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Artikel „Ratich, Wolfgang“ von Binder in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 27 (1888), S. 358–364, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ratke,_Wolfgang&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 21:31 Uhr UTC)
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Ratich: Wolfgang R., genannt Ratichius, Pädagog und didaktischer Reformator, geboren am 18. October 1571 zu Wilster in Holstein, † 1635 wahrscheinlich zu Rudolstadt oder Erfurt. Nachdem er das Gymnasium zu Hamburg besucht hatte, studirte er zu Rostock Theologie und Philosophie. Da ihm eine schwere Aussprache die Predigerlaufbahn verschloß, gab er das Studium der Theologie auf und wandte sich dann zunächst sprachlichen, hauptsächlich hebräischen Studien zu; hierauf ging er nach England, wo er mit Baco’s Ideen bekannt wurde, dann nach Amsterdam, wo er sich mit Mathematik und der Erlernung der arabischen Sprache beschäftigte. Hier in Holland faßte er, angeregt durch seine sprachlichen Studien, den Plan, als Reformator des gesammten sprachlichen Unterrichts aufzutreten und überhaupt eine Neugestaltung der bisherigen Lehrmethode anzubahnen; die damals meist auf jesuitischen Principien, einseitig auf classisch-philologischer Grundlage mit vorwiegender Inanspruchnahme des Gedächtnisses beruhte; im Gegensatz hierzu erkennt R. als erste und höchste Grundlage des Unterrichts die Uebung der Muttersprache, die in weit größerem Umfang als vorher zur Geltung kommen müsse; erst nach gewonnener Fertigkeit in dieser kann zu fremdsprachlichem Unterricht, dem Lateinischen und Griechischen, übergegangen werden. Als ein weiteres nicht minder wichtiges, aber bisher ziemlich vernachlässigtes Lehrgebiet bezeichnet R. die eingehende und umfängliche Behandlung der Realien; hier wie auch sonst, wenn möglich, soll der Unterricht auf die Anschauung gegründet sein; die Summe des Wissens soll nicht durch das Mittel des Gedächtnisses als Masse eingeprägt, sondern durch die Anregung [359] der Thätigkeit des reflectirenden Verstandes zum geistig frei verfügbaren Eigenthum des Schülers gemacht werden. Zur Erreichung dieser Ziele sollte eine im Gegensatz zu der bisher üblichen ganz neue, rasch und sicher führende Methode in Anwendung gebracht werden, deren Grundzüge weiter unten folgen. Diese neue Lehrweise bot er zuerst dem Prinzen Moritz von Oranien an; dieser ging zwar auf sein Anerbieten ein, doch stellte er dabei die Bedingung, daß nur lateinisch gelehrt werden dürfe, was, wie nachher aus dem Lehrsystem des R. ersichtlich ist, geradezu den dort aufgestellten Grundsätzen widersprach. Die Sache zerschlug sich und R. wandte sich nun nach Basel und Straßburg, sowie an mehrere Fürsten, um Gönner für sein Unternehmen zu gewinnen. Als sein Bemühen hier vergeblich war, übergab er am 7. Mai 1612 „dem deutschen Reich“ auf dem Frankfurter Wahltag ein Memorial, worin er mit göttlicher Hülfe zu Dienst und Wohlfahrt der ganzen Christenheit Anleitung zu geben versprach, wie alle Sprachen in gar kurzer Zeit mit leichter Mühe sowohl von Alten als Jungen erlernt werden könnten, wie man ferner zum Lehren aller Künste und Facultäten in jeglicher Sprache eine Schule einrichten solle und schließlich, wie man im ganzen Reich eine einträchtige Sprache, einträchtige Regierung und endlich auch eine einträchtige Religion bequem einrichten und friedlich