ADB:Schorlemer-Alst, Burghard Freiherr von

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Artikel „Schorlemer(-Alst), Burkard Freiherr von“ von Hermann von Petersdorff in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 54 (1908), S. 158–166, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Schorlemer-Alst,_Burghard_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 22. November 2024, 15:45 Uhr UTC)
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Schorlemer: Burkard Franz Ludwig Johann Maria Freiherr von Sch.(-Alst), preußischer Parlamentarier, geboren am 20. October 1825 zu Heringhausen im westfälischen Kreise Lippstadt, † am 17. März 1895 zu Alst im westfälischen Kreise Steinfurt, entstammte einer uralten, vorwiegend katholischen Familie Westfalens. Sein Vater, Friedrich Frhr. v. Sch. (geboren am 26. Januar 1786, † 6. Januar 1849), war in dem bis 1803 kurkölnischen Herzogthum Westfalen begütert (in Heringhausen und Overhagen) und wurde 1815 endgültig preußischer Unterthan. Es deutet wohl einen Gegensatz gegen die preußische Annexion an, daß er königlich sächsischer Kammerherr wurde. Immerhin erwies er sich nicht nur als ein Mann von gründlichen Kenntnissen, sondern auch von regem Gemeinsinn. Dies erfuhr u. a. der in Westfalen von der Krone mit der Herrschaft Cappenberg dotirte Reichsfreiherr Karl vom Stein bei Gelegenheit der Einrichtung der westfälischen Landstände und der langwierigen Arbeit der Anfertigung eines neuen Katasters für Westfalen, Unternehmungen, deren Durchführung Friedrich v. Sch. sich sehr angelegen sein ließ. Der Reichsfreiherr fühlte sich zu dem trefflichen westfälischen Edelmann hingezogen, trat mit ihm in einen regen Schriftwechsel und verkehrte auch mit dessen Familie. Wohl wird er den jungen Burkard noch kennen gelernt haben. Dieser erinnerte sich noch in späten Jahren mit Stolz der Beziehungen seines Vaters zu Stein. Die Mutter Schorlemer’s, Josephine (geboren am 25. August 1788, † am 18. Juni 1863), eine geistig bedeutende Frau, die in der Religion ihrer Mutter, einer katholischen Gräfin Lerodt, erzogen war, gehörte dem im übrigen evangelischen niederrheinischen Adelsgeschlecht [159] v. Pelden genannt v. Cloudt zu Lauersforth (im Kreise Rheinberg) an. Burkard war das jüngste einer Reihe von Geschwistern und das Lieblingskind seiner Mutter. Er genoß seine erste Erziehung im elterlichen Hause, die religiös, aber, entsprechend der Auffassung der damaligen Zeit, von Intoleranz gegen Andersgläubige frei war. Sodann kam er auf die königlich sächsische Militärbildungsanstalt zu Dresden, die sich eines besonders guten Rufes erfreute. Er gelangte dort in eine vorwiegend evangelische Anstalt und Umgebung. Der antikatholische Ton, der daselbst heimisch war, weckte in dem die westfälische Art nicht verleugnenden jungen Manne nur den heftigsten Widerspruch. Er bekennt, daß er sich infolge dessen gerade mit den Lehren der Jesuiten beschäftigt und die größte Verehrung für diese vielgeschmähte „streitbare Schar“ gewonnen habe. Es deutet die Aussöhnung des Vaters mit dem Preußenthume an, daß er drei Söhne, unter ihnen Burkard, in preußische Cavallerieregimenter eintreten ließ. Burkard kam am 1. November 1842 in das 8. Ulanenregiment, wurde am 18. März 1843 Portepeefähnrich und am 23. April 1844 Secondlieutenant. Das Regiment lag damals in Trier. Später kam Sch. mit ihm nach Düsseldorf und Bonn. Als junger Ulanenlieutenant nahm er im J. 1849 unter dem Oberbefehl des Prinzen von Preußen an der Bekämpfung des Aufstandes in der Pfalz und Baden theil und sog dabei einen unauslöschlichen Haß gegen die Revolution ein. Mit Verachtung sprach er noch in späten Jahren von der Feigheit der liberalen Wortführer, die er 1848 und 1849 praktisch kennen lernte. Damals besonders begann er sich als preußischer Patriot und Monarchist zu fühlen. Er nahm theil an den Gefechten bei Ubstadt, Bischweiler, Kuppenheim und Iffezheim und an dem Erkundungsritt bei Muggensturm. Bei diesem zeichnete er sich durch besondere Tapferkeit aus. Auf Veranlassung des Prinzen von Preußen erhielt er dafür am 20. September 1849 den Rothen Adlerorden mit Schwertern, der lange Zeit der einzige seine Brust schmückende Verdienstorden blieb. Vom Januar 1851 bis zu seinem am 7. October 1852 erfolgenden Ausscheiden aus dem Militärdienst war er Regimentsadjutant. Er suchte um seine Entlassung „unter dem gesetzlichen Vorbehalt“ vornehmlich wohl deswegen nach, weil sein Regiment nach Ostpreußen verlegt wurde. Am 5. Februar 1856 erhielt er endgültig den Abschied mit dem Charakter als Premierlieutenant.

