ADB:Russ, Melchior (Chronist)
Vorigen ältester Sohn. Geboren zu Luzern um das Jahr 1450, besuchte R. 1471 die Universität Basel, wo er bei der Fuchsentaufe (in depositione beani) arg verletzt wurde, dann 1473 die Universität Pavia, wo er sich auf das Studium der Rechte verlegte und sich an den Disputationen betheiligte, aber von seinen Commilitonen wegen des Mangels an classischer Bildung mit Spott überhäuft wurde. Im J. 1475 nach Hause zurückgekehrt, focht R. 1476 und 1477 in den Schlachten bei Granson, Murten und Nancy gegen Herzog Karl von Burgund; im Winter 1478 machte er als Feldschreiber im Heere seiner Vaterstadt den Feldzug über den St. Gotthard nach Bellenz mit. Anläßlich der Friedensverhandlungen mit Mailand machte R. wahrscheinlich 1479 eine Reise nach Frankreich. Unter seinem Vater, mit dem er seit 1476 gemeinsam die Herrschaften Sins und Rüßegg besaß, diente R. als Rathssubstitut in der Staatskanzlei in Luzern und wurde deshalb auch zu diplomatischen Missionen der eidgenössischen Tagsatzung verwendet. Als er aber für seine Bemühungen um das Zustandekommen des zehnjährigen Bundes der Eidgenossen mit König Matthias von Ungarn (26. März 1479) nicht gehörig belohnt wurde, begab er sich selbst an den Hof des Königs. Mit diesem focht er am 13. October 1479 in der Schlacht bei Kenger-Mezö in Siebenbürgen gegen die Türken und erhielt aus der Siegesbeute kostbare Kleider, Waffen und zwei türkische Banner, sammt der Zusicherung einer jährlichen Pension von 300 Ducaten. Im J. 1480 in den Großen Rath von Luzern gewählt, wurde R. 1483 Landvogt von Ebikon und Rootsee, 1487 Landvogt von Malters und Littau, ohne auf seine Stelle in der Staatskanzlei zu verzichten. Seit 1480 arbeitete er, unter Zugrundelegung der von Tschachtlan und Dittlinger umgearbeiteten Berner Chronik von Konrad Justinger an einer bis zum Jahre 1412 reichenden, mit Bildern illustrirten Luzerner-Chronik, welcher er eine Uebersetzung des Vorwortes von Bonstetten’s Beschreibung der Burgunderkriege als Einleitung voranstellte. Diese 1832–1838 von J. Schneller, J. E. Kopp [10] und L. Wurstemberger im Schweizerischen Geschichtsforscher (X, I bis XXVI, 1–272) veröffentlichte Chronik ist theils durch das was sie sagt, theils durch das was sie verschweigt, für die kritische Erforschung der Schweizergeschichte von weit größerer Bedeutung geworden, als manche weit werthvollere Geschichtsquelle der Schweiz, man denke nur an die an R. sich anlehnenden Streitschriften über die Tell- und Winkelriedfrage. Während die Germanisten in R. einen „gebildeten und bedeutenden Geschichtschreiber“ zu entdecken vermeinten, enthüllten ihn die Einen unter den Quellenkritikern als einen frechen Plagiator, der nicht nur neun Zehntheile aus Justinger entlehnt habe, sondern auch seine eigene Unkenntniß in all’ denjenigen Stellen verrathe, die er selbst seiner Compilation beigefügt, während die Andern, die mehr nur einzelne Stellen in den Bereich der Betrachtung zogen, R. für einen „feinsinnigen“ Schriftsteller hielten, der über den Kantonsgeist erhaben, den eidgenössischen Märchen gegenüber eine kritische Haltung genommen und deshalb die Gunst des Luzerner Publicums verscherzt habe. Vor Vollendung dieser dem Rathe von Luzern dedicirten, nur noch in Abschrift erhaltenen Chronik wurde R. mit Zunftmeister Thomas Schaub von Zürich und Unterschreiber Johann Schilling von Luzern zum Abschlusse eines Defensivbündnisses an König Matthias Corvinus nach Ungarn gesendet. Da dieses Bündniß geheim bleiben sollte, reisten die schweizerischen Gesandten im März 1488 wie Pilger gekleidet, die nach Jerusalem wallfahrten, über Oesterreich ab. In Wien und Ofen mit Auszeichnung behandelt, empfing im Stephansdom in Wien in Gegenwart zahlreicher fremder Gesandter der mit einem goldenen Rocke bekleidete R. von Matthias Corvinus den Ritterschlag, und als der Erste und Einzige den vom König gestifteten Orden. Erst 1489 kehrten die drei Gesandten, beladen mit Wappen- und Adelsbriefen und glänzenden Versprechungen in die Schweiz zurück, ohne ihren Zweck erreicht zu haben. Mehr denn 8000 Gulden hatte R. von dem vielversprechenden Könige für seine Dienste zu fordern. Von Gläubigern allerorten gedrängt, reiste er nochmals nach Wien und Ofen, um vom Könige die Lösung der Verpflichtungen zu erwirken. Aber mitten unter diesen Unterhandlungen starb König Matthias am Palmsonntag Nachts 