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Artikel „Lengerke, Cäsar von“ von Carl Gustav Adolf Siegfried in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 18 (1883), S. 252–255, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lengerke,_C%C3%A4sar_von&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 23:06 Uhr UTC)
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Lengerke: Cäsar v. L., geb. in Hamburg am 30. März 1803, seit 1829 Privatdocent, 1831 außerordentlicher Professor, 1835 ordentlicher Professor und Doctor der Theologie zu Königsberg, † daselbst 1855 (Winer, Hdb. d. theol. Lit. II, 637. De Wette-Schrader, Einl. in das A. T. S. 179). Die wissenschaftliche Thätigkeit von L. war eine vielseitige und, mit einer bedauerlichen und schwer begreiflichen Ausnahme, auch eine erfolgreiche und gründliche. Seine ersten Arbeiten gehören der Geschichte der Bibelauslegung an. In einem „Commentarius criticus de Ephraemo Syro scripturae s. interprete“ 1828 bringt er eine Sammlung der Peschitolesarten, welche sich in den Bibelcommentaren des Ephraem Syrus abweichend von dem textus receptus der syrischen Uebersetzung finden. Die dabei aufstoßende Frage, wie es sich denn mit denjenigen Fällen verhalte, bei denen Ephraem noch außerdem auf den hebräischen Grundtext („den ebroio“) zurückgeht, beantwortet L. a. a. O. S. 19. 20 dahin, daß bei diesen Stellen der syrische Text des Ephraem Glossen aus dem hebräischen Grundtext gehabt habe (vgl. ähnlich Roediger, Herzog, Realencycl. 1. A. IV. S. 87; anders entscheidet mit beachtenswerthen Gründen Gerson, Die Commentarien des Ephr. Syr. im Verh. z. jüd. Exegese in Frankel’s Mtsschr. f. Gesch. u. Wissensch. d. Judenth. Jahrg. 1868, S. 144–147). An diese Arbeit schloß sich die Monographie „De Ephraemi Syri arte hermeneutica“, 1831. Er handelt hier zunächst von den Hülfsmitteln, deren sich Ephraem bei der Auslegung der h. Schrift bediente, von seinem Verhältniß zur Peschito, von seiner genauen Kenntniß des morgenländischen Schauplatzes, auf dem sich die Bibel bewegt, von seiner Beeinflussung durch andere namentlich jüdische Schriftausleger, wovon er Beispiele bei Namendeutungen, Anklänge an jüdische Agada’s u. dgl. anführt – eine Untersuchung, welche neuerdings vollständiger und mit größerer Sachkenntniß von Gerson in der eben angeführten Schrift wieder aufgenommen worden ist. Weiterhin deutet er auf die Einflüsse Philo’s, worüber ausführlicheres zu finden ist in Siegfried, Philo von Alexandria, 1875, S. 370. 371, endlich auf die des Origenes und anderer Kirchenväter, die Ephraem zum Theil aus syrischen Uebersetzungen kannte. Endlich handelt er von den moralischen Ansprüchen, die Ephraem an den Ausleger macht. – Das 2. Capitel dieser Schrift bespricht zunächst die [253] großen exegetischen Schulen der damaligen Zeit, welche sehr ausführlich charakterisirt werden und zeigt, wie Ephraem unter den mesopotamischen Schulen sich besonders an die edessenische anschloß, welche einen Mittelweg zwischen wörtlicher und allegorischer Auslegung einzuhalten suchte. Das 3. Capitel behandelt Ephraem’s Lehre von der Schrift, vom doppelten Schriftsinn und redet von dem Gebrauch des Wortes theoria bei Ephraem für mystischen Sinn und von seiner typologischen und tropologischen Erklärung. – Im 4. Capitel wird von der Anlage der Commentare Ephraem’s, von seinem Vortrage und von den Ansätzen der historisch-grammatischen Interpretationsweise bei ihm gehandelt (zur Sache vgl. im Allgem. Diestel, Gesch. des A. T’s. S. 138). Dem Kreise dieser syrischen Studien gehörte auch die Publication einiger syrischer Dichtungen an. Die betreffende Schrift ist betitelt: „Gregorius Barhebraeus: carmina syriaca aliquot e cod. Paris. interpretatione notisque instructa“, 1836. Als Exeget des Alten Testaments trat L. zuerst hervor mit einem „Commentarius criticus de duplici Psalmi duodevigesimi exemplo“, 1833. In dieser Besprechung des bekannten Paralleltextes von Ps. 18 und 2. Sam. 22 sucht er zu beweisen, daß beide Texte von ungefähr gleichem Werthe seien, indem bald in diesem bald in jenem die bessere