Als er in Bonn stand, trat Sch. in Beziehungen zu dem gerade dort studirenden preußischen Thronerben, dem späteren Kaiser Friedrich, die dieser aufrecht erhielt. Dort in Bonn lernte er außerdem die 1849 verwittwete Gräfin Anna zu Droste-Vischering geb. Reichsfreiin v. Imbsen (geboren am 27. November 1820, † am 19. Januar 1891) kennen, mit der er sich am 16. November 1852 vermählte. Gleichzeitig kaufte er das Gut Alst bei Horstmar. Die Heirath und die ihm damit zufallende Erziehung mehrerer Stiefkinder sowie die Lage seines neuen Wohnsitzes im schroffkatholischen Münsterlande, in dem noch stark antipreußische Traditionen nachwirkten, haben seine kirchliche und politische Auffassung wesentlich beeinflußt. Er begann sich jetzt mit Eifer der Landwirthschaft zu widmen. Durch anhaltendes eifriges Studium eignete er sich eine gründliche fachliche und ebenso eine ausgezeichnete allgemeine Bildung an. Dabei kam ihm eine rasche Auffassungsgabe zu statten, wie denn rheinische Spannkraft und rheinischer Schwung mit westfälischer Tiefe und Grobkörnigkeit in ihm eigenthümlich verschmolzen waren. Es dauerte nicht lange, so gehörte er zu den angesehensten Landwirthen seiner Provinz. Wie einst sein Vater fand auch er Gelegenheit, bei der Anfertigung eines neuen Katasters (zu Beginn des Jahres 1861) im Regierungsbezirk Münster [160] eine größere Thätigkeit zu entfalten. Er hat später oft geäußert, daß ihn diese Arbeit mit den westfälischen Bauern und ihren Verhältnissen zuerst bekannt gemacht und in ihm den Wunsch erregt habe, den Bauernstand zur besseren Förderung seiner wirthschaftlichen Interessen in einem Verein zusammenzuschließen. Er gelangte zu der Ansicht, daß die Lage des westfälischen Bauernstandes, insbesondere durch die später hervorgetretenen Mängel der Gesetzgebung im Anfang des 19. Jahrhunderts, namentlich bei dem Fehlen eines festen Erbrechts, gefährdet sei, und daß es, um dem Ueberhandnehmen der Verschuldung einen Riegel vorzuschieben, der Selbstzucht und der Vereinigung der Landwirthe bedürfe. So gründete er im J. 1862 mit 37 Bauern in der Hauptstadt seines Kreises, Burgsteinfurt, den ersten Bauernverein („Vereinigung von Grundbesitzern im Kreise Steinfurt“), aus dem 1871 der westfälische Bauernverein erwachsen ist. Dreiunddreißig Jahre hat er an dessen Spitze gestanden. Die Zahl der Mitglieder betrug zu seinen Lebzeiten schließlich etwa 25 000. Viel gefeiert wurde er daher als „der westfälische Bauernkönig“.