erhalten könne. Ohne im einzelnen seine Methode darzulegen, hob er nur besonders hervor, daß nach seiner Lehrweise die Muttersprache, nicht aber Latein und Griechisch, als erster grundlegender Lehrgegenstand behandelt werde; zugleich unterließ er nicht, die bisherige Methode schonungslos anzugreifen, mit der Ratich’s Ansichten in directem Widerspruch standen, und deren Sturz die Bedingung des Sieges seiner Sache war. Seine Absicht, mit dieser Denkschrift die öffentliche Aufmerksamkeit auf seine Neuerung zu lenken, sowie die Berechnung, bei den damaligen Wirren durch das verheißene Ergebniß seiner Lehrweise, die Herstellung einer staatlichen und kirchlichen Einheit im Reiche erzielen zu können, die gespannten Gemüther dafür zu gewinnen, gelang nicht in der gehofften Weise; die Frankfurter Rathsherren, Scholarchen und Prediger äußerten Bedenken und verhielten sich zuwartend auf anderweitigen Erfolg der Sache. Mehr Glück als bei diesen hatte R. aber bei verschiedenen deutschen Fürsten, die er von Frankfurt aus zu gewinnen suchte. Zunächst trat ihm näher der Pfalzgraf Wilhelm von Neuburg; dieser sandte ihm nach Durchlesung des Memorials 500 Reichsthaler zur Anschaffung von Büchern und zur Unterstützung seines jüdischen Mitarbeiters Seligmann, den R. des Hebräischen halber beigezogen hatte. Auch der Landgraf Ludwig von Hessen-Darmstadt interessirte sich für Ratich’s Bestrebungen und beauftragte zwei Gießener Professoren, den Theologen Christoph Helwig (Helvicus) und den Philosophen Joachim Jung (Jungius) ihm über die neue Lehrweise Bericht zu erstatten, der günstig ausfiel; derselbe erschien zu Frankfurt 1613 im Drucke unter dem Titel: „Kurzer Bericht von der Didactica oder der Lehrkunst Wolfg. Ratichii“ u. s. w. Fast zu derselben Zeit ward auch die Aufmerksamkeit der verwittweten Herzogin Dorothea Maria von Sachsen-Weimar auf R. gelenkt; derselbe wurde in Weimar von der Herzogin gnädig empfangen, mit Geldmitteln beschenkt, die Förderung seiner Sache versprochen und zugleich ein zweites Gutachten von ihr veranlaßt seitens der Jenaischen Professoren Grawer, Brendel, Walther und Wolff; gleichzeitig wandte sich die Fürstin in der Angelegenheit auch an den einflußreichen Oberhofprediger Hoë von Hoënegg in Dresden und den Theologen Mentzer in Gießen. Das Gutachten der Jenaischen Professoren lautete wiederum günstig, dagegen verhielt sich Hoë ablehnend und die Rectoren Wilke und Hubmeyer erklärten Ratich’s Vorschläge für falsche Verheißungen. Der erwähnte günstige Bericht der beiden Gießener Professoren erregte aber sonst vielfach große Erwartungen von der [360] neuen Lehrweise, auch erschien 1614 mit der von ihnen besorgten Herausgabe von Luther’s „Treuherziger Vermahnung an die Bürgermeister und Rathsherrn aller Städte, daß sie christliche Schulen aufrichten und erhalten sollten“ zugleich als Anhang ein „Nachbericht von der neuen Lehrkunst Wolfgangi Ratichii“. In demselben Jahre schickten auch die Augsburger Kirchenpfleger und Schulherrn drei Abgeordnete nach Frankfurt, um Ratich’s Methode kennen zu lernen; auf deren günstigen Bericht hin ward R. im Mai 1614 nach Augsburg zur Neugestaltung der dortigen Schulen berufen. Jungius und Helvicus begleiteten ihn dahin. R. blieb 11/2 Jahr in Augsburg; das Ergebniß entsprach aber durchaus nicht den erregten Erwartungen; auch bei Jungius und Helvicus minderte sich bei näherem Verkehr mit R. das persönliche Interesse und