auf 1807 auf dem Schlosse zu Altenburg als Gäste des Herzogs August von Gotha. Die Sommer der folgenden Jahre wurden meist in Gemeinschaft in den böhmischen Bädern oder zu Löbichau verlebt, dem Lieblingsaufenthalt der Herzogin von Kurland, die dort stets einen Kreis bedeutender Männer um sich versammelte, die Winter bis zum Jahre 1818 in Berlin, später in Dresden, wo sich gleichfalls ein auserlesener Kreis bedeutender Geister um die Recke schaarte. Hier wohnte, nur durch eine Thür von dem Musen- und Freundschaftstempel dieser Frau getrennt, ihr treuer Freund und [284] Lebensgefährte T. „Jahre vergingen auf solche Weise in schöner Ruhe, aber auch in einer gewissen Einförmigkeit“. Mit liebevoller Sorge war Frau von der Recke darauf bedacht, ihrem Freunde und Schützling auch nach ihrem Tode ein sorgloses Leben zu sichern, und so konnte T., als sie am 13. April 1833 starb, durch ihr Vermächtniß im Genusse seiner und ihrer bisherigen Wohnung, an der nichts geändert werden sollte, und einer nicht unbedeutenden Rente, sowie gepflegt von der seiner Wohlthäterin innigst ergebenen Familie Pappermann, wenn auch einsam, so doch ohne äußere Noth die ihm noch beschiedenen Jahre verleben. Ein zahlreicher Kreis von Freunden und Freundinnen fand sich allabendlich bei dem Dichter ein, um ihm Zerstreuung zu verschaffen. Hatte er sich noch in den letzten Jahren vor dem Tode seiner Freundin, außer mit poetischen Kleinigkeiten, auf seines Freundes Eberhard Drängen mit der Abfassung seiner Selbstbiographie, die freilich Fragment blieb, und mit seiner letzten größeren Dichtung „Wanderungen durch den Markt des Lebens“ beschäftigt, so gab er sich nun fast nur noch der Unterhaltung mit seinen Besuchern hin. Ein Unfall, der dem Greis noch im Sommer 1838 begegnete und ihm außer einem Bruch des Nasenbeines auch eine Gehirnerschütterung zuzog, hatte nun eine Abnahme seiner geistigen Kräfte zur Folge; sein Gedächtniß wurde schwächer, „die Heiterkeit des Geistes, die sich so gern in schlagfertigen Bemerkungen, in Scherzen oder in Satire Luft machte, verlor ihre Schärfe, das Urtheil, die Spannkraft und selbst das sonst so voreilige Gemüth zog sich zurück hinter die Schranken einer theilnahmlosen Gleichgültigkeit“ (Falkenstein). Nachdem er im Sommer 1840 noch einmal eine Badereise nach Karlsbad unternommen hatte, verlebte er den folgenden Winter in guter Gesundheit, bis wenige Abende vor seinem Tode sich ein leichtes Unwohlsein einstellte, dem er in der Nacht vom 8. zum 9. März 1841, kurz vor Mitternacht, erlag. Am Morgen des 12. März wurde er unter großer Theilnahme auf dem Friedhofe zu Neustadt-Dresden ohne Sarg, wie er es gewünscht hatte, neben seiner ehemaligen Freundin zur Ruhe bestattet.

Der Ruhm des Dichters T. hat sich nicht lange zu erhalten vermocht. In seinen kleineren poetischen Sachen kam er nicht über seine Vorbilder Gleim, Göckingk, Klamer Schmidt und ihre Anhänger hinaus und nur einige wenige Gedichte, besonders aus dem Liedercyklus „Das Echo oder Alexis und Ida“ (Halle 1812) und aus „Aennchen und Robert oder der singende Baum“, sind durch anmuthende Melodien weiteren Kreisen bekannt geworden. Sein Hauptwerk „Urania“ (zuerst Halle 1801 erschienen), eine auf rationalistischer Anschauung aufgebaute poetische Behandlung der Kant’schen Philosophie, fand schon damals keinen allgemeinen Anklang, wenn sich auch manche sentimentale Natur nicht um des Ganzen, sondern nur um einiger ansprechenden Einzelheiten willen sehr für das Werk begeisterte und dasselbe 1838 ins Französische, später ins Ungarische und zum Theil auch ins Italienische (1854) übersetzt wurde. Eine Aufzählung von Tiedge’s sämmtlichen Werken giebt Goedeke’s Grundriß, 2. Aufl., 5. Bd., S. 455 fg. Längerer Beliebtheit als der Dichter scheint sich der Mensch T. erfreut zu haben. Schon Sophie Becker nennt ihn 1784 einen Mann, „der durch längere Bekanntschaft viel gewinnt“, und Anselm Ritter v. Feuerbach sagt später von ihm: „mit ihm fühlte ich mich zuerst wieder Mensch zum Menschen. Offen, herzlich, liebenswürdig. Seine Seele verklärt seinen mißgestalteten Körper“. Zum Andenken an T. wurde 1841 in Dresden von Freunden und Verehrern des Dichters eine Tiedge-Stiftung gegründet, aus deren Vermögen (1892: 663 800 M.) Preise für dichterische Werke, musikalische Compositionen und Werke der bildenden Kunst verliehen, sowie Unterstützungen an hülfsbedürftige deutsche Dichter und Künstler oder deren Hinterlassene gezahlt werden.

Ueber Tiedge’s Leben vgl. besonders: C. A. Tiedge’s Leben und poetischer [285] Nachlaß. Herausgegeben von Karl Falkenstein. Bd. 1 u. 2 (Leipzig 1841) und die bei Goedeke noch angeführte Litteratur.