Lesart sich finde, doch sei in 2. Sam. 22 die Orthographie eine alterthümlichere, die Setzung der Vocalbuchstaben eine spärlichere (vgl. zur Sache Hupfeld, Die Psalmen 1. A. Bd. 1. S. 403). – Eine umfassendere Leistung von wissenschaftlicher Solidität war sein Werk: „Das Buch Daniel verdeutscht und ausgelegt“, 1835 – für ihre Zeit in jeder Beziehung hervorragend. Die ausführliche, 116 Seiten umfassende Einleitung nimmt namentlich Bezug auf die antikritischen Aufstellungen besonders Hengstenberg’s (Authentie des Daniel etc., 1831) und Hävernick’s (Commentar 1832), deren Gründe im Einzelnen in den §§ 2–8 angeführt und beurtheilt werden, worauf dann ebenso gründlich die Stellung der wissenschaftlichen Kritik zur Frage nach der Authentie des prophetischen Buchs in den §§ 9–14 erörtert wird. Sodann werden die Stellung des Buchs im Canon, die Grundideen und Tendenz desselben, die Form und Darstellungsweise, die Einheit, die apokryphen Zusätze und die alten Versionen besprochen, womit die Einleitung in den §§ 15–22 abschließt. Darauf folgt Uebersetzung und sehr eingehende Auslegung des Buches selbst. Im Einzelnen verweisen wir gegenüber der inzwischen stattgehabten weiteren Entwickelung der wissenschaftlichen Untersuchung über Daniel auf das, was die alttestamentlichen Einleitungen (de Wette-Schrader S. 486 ff., Bleek-Wellhausen S. 468 ff.) hierüber geben. Nur auf die wichtigsten derjenigen Aufstellungen Lengerke’s wollen wir hinweisen, welche sich als probehaltig erwiesen haben. Dahin gehört wol die Deutung des zweiten Thiers (c. 7, 5) auf das medische Reich, des vierten (c. 7, 7), auf das Reich Alexanders und seiner Nachfolger, der zuerst gegebene Nachweis des Widerspruchs von c. 2, 1 mit c. 1, 1 (vgl. S. 37. 38), die Beobachtung über das Unhistorische der Eintheilung des chaldäischen Reiches in Satrapien (S. 230. 331), über die falsche Vorstellung, welche der Erzähler von der Einrichtung von Löwengruben gehabt habe (S. 283). Auch die Deutung des kleinen Horns, das Vermessenes redet (c. 7, 8) auf Antiochus Epiphanes hat L. wol zuerst aufgestellt (S. 310–312). Sehr gut macht er auch auf die Eintönigkeit in der Erfindung des Verfassers aufmerksam (S. LXXIV f.). Seine Untersuchungen über die Abweichungen der LXX vom massoretischen Texte unseres Buches (S. CIX–CXIV) sind noch jetzt werthvoll. – Ungern berichtet man nach dieser Leistung über den Commentar zu den Psalmen (die 5 BB. der Ps. 1847, 2 Bde.), welcher dem Verfasser die scharfe aber nicht unverdiente Rüge Hupfeld’s zuzog (s. d. Psalmen Bd. 4. 1. A. 1862. S. 477): „schreibt schamlos Hengstenberg aus bei Hitzigschen kritischen Grundsätzen“ (vgl. auch [254] Diestel a. a. O. S. 662 f.). – Vielleicht erklärt sich diese Erscheinung aus einem Nachlassen der Arbeitskraft, aber freilich wäre es ja nicht nöthig gewesen unter diesen Umständen ein Buch zu schreiben. – Um so lieber schließen wir mit einem Werke, welches den Verfasser noch in schwerer Hoplitenrüstung und in voller wissenschaftlicher Leistungsfähigkeit zeigt. – Wir meinen sein Buch: „Kenaan, Volks- und Religionsgeschichte Israels. Erster Theil: Bis zum Tode des Josua“, 1844. – Wenn man sich vergegenwärtigt, daß damals von Ewald’s Geschichte des Volkes Israel erst ein Band erschienen war und als nennenswerther Bearbeiter einzelner Partien israelitischer Geschichte nur Ernst Bertheau in Frage kam, so ist Lengerke’s Leistung eine in jeder Hinsicht achtungswerthe zu nennen. Es kommt in seinem Buche das ganze fachliche Material der alttestamentlichen Geschichte zur Sprache. Die Stoffe der Geschichte, der Archäologie und der biblischen Theologie sind darin zusammengefaßt und zwar so, daß stets an der Hand des leitenden Fadens der geschichtlichen Erzählung die innere Entwickelung des Volkes in cultur- und religionsgeschichtlicher Beziehung verfolgt wird. So gestaltet sich das Ganze gewissermaßen zu einem großen fortlaufenden Realcommentar der biblischen Geschichtsbücher. Die umfassende Einleitung geht zunächst aus von der Gestaltung, welche Mythus und Sage in ihren mannigfachen Variationen innerhalb des Volkes Israel