Von vornherein leiteten ihn bei dem Unternehmen neben den wirthschaftlichen auch religiöse und antiliberale Beweggründe, wie ein Schreiben Schorlemer’s an den Bischof Ketteler von Mainz vom 15. Februar 1862 lehrt: „Jetzt oder nie gilt es den Bauernstand in Westfalen der ihn bedrohenden Gefahr zu entreißen. Es könnte dies wohl nur möglich sein, wenn es gelänge, den Bauernstand in einer auf religiöser Grundlage basirenden Corporation zusammenzufassen und damit zugleich den weiteren Zweck zu erreichen, dem Gift und Despotismus der modernen sogenannten Freiheit einen neuen gesunden Organismus entgegenzustellen.“ Die Beziehungen Schorlemer’s zu seinem thatkräftigen und einflußreichen Landsmann und Standesgenossen Ketteler spiegeln sich auch darin, daß er, einer Anregung des Mainzer Bischofs folgend, um 1863 einen Zweigverein der St. Michaelsbruderschaft, den St. Michaelsverein in Rheinland und Westfalen gründete, eine Gesellschaft katholischer Edelleute, die dem Papste durch Gebet und Geldspenden zu Hülfe kommen wollte. Der Verein entwickelte sich sehr zur Zufriedenheit Schorlemer’s. Bis zu seinem Tode nahm Sch. in ihm die Stellung als Präsident ein. Gleichfalls in den sechziger Jahren gründete Sch. den „Verein katholischer Edelleute in Westfalen“, der sich die Aufgabe stellte, das sittliche und religiöse Leben seiner Mitglieder zu fördern. Auch dem rein charitativen Orden der Malteserritter trat Sch. bei. Die Bethätigung römisch-katholischer Gesinnung hielt ihn indeß nicht ab, für die Anschauungen Andersgläubiger Verständnis zu zeigen. Auf die Wahl seines persönlichen Verkehrs wirkte sie nicht hinderlich ein. So verkehrte er später noch in Berlin viele Jahre mit einer sehr freigesinnten evangelischen Familie, in der er kaum jemals Anhänger seiner kirchlichen und politischen Richtung traf. Seit dem Jahre 1858 war er Kreisdeputirter des Kreises Steinfurt. Im J. 1863 wurde er zum Mitglied des Landesökonomiekollegiums ernannt. Dann wurde er Director des landwirthschaftlichen Provinzialvereins für Westfalen. Der Krieg von 1866 und die Verdrängung Oesterreichs aus Deutschland wurde von ihm schmerzlich und als ein Unrecht empfunden. Doch stellte er sich bald auf den Boden der Thatsachen. Im Kriege 1870/71 bethätigte sich Sch. als Krankenpfleger. Die damaligen Ereignisse söhnten ihn, wie wohl gesagt werden darf, mit Bismarck’s deutscher Politik aus.

Inzwischen war er bereits auf der Bahn angelangt, auf der er am bekanntesten werden sollte. Als im April 1870 im 2. Wahlkreis des Regierungtsbezirks Münster, in Münster-Coesfeld, für den Norddeutschen Reichstag [161] eine Nachwahl stattzufinden hatte, wurde Sch. an Stelle des bisherigen liberalen Vertreters gewählt. Bald darauf schickte ihn der Kreis Steinfurt-Ahaus ins preußische Abgeordnetenhaus. Er hat ihn drei volle Jahrzehnte ununterbrochen vertreten. Bei den Besprechungen, die zur Bildung der Centrumspartei führten, erwarb er sich sofort eine Stellung. August Reichensperger erklärte ihn für das fähigste unter den neugewählten katholischen Mitgliedern. Ursprünglich war Sch. für Mallinckrodt’s Vorschlag, die zu gründende Partei „conservative Volkspartei“ zu benennen. Der heraufziehende kirchenpolitische Streit löste seine ganze Kraft aus. Das Abgeordnetenhaus war das gegebene Feld für ihn; und dort hat er denn auch vornehmlich seine Rolle als Parlamentarier zu spielen gehabt. Von 1873–1890 war er dort Vorsitzender der Centrumsfraction. Nach Mallinckrodt’s Tode im J. 1874 zog er auch, vom Kreise Tecklenburg-Steinfurt-Ahaus gewählt, in den Deutschen Reichstag ein. Dort wurde er indes nicht so heimisch wie im Landtage. Der preußische Staat sollte bald auch an Sch. wieder gewahr werden, daß ein Unterschied zwischen dem schlesischen und dem rheinisch-westfälischen katholischen Adel bestand. Sch. war mittlerweile zu sehr verfilzt mit alten antipreußischen Traditionen, um nicht empfindlich zu reagiren, wenn diese Traditionen berührt wurden. Der Bismarck-Falk’sche Culturkampf reizte in dem starrköpfigen Sohn der rothen