sie schieden sogar bald in Unfrieden von ihm; als Grund ihrer Trennung bezeichneten sie Ratich’s unerträgliche Herrschsucht, seinen Uebermuth und die Geheimthuerei bezüglich seiner Lehrkunst; sonst blieben sie jedoch der Sache Ratich’s treu. Von Augsburg aus correspondirt nun R. mit der Gräfin Anna Sophie von Schwarzburg in Rudolstadt, an der er eine neue und zwar die treueste Freundin seiner Bestrebungen gewann, während gleichzeitig deren Schwester, die schon genannte Herzogin Dorothea Maria von Weimar, nochmals einen Gelehrten, den Hofprediger Joh. Kromayer zu R. behufs eingehender Prüfung seiner Sache entsandte mit dem Ersuchen, sich ja recht entdecken zu wollen; R. verhielt sich jedoch seltsamer Weise gegen Kromayer mißtrauisch und ablehnend und die Angelegenheit hatte keinen weiteren Erfolg. Daß Kromayer von R. angeregt, des letzteren Schulordnung in Weimar eingeführt habe, ist eine irrige Annahme; übrigens entzog diese Fürstin dem Unternehmen ihr Wohlwollen nicht, sie vermachte sogar R. noch im J. 1617 zur Beförderung seiner Sache 2000 Gulden. Im Herbste 1615 befindet R. sich in Erfurt, wo er, jedoch ohne Erfolg, gelehrte Mitarbeiter für seinen Plan zu gewinnen hoffte; 1616 verweilte er in Waldeck und dann auf Einladung des Landgrafen Moritz zu Hessen, der R. vergeblich zur Mitwirkung an der von ihm gegründeten „Hochschule“ zu gewinnen suchte, in Cassel, darauf in Pyrmont und endlich 1617 wieder in Frankfurt. Hier wandte er sich jetzt wieder an den Rath mit der Bitte, eine Commission niederzusetzen, der er seine Lehrkunst entdecken wolle; auf den Bericht dieser Commission hin wurden Ratich’s Dienste nicht weiter verlangt. 1618 berief Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, bekannt als Stifter der „Fruchtbringenden Gesellschaft“ R. nach Köthen; dieser Fürst hatte R. schon zuvor 1613 in Weimar bei seinen Schwestern, der bereits genannten Herzogin Dorothea und der Gräfin Anna Sophie von Schwarzburg, kennen gelernt, die ihm R. dringend empfahlen. Unter mancherlei Vorwänden und Bedingungen schiebt derselbe nun sein Erscheinen in Köthen auf unbestimmte Zeit hinaus, wendet sich inzwischen nach Basel, wo er dem dortigen Professor Joh. Buxtorfius seine neue Methode gar vielversprechend anpreist; seine Bemühungen hatten jedoch dort keinen Erfolg; sein heftiges Wesen verleitete aber R. in Basel zu Angriffen auf einige angesehene Calvinisten, sowie auf den Calvinismus überhaupt, was ihm einen Proceß und 1617 seine gefängliche Einziehung zuzog; auch seitens des Markgrafen von Baden scheint nicht lange hernach eine Haft über R. verhängt worden zu sein. Endlich am 10. April 1618 kam R. nach Köthen. Da der Fürst Ludwig bei der Gründung der genannten „Fruchtbringenden Gesellschaft“ unter anderem besonders die Pflege und Reinerhaltung der deutschen Sprache bezweckte, so glaubte er an R., der die Muttersprache zur Grundlage alles sonstigen Sprachstudiums machte, einen Helfer bei diesen Bestrebungen, besonders aber eine sachverständige Unterstützung bei der von ihm beabsichtigten Organisation der Köthener Schulen zu finden. R. versprach eine gute deutsche Schule einrichten und darin seine [361] Methode in Anwendung bringen zu wollen; der Fürst möge noch einige gelehrte Mitarbeiter berufen, dagegen ohne Ratich’s Einwilligung nichts von der neuen Lehrkunst bekannt werden lassen. Am 14. April überreichte R. dem Fürsten ein Memorial, das die Grundzüge