fanden, wobei besonders auf das eigenthümliche Gepräge geachtet ist, welches die Religion diesen Bildungen der Phantasie aufdrückte. Hierauf folgen Untersuchungen über das Alter der hebräischen Schrift und Geschichtschreibung, die anfänglich sehr archäologischer Natur sind und sehr in die Specialfragen eingehen und erst zuletzt sich den Anfängen der Litteratur zuwenden. Der 3. Abschnitt giebt eine Art litterargeschichtlichen Ueberblick über die hebräische Geschichtschreibung nach dem ganzen Umfange der erhaltenen Litteratur, also mit Einschluß der Apokryphen. Hier finden sich manche feine Bemerkungen über den Charakter israelitischer Geschichtschreibung, z. B. über ihre Weise den gesammten geschichtlichen Stoff durch einen Gedanken zu beleben, dem dann die Thatsachen zur Illustration dienen müssen und dem zu Liebe der Historiker die zerrissenen Erinnerungen der Ueberlieferung vervollständigte und umschuf. So schwebe dem Jehovisten stets der Preis der Nation, dem Deuteronomiker der des Gesetzes, dem Chronisten der des Cultus vor Augen u. dgl. m. – Im 4. Abschnitt werden die anderweiten alttestamentlichen Quellen und sodann die außerbiblischen, aus denen sich geschichtlicher Stoff gewinnen läßt, in großer Ausführlichkeit durchgemustert. – Der 5. Abschnitt beschäftigt sich insonderheit mit der Kritik des Hexateuch. Hier ist L. nicht original, seine Ansicht ist abhängig, theilweis von Bleek und Tuch, theilweis von de Wette, Stähelin und Ewald. Er denkt sich die Urgeschichte des Volks Israel bis zur Eroberung von Kanaan dreifach bearbeitet. – Die erste Darstellung gebe die sogen. Grundschrift, welche zur Zeit Salomo’s verfaßt, schon bis zur Landesvertheilung unter Josua ging, daran schließe sich die unter Hiskia verfaßte Schrift des Ergänzers (Jehovisten), welche die gegenwärtigen Bücher Genesis bis Numeri schon vollständig enthielt, dazu das Stück Deut. 31, 14–23. Hierzu komme endlich der Deuteronomiker, der zu Josua’s Zeit Deut. 1–31, 13. V. 23–30. c. 32. 34, 10–12 und die gegenwärtige Gestaltung des Buches Josua hinzufügte. Deut. c. 33 sei ein noch späteres Einschiebsel. – Diese Aufstellungen lassen sich nun allerdings der gegenwärtigen Kritik gegenüber nicht mehr aufrecht erhalten. Man vgl. Bleek-Wellhausen, Einl. in das A. T. 1878, §§ 81–87. S. 152–178. Danach folgt in acht Abschnitten die Untersuchung der Volks- und Religionsgeschichte Israels bis zum Tode des Josua. Der erste handelt vom Weltbilde der Israeliten unter sehr detaillirter Besprechung des Sprachgebrauchs und giebt eine Erläuterung der [255] hierher gehörenden Volksvorstellungen mit einer erschöpfenden Behandlung der einschlagenden Stellen. Der 2. Abschnitt bespricht das Land Kenaan und enthält den gesammten Stoff der Landeskunde von Palästina in weitestem Umfange nach den Mitteln der damaligen Zeit bearbeitet. Der dritte betrachtet die Besiedelung des heiligen Landes vor der Einwanderung der Hebräer. Im vierten wird dann von der ersten Einwanderung der Hebräer berichtet, welche in der Zeit der Erzväter stattfand und hiebei der ethnographische Ursprung des hebräischen Volkes untersucht und von den diesem verwandten Völkern gehandelt. Eine besondere Untersuchung wird hiebei der Religion der Erzväter gewidmet, die freilich damals nur noch mangelhaft ausfallen konnte. Der 5. Abschnitt giebt einen laufenden Commentar zu den Erzählungen vom Aufenthalte Israels in Egypten, vom Auszuge und von der Wanderung bis zum Sinai. Der sechste berichtet von der Gründung der israelitischen Gemeinde am Sinai, der siebente vom Aufenthalte in den moabitischen Gefilden, der achte von der Eroberung und Vertheilung Kenaans. – Trotz der Tüchtigkeit dieser Arbeit kann man es nicht bedauern, daß sie nicht weitergeführt wurde, da inzwischen das Fortschreiten der großartigen Leistung Ewald’s ganz neue Gesichtspunkte eröffnete und die zunehmende kritische Bewegung den ganzen Standpunkt Lengerke’s antiquirte. Gleichwol ist das Buch noch jetzt eine Fundgrube des wichtigsten Materials, aus welcher selbst nach Knobel’s und Dillmann’s Arbeiten zu schöpfen immer noch der Mühe verlohnt.