1491. Nachdem R. seinen Gönner mit andern Rittern zu Grabe getragen hatte, kehrte er in verzweifelter Lage heim. Die Ungarn bestritten, daß R. eidgenössischer Gesandter gewesen sei und weigerten sich, ihn für seine Anforderungen zu entschädigen. Die Gläubiger nahmen Hab’ und Gut des unglücklichen Ritters zu Handen. Ihn verließ auch seine Gattin, Dorothea Allwand von Bern. Vergebens bat R. in Bern um die Erlaubniß, die ungarischen Handelsleute und Edelleute niederwerfen zu dürfen bis er für seine Ansprachen entschädigt sei (1490, 8. Dec. und 1496). Auch in Zürich fand er keine Unterstützung, weil er durch unkluge Aeußerungen über die Hinrichtung des Frischhans Theilling sich verhaßt gemacht hatte. In dieser Noth versuchte R. sein Glück am pfälzischen Hofe. Zu diesem Zwecke gab ihm der Rath von Solothurn, wo des älteren Rußens Schwester als Gemahlin des Schultheißen Bys lebte, am 9. September 1491 ein Empfehlungsschreiben. Schon am 28. Januar 1492 dankte der Rath von Solothurn dem Pfalzgrafen Philipp für die Aufnahme Ritter Melchior Ruß’ in den Hofdienst. Unter dem 4. April 1492 betraute Pfalzgraf Philipp Ruß mit der Mission, sich bei den Städten Freiburg und Solothurn zu erkundigen, ob sie geneigt wären, dem am 23. August 1491 auf 5 Jahre abgeschlossenen Bunde der acht eidgenössischen Orte mit den Herzogen Philipp, Albrecht und Georg von Baiern beizutreten. Am 5. Juni 1492 erschien R. als pfälzischer Gesandter auf der eidgenössischen Tagsatzung in Baden, überschritt aber hier seine Competenz, indem er für die Herzoge gleich einen über die Vollmachten weit hinausreichenden Vertrag abschloß, Pensionen [11] verschrieb und Geschenke verabfolgte. Den 3. und 4. Jan. 1493 lehnte der Pfalzgraf die Erfüllung der von R. eingegangenen Verpflichtungen ab und entließ den Ritter seines Dienstes. R. suchte nun wieder seine Ansprüche an König Matthias bei König Wladislaw von Ungarn geltend zu machen und verfaßte zu diesem Zweck ein Memorial über seine diplomatischen Missionen nach Ungarn. Nach dem Tode seines Vaters, der zu Gunsten seines Kleinsohnes Melchior R. des Jüngern, Sohn des nach 1473 geborenen Nicolaus Ruß, testirt hatte, trat R. wieder in die Staatskanzlei ein. Allein durch sein uncorrectes Benehmen beim Proceß des von der Matze aus dem Wallis vertriebenen Bischofs Jost von Silinen aus Luzern wurde er 1496 in einen langwierigen Injurienproceß mit dem einflußreichen Schultheißen Ludwig Seiler von Luzern verwickelt und am 18. Mai 1498 für längere, wenn nicht auf ewige Zeit, aus dem Gebiete von Luzern verbannt. R., der zuerst ins Wallis, dann nach Uri zog, suchte 1498 die Revision des Processes anzubahnen, indem er ausführte, er habe aus Versehen die zu seinen Gunsten sprechenden Schriftstücke statt zu den Acten, in sein Barett gelegt. Als 1499 der Krieg der Eidgenossen gegen das deutsche Reich losbrach, zog R. unter dem Banner von Uri als einfacher Söldner zu Felde. Er lag am 28. März 1499 zu Rheineck in Besatzung. Von dort aus verwendeten sich seine Waffengefährten, selbst Schultheiß Seiler, beim Rathe von Luzern um Begnadigung des verarmten unglücklichen Ritters. Bei dem am 20. Juli 1499 vom Grafen Jtelfritz von Zollern ausgeführten Ueberfalle von Rheineck wurde R. erschlagen. Die Tagsatzung ehrte das Andenken des Unglücklichen, indem sie die Schulden tilgte, die R. während des Krieges in Rheineck contrahirt hatte.
Ruß: Melchior R., Ritter, des- A. Bernoulli, Die Luzerner Chronik des Melchior Ruß, Basel 1872. – Blätter des Vereins für Landeskunde von Niederösterreich XIII, 393 bis 397. – Hungerbühler, Étude critique sur les tradition, 60–62. – Kleissner, Die Quellen der Sempacherschlacht, 57–63. – Kopp, Urkunden zur Geschichte der eidgen. Bünde I, 22. – Geschichtsblätter aus der Schweiz II, 351–358. – Th. v. Liebenau, Ritter Melchior Ruß. Schweizerblätter für Wissenschaft und Kunst, 1870. – R. v. Liliencron, Histor. Volkslieder I, 145. – O. Lorenz, Geschichtsquellen Deutschlands, 2. Aufl., I, 103 bis 106; II, 386. – Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Zürich, 1817. – Rilliet, Ursprung der schweizer. Eidgenossenschaft (deutsch von K. Brunner), 226 ff., 345 ff. – Dr. A. Ph. v. Segesser, Beziehungen der Eidgenossen zu M. Corvinus, Luzern, 43 ff., 87–113; Segesser, Sammlung kleiner Schriften II, 209, 217, 252 ff., 393–397. – W. Vischer, Die Sage von der Befreiung der Waldstätte, 49–55.