seines Lehrsystems enthielt, deren Anführung nachher folgen wird. Da die Sache bedeutende Mittel erheischte, welche Fürst Ludwig nicht allein aufbringen konnte, so wandte derselbe sich an seine Brüder um Unterstützung, jedoch vergebens; Fürst Christian von Anhalt-Bernburg warnt seinen Bruder sogar, sich mit R. einzulassen, besonders auch wegen dessen Charakters, räth die Methode desselben nochmals prüfen zu lassen und lehnt schließlich jegliche Beihilfe ab; nur Herzog Johann Ernst von Sachsen-Weimar findet sich zur Unterstützung bereit. Die beiden Fürsten treffen nun ein Uebereinkommen mit R., nach welchem alle Schulen nach seinen Vorschlägen eingerichtet und zu seiner Verfügung gestellt werden sollten; er solle jederzeit der Rathgeber und Lehrer seiner beigegebenen Mitarbeiter sein. Nachdem R. sich zu allem verpflichtet hatte, wurde zunächst eine unter Ratich’s Aufsicht stehende Druckerei errichtet zur Herstellung der neuen, nach Ratich’s Methode verfaßten Lehrbücher. Am 21. Juni 1619 wurde die neue Schule mit einer Schülerzahl von 231 Knaben und 202 Mädchen eröffnet; die Knabenschule umfaßte sechs Classen; in den drei ersten Classen wurde die deutsche, in der 4. und 5. Classe auch die lateinische und in der 6. Classe noch schließlich die griechische Sprache betrieben; außerdem erfuhren die Realien eine in Ratich’s System begründete eingehende Behandlung. Allein nach einem vielversprechenden Anfang hatte das Unternehmen bald keinen rechten Fortgang und Ratich’s Thätigkeit fand in Köthen einen für ihn persönlich höchst unangenehmen Abschluß. Obwohl seine Didaktik in vielfacher Hinsicht und besonders im Vergleich zum früheren Verfahren seine Vorzüge hatte und ein Fortschritt war, so entsprachen doch die Ergebnisse des Unterrichts nicht den Verheißungen und den bei dem Fürsten und dem Publicum dadurch hochgespannten Erwartungen: R. besaß durchaus nicht die zur ruhigen und gleichmäßigen Fortführung seines Werkes nöthige stete Ausdauer, ebenso wenig verfügte er über die erforderliche Gabe der geistigen Mittheilung, sowie der persönlichen Bescheidenheit, die zur Pflege eines collegialen Verhältnisses mit seinen Mitarbeitern nöthig gewesen wäre; dazu kam noch seine ewige Geheimthuerei, die Mißtrauen erregte, und sein scharf ausgeprägtes Lutherthum, das ihn in Widerspruch mit den confessionellen Anschauungen der Köthener Bürger setzte, da er seine religiöse Stellung auch auf die Schule einwirken ließ; R. kam deshalb in Zwist mit dem dortigen Superintendenten Streso; außerdem fiel ein von den aufgestellten Schulinspectoren am 28. Juli 1619 über die Leistungen der Schule abgegebenes Gutachten ziemlich ungünstig aus. Vier Wochen nachher überreichte R. seinerseits dem Fürsten eine Beschwerdeschrift, worin er auch einige Forderungen bezüglich anderer Inspectoren u. s. w. aufstellt und im Falle der Nichtgewährung mit seinem Abschied droht. Fürst Ludwig sucht begütigend auf den leidenschaftlichen Mann einzuwirken, jedoch erfolglos; R. spielt schließlich sogar den Beleidigten und läßt sich nachher in einem vom Fürsten gegen ihn angeordneten Verhöre zu Beleidigungen gegen denselben hinreißen, wodurch der Bruch mit seinem Gönner und mit dem Unternehmen gewaltsam herbeigeführt wird. Am 5. October 1619 erließ der Fürst den Befehl zur Verhaftung Ratich’s ergehen. Als Hauptursache der Verhaftung wird angegeben, „daß R. laut seiner starken Zusage bißanhero in dem hochgerühmten