ADB:Lütkemann, Joachim
[697] L., Apotheker und Bürgermeister in Demmin. Seine Vorbildung erhielt er erst auf der Schule seiner Vaterstadt, dann auf dem Gymnasium zu Stettin, wo damals Johann Micraelius Rector war. Er studirte Philosophie und Theologie erst zu Greifswald, dann zu Straßburg, wo besonders J. K. Dannhauer’s (seit 1628 in Straßburg, seit 1633 Prof. der Theologie, vgl. Bd. IV. S. 645) philosophischer und theologischer Unterricht und persönlicher Umgang für ihn von dauerndem Einfluß war, indem er durch ihn zu philosophischen Studien und deren Verwerthung für theologische Fragen angeregt wurde. Nach einer Reise durch Frankreich und Italien beendete er seine Studien 1637 ff. zu Rostock, wurde hier 1638 magister legens in der philosophischen Fakultät, 1639 durch einstimmige Gemeindewahl zugleich Diaconus an St. Jakobi und noch in demselben Jahr Archidiakonus nach dem Tod des M. Zacharias Deutsch, mit dessen Wittwe Dorothea geb. von Levezow er sich verheirathete. 1643 erhielt er die Professur der Physik und Metaphysik und blieb diesem Doppelberuf des Predigers und Professors treu trotz einer lockenden Vocation nach Greifswald. Seine erbaulichen und nachdrücklichen Predigten fanden eben so vielen Beifall wie seine gründlichen und gelehrten Vorlesungen: Gottl. Großgebauer, Heinrich Müller, Christian Scriver etc. erhielten von ihm mächtige Anregung, Joh. Jakob Fabricius fand durch seine Gespräche und Predigten Trost und Frieden in schwerer Anfechtung. Rednerisch begabt und philosophisch gebildet richtete er sein Streben dahin, bei treuem Festhalten an der Schriftlehre und dem kirchlichen Bekenntniß die Wahrheiten des Christenthums theils praktisch volksthümlich zu verkündigen theils durch philo- oder theosophische Speculation zu begründen. 1646 bekleidete er das Rectorat der Universität, in demselben Jahr erwarb er sich zu Greifswald durch eine Dissertation „De viribus naturae et gratiae“ die theologische Licentiatur, 1648 durch eine Disputation „De baptismo“ den theologischen Doctorat. Bald aber regte sich wider ihn die Eifersucht und der ketzerrichterliche Verdacht einer schrofforthodoxen Partei, die von dem Herzog Adolf Friedrich von Mecklenburg begünstigt wurde. Den Angriffspunkt bot eine aus der mittelalterlichen Scholastik stammende, schon damals von Petrus Lombardus und Hugo, von Alexander H. und Thomas verschieden beantwortete, im 17. Jahrhundert von den lutherischen Dogmatikern wieder aufgewärmte Streitfrage: Ob Christus während der drei Tage seines Todes wahrer Mensch gewesen sei? Im Anhang zu einer philosophischen Disputation (propositiones metaphysicae et physicae VII, coroll. 2) sprach sich L. 1649 dahin aus: da zum Begriff des wahren Menschen neben der Existenz von Seele und Leib auch die Form des Zusammenseins beider gehört, im Tode aber das Band dieses Zusammenseins gelöst wurde, so war im Tode Christi, wenn dieser ein wirklicher und kein blos scheinbarer war, seine wahre Menschheit aufgehoben. Die Orthodoxen witterten hierin eine gefährliche Irrlehre, eine Leugnung der wahren Menschheit und Gottmenschheit Christi. Es entbrannte ein heftiger Streit. Der Rostocker Professor der Theologie Johann Cothmann, schon lange ein Gegner Lütkemann’s, wandte sich an den Rector der Universität, verlangte Confiscation