Erde nicht nur sein seit seiner Heirath stark genährtes römisch-katholisches Bewußtsein, sondern rief auch den Gegensatz des Münsterländers, zu dem er vollkommen geworden war, gegen das Borussenthum wach, um so mehr, als die zahlreichen Mißgriffe, die Bismarck und seine Werkzeuge sich in dem tragischen Conflict zu Schulden kommen ließen, zu offenbar waren. Der Verwandte des Erzbischofs Droste-Vischering unglücklichen Angedenkens und der gelehrige Jünger des Freiherrn v. Ketteler erwies sich in den Jahren, in denen der Streit zwischen Staat und Kirche tobte, als ein recht willfähriger Zögling des ultramontanen Clericalismus. Sch. überkam gleichsam ein furor teutonicus in diesen Auseinandersetzungen. Nicht unrichtig hat man von seinem cholerischen Temperament gesprochen. Hierin war er seinem großen Gegner wesensverwandt. Mit schonungsloser Schärfe ging er gegen Bismarck vor, geradeaus, derb, ja drastisch und doch wieder geschickt. Er verstand es meisterhaft, den Kern der Debatte herauszuschälen, war ungewöhnlich schlagfertig und dabei recht witzig. Seine kräftige Stimme füllte den Saal bis zum letzten Winkel aus. Dabei trat er mit einer bewundernswerthen Sicherheit, ja fast immer mit einer gewissen Souveränität auf. Zum guten Theil lag darin die geborene Herrennatur, die zumeist auch den Eindruck des Vornehmen und Ritterlichen hinterließ. Daneben war diese Ueberlegenheit aber auch von der Beherrschung der Materie und schließlich von einer gewissen Keckheit Schorlemer’s eingegeben. Wie seine Unternehmungen, so bekundeten seine Reden einen ungemein gesunden Menschenverstand. Diesen „hochzuhalten“ war ein Rath, den Sch. gern jüngeren Parteigenossen ertheilte. Wohl ist gesagt worden, daß sein Draufgängerthum seinen politischen Freunden wie Windthorst öfter unbequem wurde. Das darf aber für die Culturkampfperiode in der Hauptsache bezweifelt werden. Seine Art war nur zu wohl geeignet, die Kampfnatur Bismarck’s weiter fortzureißen auf ihrer Bahn. Man ist versucht anzunehmen, daß das Centrum ein angriffslustiges Temperament, wie Sch. war, als Sturmbock gegen den Kanzler benutzt hat. Wenn Sch. sich bei dem Reichskanzler dadurch einführte, daß er ihm Unwahrheiten vorwarf, oder wenn er den Fürsten Bismarck (am 9. Mai 1873) die „katilinarische Existenz“ nannte, die den Frieden des Vaterlandes bedrohte, oder ihm [162] (am 15. Januar 1874) vorrückte, daß es ein Unding sei, wenn Bismarck sich über revolutionäres Vorgehen der Bischöfe beklage, wo der Kanzler selbst sich der ungarischen Legion bedient habe, wenn er ihn (7. November 1876) mit einem Major domus verglich und fortgesetzt (z. B. am 13. März 1877) von dem Absolutismus im Reichskanzleramt sprach, so durfte der Ultramontanismus darauf hoffen, daß der gereizte Kanzler sich Blößen geben würde. Auf den Thron selbst zielte Sch., als er am 27. Februar 1877 im Abgeordnetenhause rief: „Der Culturkampf wirft auch seine dunklen Schatten auf das Verhältnis des Volkes zur Dynastie. Sie rufen Oho! Ich habe den Muth und die Ehrlichkeit, mit schwerem Herzen und mit Schmerz eine Wahrheit hier auszusprechen, die ich aussprechen muß, weil es Pflicht ist; ich will mir nicht den Vorwurf machen lassen, geschwiegen zu haben, wo reden Pflicht war; ich will nur wünschen, daß eine wohlgemeinte Warnung an rechter Stelle gehört wird.“ In diesen Worten lag nicht eine bloße Drohung. Sch. glaubte in der That, und wohl nicht mit Unrecht wahrzunehmen, daß in den katholischen Landestheilen die Liebe und Anhänglichkeit zum preußischen Königshause infolge des Culturkampfes bedenklich erschüttert wurde. Er selbst war an seinem Theile bemüht, diesem zerstörenden Einflusse des kirchenpolitischen Streites dadurch vorzubeugen, daß er in seiner Heimathprovinz ein gutes Einvernehmen mit dem derzeitigen Oberpräsidenten von Westfalen und insbesondere mit den Landräthen seines Kreises zu unterhalten suchte und bereitwillig seinen großen Einfluß nach den Wünschen dieser Vertreter der Staatsregierung geltend machte. Das haben ihm diese oft nachgerühmt.