werck nichts effectuiret, sondern dasselbe vielmehr von tag Zu tage verzögert, undt sich zu abduciren willens gewesen“. R. flehte bald um Gnade, bald verfiel er wieder in sein leidenschaftliches Benehmen gegen den Fürsten. Nach zweimaliger Untersuchung der Sache mußte R. schließlich einen ihm vorgelegten Revers unterschreiben, [362] worin er bekennt, „daß er ein mehreres gelobet und versprochen, als er verstanden und in’s Werk richten können“ u. s. w. Nachdem R. diesen Revers „williglich“ unterschrieben, erhält er 100 Gulden Reisegeld und wird aus der Haft entlassen. Darauf ging R. 1620 nach Magdeburg. Der dortige Magistrat zeigte sich anfänglich den Vorschlägen Ratich’s geneigt, wurde aber bald durch ungünstige Nachrichten aus Köthen mißtrauisch und fordert von dem dortigen Professor Jakob Martini ein Gutachten, das schlimm für R. ausfiel; dies und seine 1622 erfolgte heftige Entzweiung mit dem Rector Evenius daselbst vereitelte alle seine Aussichten. Nach und nach verlor R. alle seine einflußreichen Gönner, nur die erwähnte Gräfin Anna Sophie bewahrte ihm trotz mancherlei Abmahnungen ihre Gewogenheit und berief ihn nach Rudolstadt; später verschaffte sie ihm vorübergehende Stellung in Kranichfeld, dann in Erfurt und empfahl ihn schließlich, da sonstige Fürsprachen keinen Erfolg hatten, 1633 dem schwedischen Reichskanzler Axel Oxenstierna; dieser beauftragte auch eine Commission zur Prüfung von Ratich’s Lehrart, deren günstiger Bericht eine Unterstützung der Sache befürwortete. Es erfolgte auch eine persönliche Besprechung Oxenstierna’s mit R., der ihm seine Methode bei dieser Gelegenheit in einem dicken Quartanten zur Einsicht übergab. Oxenstierna gab nach dem Studium des Inhalts das zutreffende Urtheil ab, daß R. die Gebrechen der Schulen nicht übel aufdecke, allein die Heilmittel, welche jener dagegen vorschlage, erschienen ihm nicht hinreichend. R. hatte indessen eine Unterstützung kaum mehr nöthig, denn noch im J. 1633 wurde ihm die Zunge und die rechte Hand durch einen Schlaganfall gelähmt und 1635 erlöste ihn der Tod von allen Kämpfen und Leiden.

Nach diesem gedrängten Ueberblick des rastlosen, an Kämpfen und an Mißerfolgen reichen Lebens des Mannes, wobei dessen didaktische Ideen nur vereinzelt in lückenhaften Umrissen hervortreten, mögen hier schließlich zusammengefaßt die Grundsätze angeführt werden, die R. bei seinem Lehr- und Erziehungsplan leiteten und die als sein einziges Vermächtniß zu betrachten sind: 1) Die Lehrkunst ist ein gemeines, durchgehendes Werk und Niemand davon auszuschließen, so daß Jeder wenigstens fertig lesen und schreiben muß. 2) Die allererste Unterweisung im Lesen und Schreiben muß aus Gottes Wort geschehen. 3) Die Jugend darf auf einmal nur in einer Sprache oder Kunst unterrichtet, und ehe sie dieselbige nicht gelernt und ergriffen, zu keiner anderen zugelassen werden. 4) Alles muß der Ordnung der Natur gemäß geschehen, welche in allen ihren Verrichtungen von dem Einfältigeren und Schlechteren zu dem Großen und Höheren, und also von dem Bekannten zum Unbekannten zu schreiten pflegt. 5) Es dürfen dem Schüler keine Regeln vorgeschrieben, viel weniger zum Auswendiglernen aufgedrungen werden, er habe denn zuvor die Sache oder Sprache selbst aus einem bewährten Autor ziemlicher Maßen erlernt und begriffen. 6) Es müssen auch alle Künste auf zweierlei Weise erstlich in Kürze begriffen und hernach in vollkommener Unterrichtung verfasset und gelehrt werden. 