der am schwarzen Brett angeschlagenen Thesen Lütkemann’s und Untersagung der Disputation, und opponirte, als diese am 4. April doch stattfand, mit großer Heftigkeit. Die Disputation endigte wie gewöhnlich erfolglos, da jeder der Gegner auf seiner Ansicht blieb. Nun aber wurde L. bei dem fürstlichen Kanzler in Güstrow, einem Verwandten Cothmann’s, als gefährlicher Irrlehrer denuncirt. Ein herzogliches Rescript ertheilte der theologischen Facultät einen Verweis, daß sie solche gottlose Lehren überhaupt habe proponiren lassen, und verhängte über L., ohne seine Verantwortung abzuwarten, Suspension von Kanzel und Katheder. Gemeinde und Rath, Ministerium und Facultät, Rector und Concil verwenden sich für ihn und bitten, einen Mann, der bisher [698] soviel Proben seiner Rechtgläubigkeit und Gottseligkeit gegeben, nicht wegen einer so geringfügigen Sache seinem Amte zu entziehen. Der Hof ist geneigt, die Suspension wieder aufzuheben unter der Bedingung. daß L. einen ihm vorgelegten Revers unterzeichne. Als er die Unterschrift des Reverses ebenso wie die Abgabe einer neuen ihm abgeforderten Erklärung gewissenshalber glaubte verweigern zu müssen, so erging am 25. August vom Hof der unerwartete Befehl, L. habe binnen 8 Tagen Stadt und Land zu räumen. Aber schon war ihm ein Asyl bereitet: der fromme und gelehrte Herzog August von Braunschweig-Wolfenbüttel, wohl persönlich mit L. bekannt oder durch seine dritte Gemahlin, eine mecklenburgische Prinzessin, auf ihn aufmerksam gemacht, berief ihn an die Stelle des 1648 verstorbenen Dr. Wideburg zum ersten Hofprediger und Generalsuperintendenten. Unter Thränen gab ihm seine Rostocker Gemeinde das Geleite und, da ihm nicht gestattet war eine Abschiedspredigt von der Kanzel zu halten, so verabschiedete er sich von ihr unter freiem Himmel auf einem neben der Straße belegenen Hügel durch eine kurze aber bewegliche Valetrede (gedruckt zu Wolfenbüttel 1656. 4°). Er wurde in seiner neuen Heimath mit Freuden aufgenommen, hielt zu Michaelis 1649 seine erste Predigt in Wolfenbüttel, wurde ins Consistorium eingeführt und als Superintendens generalissimus in Pflicht genommen. Herzog August bedankte sich bei seinem Schwiegervater für Ueberlassung des trefflichen Mannes und fragte bei ihm an, ob er nicht noch mehr solche „gelehrte und geistreiche Männer“ abzugeben habe. Ihm eröffnete sich ein schöner und gesegneter Wirkungskreis: er wurde vom Herzog mit einer Generalvisitation der Kirche des ganzen Landes beauftragt, führte das Directorium in Consistorialsachen, wurde zum Abt von Riddagshausen ernannt, entwarf für das Herzogthum eine neue Schulordnung 1651 (abgedruckt bei Vormbaum, Ev. Schulordnungen II, 407; neu herausg. von Israel 1880) sowie eine neue Kirchenordnung 1657, wurde auch in anderen Sachen vom Herzog gerne gehört, wie die noch vorhandenen Handbriefe zeigen, starb aber schon vor der Publication der Kirchenordnung an einer hitzigen Krankheit den 18. Octbr. 1655. Von Lütkemann’s Schriften haben die philosophischen und dogmatischen (z. B. De Deo naturaliter cognoscibili, positt. metaphysicae et physicae, diss. de vero homine, die ausführliche Vertheidigung seines oben erwähnten Satzes, der seine Vertreibung aus Rostock zur Folge hatte, gedruckt zu Wolfenbüttel 1650. 