Zuweilen waren die Gegner geradezu verblüfft über die Kühnheit, mit der Sch. seine parlamentarischen Attacken ritt. A. Reichensperger vermeinte nach einer solchen Rede wohl eine demontirte Batterie vor sich zu sehen. Nicht minder eifrig wie gegen Bismarck selbst polemisirte Sch. gegen einzelne Abgeordnete, wie Sybel, Eugen Richter, Eynern. „Rücksichtslos, aber ehrlich“ hat Bismarck von Schorlemer’s Kampfesweise wohl zu Vertrauten gesagt. Seinen größten Ingrimm entlud Sch. auf die Bismarck’sche officiöse Presse, die ihn auch nicht schonend behandelte. Der feine Blick des ehrlichen Mannes bekundete sich gelegentlich schlagend, z. B. wenn er, der sonst den Abgeordneten der Rechten mit besonderer Höflichkeit und Achtung zu begegnen pflegte, (am 5. März 1884) dem Conservativen Wilhelm v. Hammerstein ins Gesicht sagte: er spiele nur Charakter.

Sehr bald klang aber in dem grimmigen Kampfe Schorlemer’s gegen Bismarck ein freundlicher Unterton mit, als er merkte, daß der Kanzler sich vom Culturkampf der Pflege der agrarischen Interessen zuwenden würde. Er konnte noch nichts von dem Bevorstehen einer Schwenkung des leitenden Staatesmannes wissen, aber er ahnte sie richtig, als er bald nach Begründung der „Vereinigung der Steuer- und Wirthschaftereformer“ am 15. Mai 1876 im Abgeordnetenhause von dem bereits hörbaren eisenbeschlagenen Schritte der Agrarier sprach, an deren Spitze Bismarck als Tambourmajor marschire. Freilich war er im Lauf der Jahre schließlich dermaßen in seine Kampfstimmung verbissen, daß er zuerst nicht einzulenken vermochte, als Bismarck friedliche Saiten aufzog, und im März 1878 eine Fractionssitzung demonstrativ verließ, in der einem Nachgeben das Wort geredet wurde. Allmählich aber gelang es dem „Reitergeneral“ des Centrums, sein Roß zu zügeln, und wie A. Reichensperger, mit dem er nahe befreundet geworden war, sah er das Einlenken des Papstes wegen der Anzeigepflicht (1880) als ein „erfreuliches Omen“ an. Dies änderte aber sein Verhältniß zu Windthorst. Hinzu trat die Aenderung in der Wirthschaftspolitik. Zur Zeit der Berathung des Zolltarifs [163] weiß das Tagebuch des Abgeordneten Hölder (Juni 1879) von auftretenden Gegensätzen zwischen den beiden Hauptführern des Centrums, die Windthorst und Sch. damals waren, zu melden. Windthorst suchte die conservativen Regungen im Centrum, deren geborener Anwalt Sch. war, geflissentlich niederzuhalten. Ob die starke Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Männern wegen der Behandlung der Judenfrage (im November 1880), in der Sch. als gewiegter Kenner der ländlichen Verhältnisse scharf gegen das Judenthum losgezogen wissen wollte, weil er in diesem, wie der alte Oberpräsident v. Vincke, „die Pest des Landes“ sah, schon eine Entfremdung zwischen den beiden Führern des Centrums herbeiführte, läßt sich nicht sagen. Zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen kam es bald danach bei der Berathung über die Unfallversicherung im Juni 1881. Nur mühsam gelang es August Reichensperger, zu vermitteln.