7) Alles muß zu einer Harmonie und Einigkeit gerichtet sein, daß nicht allein alle Sprachen auf einerlei Art und Weise getrieben, sondern auch in jeder Kunst nichts, das den anderen zuwiderlaufen möchte, gesetzt wird. 8) Alle Unterweisung muß zuerst in der Muttersprache geschehen, und erst wenn der Schüler in dieser Fertigkeit erlangt, darf er zu andern Sprachen zugelassen werden. 9) Alles muß ohne Zwang und Widerwillen geschehen, weshalb kein Schüler des Lernens halber vom Lehrer, wol aber wegen Muthwillen und Bosheit von einem dazu bestellten Aufseher geschlagen werden darf. 10) Es sollen nicht allein in lateinischer und griechischer Sprache, wie bis dahin gebräuchlich gewesen, sondern auch in hochdeutschen und allen andern nothwendigen Sprachen die Künste [363] und Facultäten verfaßt und getrieben werden. 11) Die Schulen sollen nach Unterschied der Sprachen auch an unterschiedlichen Orten angelegt werden. 12) Eine jede Schule soll ihre besonderen Aufseher und Lehrer haben, welche zu Zeiten den oberen Scholarchen Rechnung zu geben schuldig sind. 13) Wie die Knaben durch Männer, so sollen die Mädchen durch tüchtige Weibspersonen unterwiesen und in guter Zucht gehalten werden.

Man erkennt leicht in einzelnen Artikeln heute noch geltende oder erst recht zur Geltung gekommene Principien der neuern Didaktik und Pädagogik; als solche erweisen sich die Vorschriften, man müsse von dem Bekannten zum Unbekannten vorschreiten; dem Schüler darf keine grammatische Regel zum Auswendiglernen aufgedrungen werden, bevor er nicht im Schriftsteller das zutreffende Beispiel ersehen und so die Regel aus dem Beispiel entnommen hat; als ein Vorläufer neuerer Pädagogik zeigt sich auch der Grundsatz: Alles muß ohne Zwang und Widerwillen geschehen; der Jugend darf nicht durch Strafen das Lernen verleidet und der Lehrer verhaßt werden. Es sind übrigens doch die Strafen nicht ganz ausgeschlossen; nur straft, wie bei den Jesuiten, nicht der Lehrer selbst, sondern der sogenannte Aufseher. Manche Ideen Ratich’s dagegen erscheinen in ihrer vollen und consequenten Durchführung bedenklich.

In Kürze und im Allgemeinen ist die reformatorische Bedeutung Ratich’s dahin zusammenzufassen: Kräftige, doch nicht immer maßvolle Polemik gegen die bisher übliche Unterrichtsweise, die ihre Hauptaufgabe in der einseitigen und ausschließlichen Betonung des Latein, besonders auch nach der grammatikalischen Seite hin erblickte und die so naheliegende als erstes Unterrichtselement sich darbietende Pflege der Muttersprache übersah oder übersehen wollte; die ferner durch mechanisches Auswendiglernen die bloße Aufspeicherung eines todten Gedächtnismaterials bewirkte, dagegen die Ausbildung der Verstandeskräfte vollständig hintansetzte und dann besonders auch den Realien einen ganz untergeordneten und beschränkten Raum zuwies; zu allen diesen Mängeln kam noch eine schwerfällige unnatürliche Methode und zumeist noch eine Disciplin, welche die richtige Art und das rechte Maß einer zur Besserung führenden Anwendung der Strafe nicht erkannte. – Diesen Mängeln im Unterrichtswesen, der einseitigen Methode einer formalistischen, grammatischen Bildung, einem geisttödtenden Memoriren und einer brutalen Disciplin trat R. als selbstbewußter Reformator mit seiner Neuerung entgegen, daß die Muttersprache die erste Grundlage alles Sprachstudiums und aller Bildung sei und daß die Behandlung der Realien als ein weiteres ebenbürtiges Bildungselement zur größern Geltung kommen müsse; zur Erreichung der Ziele des Unterrichts schlägt er neue, selbst heute noch theilweise gangbare Richtwege der Didaktik und Pädagogik ein. Die Persönlichkeit Ratich’s war indessen nicht dazu angelegt, seine Theorien in die Praxis zu übertragen: es treibt ihn eine unruhige Hast, die ihn nie zum ruhigen Verweilen und zum Ausbau seines Werkes in irgend einem Orte kommen läßt; seine hochmüthige Unverträglichkeit und stets reizbare Eifersucht entfremdet ihm die erworbenen Gönner und Mitarbeiter; seiner Methode selbst legt er eine messianische Wichtigkeit bei, und wird nicht müde anzupreisen, er werde „dem Vaterlande wie der ganzen Christenheit einen merklichen Nutz und unausprechlichen Vortheil“ verschaffen; schließlich erweckt seine seltsame Geheimthuerei zwar Erwartungen, zugleich aber auch Mißtrauen, das bei Mißerfolgen, die sein heftiges unpraktisches Gebahren meist verschuldet, als berechtigt erscheint. Wol wird er auch von seiner Zeit nicht ganz verstanden: ihm kommen „viele neue, seinen Zeitgenossen unverständliche, ja ärgerliche Gedanken. Er hat Einsicht genug, um die Mängel des Herkömmlichen zu erkennen, aber nicht genug, um ihnen abzuhelfen. Er ahnet manches Bessere, schaut es aber nur in allgemeinen Umrissen als Princip. [364] Will er seinen Principien gemäß etwas verwirklichen, so zeigt er sich unklar und ungeschickt. Diesen Principien vertrauend verspricht er, was er bei seiner praktischen Unfähigkeit nicht zu halten im Stande ist; so kommt er selbst bei denen, die ihm wohlwollen, in den Ruf eines Charlatans. Dieser große Conflict seiner Ideale mit seinem Ungeschick, dieselben zu realisiren, macht den Mann unglücklich.“ Von R. geht gleichwol ein kräftiger Anstoß aus zu weiterer Entwicklung einer neuen pädagogischen Bewegung, die aber gerade damals, wie alle geistige Regung auf deutschem Boden durch das nationale Unglück, den Dreißigjährigen Krieg, vorerst auf längere Zeit gehemmt wurde.

Von Ratich’s zahlreichen Schriften mögen nur nachfolgende hier angeführt werden: „Encyclopaedia universalis pro Didactica Ratichii.“ Cothenis 1619. Wahrscheinlich einerlei mit der „Allunterweisung nach der Lehrart Ratichii“, 1619; „Grammatica universalis pro Didactica Ratichii.“ Cothensis 1619; „Methodus institutionis nova … Ratichii et Ratichianoram edita studio M. Johannis Rhenii.“ Lipsiae 1626. Ferner ist zu erwähnen das Memorial, welches von R. zu Frankfurt 1612 dem deutschen Reich übergeben wurde, sodann noch weiter die zu Lehrzwecken in Köthen herausgegebenen Schriften: „Nova Didactica“, 1619; „Rhetorica“; „Physica“; „Metaphysica“; „Compendium grammaticae latinae“, 1620; „Compendium logicae“, 1621; „Griechische Sprachübung“, 1620 und „Lehrbüchlein für die angehende Jugend“, 1619. Jede dieser Schriften hat den Zusatz pro Didactica Ratichii.

Vgl. Dr. K. Schmidt’s Geschichte der Pädagogik, herausgegeben von Dr. W. Lange. Bd. III, S. 340 ff. – K. v. Raumer, Geschichte der Pädagogik. 5. Aufl., Bd. II, S. 8 ff., 389 ff.; Bd. III, S. 153 ff., wo sich auch die ältere Litteratur findet. – Maßmann, Wolfgang Ratichius und seine Lehrkunst. 1. Heft des VII. Bds. der freimüthigen Jahrbücher für das Volksschulwesen von Schwarz, 1827. – Niemeyer, Ratichius, Progr. des Pädag. zu Halle, 1840–43. – Müller, Ratichiana in Kehr’s Pädag. Blättern, 1878. Heft 5 und 6.
Binder