Neue Differenzen gab es, als Sch. den Dortmund-Ems-Canal bekämpfte. Darüber kam es sogar zu einem Zusammenstoß mit Windthorst bei offener Scene (5. März 1883). In wichtigen Fragen wie dem Socialistengesetz und der Polenpolitik ging Sch. freilich noch Hand in Hand mit Windthorst. Es konnte kaum einen schärferen Bekämpfer der Bismarck’schen Gesetzgebung gegen die Polen geben als den westfälischen Freiherrn. Ob in diesem Punkte nicht auch eine antipreußische Saite mitschwang? Hatten doch die Münsterländer Edelleute von jeher verwandte Empfindungen mit dem polnischen Adel gegenüber der preußischen Monarchie. Oder ob hier der ultramontane Einfluß allein entschied? Immerhin verurtheilte Sch. die großpolnische Bewegung. Für die damaligen Vertreter des Polenthums empfand er eine gewisse Sympathie. Lebhaft interessirte er sich für die Wahl des Erzbischofs v. Stablewski in der Hoffnung, daß der Einfluß des damals maßvoll auftretenden Mannes günstig wirken würde. Im wesentlichen neigte sein Herz, nach den offenbaren Proben der Friedfertigkeit der Regierung, überhaupt zur Versöhnung. Nachträglich verschloß er sich nicht der Erkenntniß, daß er in seinen Angriffen auf den Kanzler oft zu weit gegangen war. Er begann Bismarck’sche Soireen zu besuchen und wurde von dem Reichskanzler sehr ins Gespräch gezogen. Mehrmals hat der Fürst ihn auch zu politischen Besprechungen zu sich gebeten, bei denen deutlich das Bestreben der Annäherung unter den Beiden zu Tage trat. Einmal gab es auch eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Freunde A. Reichensperger, bei der dieser sorgenvoll drein schaute. Es handelte sich um die Einrichtung des preußischen Volkswirthschaftsraths, die Sch. im Gegensatz zu Reichensperger warm befürwortete. „In diesem Augenblicke stehen die Dinge doch so,“ lautete eine charakteristische Wendung in seiner damaligen Rede (Reichstag 10. Juni 1881), „daß in Wirklichkeit die Bevölkerung den politischen Hader herzlich satt hat.“ Der Oeffentlichkeit entging es nicht, daß Sch. mit Windthorst auseinander kam. Daran konnte es nichts ändern, daß er immer wieder mit aller Schärfe und mit großer Wärme seine Uebereinstimmung mit dem unersetzlichen Parteichef betonte (so am 23. Februar 1883 und am 21. Januar 1886). Das waren Verkleisterungsversuche, die theils durch das Interesse der Partei eingegeben waren, theils dem persönlichen Wunsch Schorlemer’s nach Einigkeit mit der „Perle von Meppen“ entspringen mochten, so wenig er im Innern mit Windthorst’s Persönlichkeit sympathisirt haben wird, deren Eitelkeit ihn vor allem nicht angenehm berührte. Die loyale Ader, die niemals ausgesetzt hatte, regte sich stetig mehr in Sch. Mit Genugthuung desavouirte er (am 16. Februar 1880) im Namen der Partei den evangelischen Welfen Brüel, der von der monarchischen Gesinnung in Preußen gesagt hatte, sie grenze an Idolatrie. Am 27. November [164] 1883 sprach er von „verrückten französischen Blättern“, die bei einem Angriffskriege auf gewisse Sympathien in katholischen Kreisen speculirten. Er hielt es für seine Pflicht, sich sofort darüber auszusprechen, „wie wir solchen elenden Anzapfungen gegenüber stehen“. Voller Entrüstung wies er einen Versuch Eugen Richter’s (am 14. Februar 1883) zurück, einen Gegensatz zwischen Officiercorpö und Armee zu construiren. „Gott bewahre uns vor einem Officiercorps und einer Armee im Sinne und Geiste des Herrn Abgeordneten Richter!“ rief er aus.

Immer mehr betheiligte er sich an einer positiven Gesetzgebung namentlich im Interesse der Landwirthschaft. Im J. 1878 veranlaßte er den westfälischen Bauernverein zur Einsetzung einer Commission zwecks Ausarbeitung eines Gesetzes über die Vererbung von Landgütern. Der dort von ihm vorgelegte und angenommene Entwurf, der später auch vom westfälischen Provinziallandtage mit großer Mehrheit gutgeheißen wurde, verlangte bei Wahrung der Dispositionsfreiheit des Eigenthümers directes Intestatanerbenrecht für alle selbständigen Landgüter, d. h. für die Güter von mindestens 75 Mark Grundsteuerreinertrag, nach einer den örtlichen Gewohnheiten angepaßten Successionsordnung. Der Entwurf fand im Lande eine außerordentlich günstige Aufnahme. Mit Ausnahme der Fortschrittspartei sprach sich das Abgeordnetenhaus dafür aus. Am 3. December 1879 wurde ein Beschluß gefaßt, durch den die Regierung aufgefordert wurde, einen Gesetzentwurf im Sinne des Schorlemer’schen Antrages für Westfalen und die übrigen Provinzen vorzulegen. Zunächst kam die Regierung dieser Anregung nicht nach, sondern suchte sich mit dem System der facultativen Höferolle zu behelfen. Erst nach dem Tode Schorlemer’s wurde die Frage bestimmter und zwar im wesentlichen im Sinne Schorlemer’s geregelt durch das Gesetz vom 2. Juli 1898 betreffend das Anerbenrecht in der Provinz Westfalen. Es war dies Gesetz nach dem Urtheile Sering’s der erste große Erfolg der deutschen Erbrechtsreform. Das Hauptverdienst hat Sch. daran. Sch. war auch einer der lautesten Rufer im Kampfe gegen schädliche Auswüchse des Börsenwesens.

Es war nicht nur ein bedenklich auftretendes Herzleiden, das ihn im April 1885 zur Niederlegung seines Reichstagsmandates für Tecklenburg-Steinfurt-Ahaus bewog. Ausschlaggebend war doch vermuthlich die beginnende Isolirung des konservativ gerichteten Mannes in der mehr und mehr demokratischen und dem Reichsgedanken feindlicher gegenüberstehenden Centrumspartei. Das gab auch die „Germania“ später in ihrem Nekrolog auf Sch. zu. Der Ultramontanismus und der preußische Staat begannen sich allmählich förmlich zu reißen um diese Charaktergestalt eines gut katholischen Edelmannes. Auf Grund verschiedener landwirthschaftlicher Schriften verlieh ihm um das Jahr 1881 die katholische Universität zu Löwen die Würde eines Ehrendoctors der Philosophie (Nationalökonomie). Der Papst ernannte ihn ungefähr zur selben Zeit zum Ritter des St. Sylvesterordens, und später, in der Mitte der achtziger Jahre, verlieh ihm Leo XIII. die Würde eines päpstlichen Geheimkämmerers. Auf der anderen Seite kargte die preußische Krone nicht mit Auszeichnungen. Außer hohen Orden, die sie ihm verlieh, wurde ihm die Auszeichnung der Berufung in den Staatsrath zu Theil (11. Juni 1884). Widerstreitende Gefühle mögen Schorlemer’s Brust durchwogt haben. Nachdem er am 18. October 1889 endgültig sein Mandat als Mitglied des Abgeordnetenhauses niedergelegt hatte, verstand er sich im Februar des Jahres 1890 noch einmal dazu, ein Reichstagsmandat für den schwer zu erkämpfenden Wahlkreis Bochum-Gelsenkirchen-Hattingen, den er bereits früher (1881–1884) vertreten hatte, anzunehmen. Er war zugleich in Bochum und in Hamm-Soest [165] gewählt worden, weil er unter den Bergarbeitern durch sein Eintreten gegen das „Nullen“ der Wagen populär geworden war. Doch schon nach drei Vierteljahren legte er das Mandat wieder nieder (30. November 1890), obwohl er, wie es dann auch geschah, damit rechnen mußte, daß der Wahlkreis dem Liberalismus verfallen würde. Gewiß war er ein schwer leidender Mann, aber der Conflict zwischen Patriotismus und Parteizwang verschärfte dies Leiden sicher. Kurz nach Windthorst’s Tode konnte A. Reichensperger doch nicht umhin, zu constatiren, daß der Welfe sich nicht richtig gegen Sch. benommen habe. Gerade dies Bekenntniß angesichts des Todes Windthorst’s ist werthvoll. Seit Schorlemer’s Rücktritt vom parlamentarischen Leben klaffte der Riß zwischen dem ehemaligen hannoverschen Minister und dem loyalen, sich seiner Pflichten gegen das Vaterland immer stärker bewußt werdenden westfälischen Freiherrn stetig mehr auf. Praktisch kam dieser Gegensatz zum Ausdruck in der Gründung der katholisch-agrarischen und regierungsfreundlichen Tageszeitung „Der Westfale“ in Münster. Zwar wurde der berühmte Freiherr gern in den officiellen Katholikenversammlungen als Aushängeschild benutzt. Er aber nahm solche Gelegenheiten mit Vorliebe wahr, um seinen doch zu sehr im ultramontanen Fahrwasser schwimmenden Confessionsgenossen einige unliebe Ermahnungen zu ertheilen. So erklärte er am 26. Juni 1892 in Dortmund: „Katholisch leben heißt auch, unsere Pflichten gegen das Vaterland treu zu erfüllen.“ Bei dem Wahlfeldzug 1893 sprach er sich im Gegensatz zum Centrum für die Caprivi’schen Heeresforderungen aus, derentwegen es zur Auflösung des Reichstags gekommen war. Nichts hat den Bruch mit seinen alten Parteigenossen offenbarer gemacht, als diese seine Kundgebung. Und dabei hatte er sich noch am 11. Januar 1875 im Reichstag wenig militärfreundlich und sehr Abrüstungsideen zugänglich gezeigt. In jenen Wochen des Wahlkampfes erklärte er auch in einer Versammlung von Standesgenossen: Das Haus der Hohenzollern sei der Hort der Monarchie in Deutschland nicht nur, sondern in ganz Europa. Darauf sah sich der neue Führer des Centrums, der Abgeordnete Dr. Lieber, in Aschaffenburg veranlaßt, den einst so gefeierten Führer der Partei in aller Form zu desavouiren: „Ich erkläre, daß dies nicht der Standpunkt des Centrums ist.“ Sch. wurde durch die ihm widerfahrende Behandlung in der schon öfter von ihm in vertrauterem Kreise geäußerten Ansicht befestigt, daß die Centrumspartei dem bewährten Grundsatze: „Jn necessariis unitas, in dubiis libertas“ untreu geworden sei und damit die Berechtigung verloren habe, von den katholischen Wählern unbedingte Heeresfolge zu verlangen. Durch das Vertrauen seines Königs am 17. October 1891 in das preußische Herrenhaus berufen, ergriff Sch. dort öfter in landwirthschaftlichen Angelegenheiten das Wort. Seine schneidige Reiternatur blickt noch in seiner letzten Rede durch (18. Januar 1894): „Freilich ist die Lage der Landwirthschaft eine recht schwierige, aber zum Verzweifeln ist sie nicht. Ich bin überzeugt, daß, wenn wir den Kopf oben halten und guten Muth haben, wir durch diese Kalamität auch hindurch kommen; denn das ist es ja eben, wenn man erst die Gefahr erkennt und blickt ihr fest und muthig ins Auge, dann ist sie schon halb überwunden.“ Vielleicht hat er hierbei an ein Wort Bismarck’s gedacht, das dieser gegen ihn am 22. Februar 1889 aussprach und das ihn angenehm berührte: „Wenn man muthig bleibt, hat man nie etwas zu befürchten.“ Noch wenige Wochen vor seinem Tod hatte Sch., wie es heißt, eine mehrstündige Audienz bei Kaiser Wilhelm II. Dieser verlieh ihm auch noch am 1. September 1893 den Charakter als Rittmeister und am 27. Januar 1895, kurz vor Schorlemer’s Tode, den Charakter als Major. Als Sch. am 17. März 1895 auf Haus [166] Alst starb, war es nicht zweifelhaft, daß dieser steifnackige Sohn ehemaliger Krummstabslande sich ausgesöhnt hatte mit dem preußischen Staatswesen. Kaiser Wilhelm II. stand nicht an, der Familie zu depeschiren, daß Sch. ihm oft „ein Freund und Berather“ gewesen sei. Die ultramontane Presse, wie die „Germania“, aber gab sich kaum Mühe, zu verhehlen, daß der westfälische Freiherr für sie schon längst zum alten Eisen gehört hatte. Er ruht in Leer, zu dessen Kirchengemeinde Alst gehört, an der Seite der ihm bereits am 19. Januar 1891 im Tode vorausgegangenen Gemahlin. Drei Söhne, die er von ihr hatte, überlebten ihn. Der zweite, Clemens, wurde im J. 1905 Oberpräsident der Rheinprovinz. Am 15. März 1902 wurde vor dem Ständehaus in Münster ein ihm vom westfälischen Bauernverein errichtetes Denkmal, das die überlebensgroße Gestalt Schorlemer’s auf einem Granitsockel in Bronze gegossen zeigt, enthüllt. Schon vorher (im J. 1898) war ihm ein solches in dem Kreise, mit dem er am innigsten verwachsen war, in Burgsteinfurt gesetzt.

Sten. Berichte des preuß. Abgeordnetenhauses, des deutschen Reichstages und des preuß. Herrenhauses (eine Auswahl der Reden Schorlemer’s erschien Osnabrück 1880). – Mittheilungen des Oberpräsidenten Freiherrn v. Schorlemer und der Geheimen Kriegskanzlei. – Pertz, Leben Steins. – Illustrierte Zeitung, Leipzig 1902, Nr. 3065 (Algermissen). – Ludwig Pastor, A. Reichensperger. – Otto Pfülf, Bischof Ketteler. – Poschinger, Bismarck und die Parlamentarier. – Sering in der 2. Aufl. des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften, Artikel Höferecht. – Schultheß, Europäischer Geschichtskalender. – H. Wiermann, Der deutsche Reichstag. – Herbst, Encyklopädie der neueren Geschichte. – Nekrologe der „Germania“, Kreuzzeitung, Kölnischen Zeitung. – Taschenbuch der freiherrlichen Häuser. – J. Knopp, Ludwig Windthorst. – Ed. Hüsgen, Ludwig Windthorst.