4°) höchstens noch geschichtlichen Werth. Dagegen haben sich mehrere seiner in deutscher Sprache geschriebenen Erbauungsschriften zum Theil bis heute nicht blos im Gedächtniß, sondern auch im Gebrauch des evangelischen Volkes erhalten: so vor Allem sein „Vorschmack göttlicher Güte“, zuerst Wolfenbüttel 1653 erschienen, später oft herausgegeben (z. B. Braunschweig 1680; 1712; 1720; 1740, in schwedischer Uebersetzung Stockholm 1731), ein kurzer Begriff der ganzen Theologie oder der Lehre von der Gottseligkeit, wobei Alles aus der Güte Gottes abgeleitet wird und in dieselbe wiederum resolvirt; ferner seine Predigten, apostolische Aufmunterung zum lebendigen Glauben, sein Büchlein vom irdischen Paradies, sowie endlich besonders seine „Harpffe von zehn Saiten d. i. gründliche Erklärung von zehn Psalmen Davids etc.“, Wolfenbüttel 1658, Frankfurt, Leipzig, Greifswald 1667 etc. Neben J. Arndt, H. Müller, Chr. Scriver gehört L. zu den beliebtesten, nach Form und Inhalt gediegensten Erbauungsschriftstellern der lutherischen Kirche und zu denjenigen deutschen Theologen, die auch (wie J. G. Heinsius sagt) „zur Aufnahme der deutschen Sprache etwas beigetragen haben“; seine zahlreichen Predigten, theils einzeln gedruckt, theils in Sammlungen vereinigt, geben ihm in der Geschichte der Homiletik, seine katechetischen Arbeiten z. B. „Corpus doctrinae catecheticae“, 1656 ff. in der Geschichte der Katechetik eine Stelle; seine erbaulichen deutschen Oden oder geistlichen Lieder (im Ganzen 48, meist in der „Harfe von zehn Saiten“ abgedruckt; einzelne davon auch in [699] die Kirchengesangbücher aufgenommen) geben ihm in der Geschichte der geistlichen Liederdichtung eine ehrenvolle Stelle. Sein ganzes Wesen ist von seinem Lehrer Dannhauer aufs treffendste charakterisirt als „eine ebenso glückliche wie seltene Verbindung gründlicher Gelehrsamkeit mit ächter Frömmigkeit“. H. Müller, der einst in Rostock sein Schüler gewesen und später mehrere seiner Schriften herausgab, rühmt ihn als einen hochtheuren Gottesmann und Lehrer der Gerechtigkeit, der die heilige Lehre mit einem urchristlichen heiligen Wandel in allen Stücken geziert und dessen Gedächtniß aller Orten, da er gewirket oder wo man seine Schriften liest, im Segen bleibe; Spener zählt seine Schriften neben Arndt’s und Müller’s zu den erwecklichsten und nützlichsten.
Lütkemann: Joachim L., lutherischer Theolog, Prediger und Erbauungsschriftsteller des 17. Jahrhunderts, geb. am 15. Decbr. 1608 zu Demmin in Vorpommern, † am 18. Octbr. 1655 zu Wolfenbüttel. Sein Vater war Samuel- Sein Leben ist beschrieben worden von Phil. J. Rehtmeyer, Pastor zu St. Michaelis in Braunschweig, unter dem Titel Nachrichten von den Schicksalen, Schriften und Gaben J. L., herausg. und vermehrt von Hofdiaconus Märtens als Anhang zu Lütkemann’s Vorschmack, Braunschweig 1740. 8°. und separat erschienen 1748. 8°; ferner vgl. Jöcher II, 2593; Eschenbach, Annalen der Rostocker Akad. VI, 256; Krey, Andenken II, 46; Beiträge zur Mecklenburg. K. u. G.Gesch. I, 59; Walch, Religionsstreitigkeiten IV und V, 638 ff.; Henke, Calixt Bd. II; Tholuck, Akad. Leben I, 255, II, 105; Lebenszeugen 379; Krabbe, H. Müller S. 73; Aus dem kirchl. und wissensch. Leben Rostocks, S. 305 ff.; Dilthey in der theol. RE. 2 A. IX, 3 ff.; Wetzel, Liederhistorie II, 142; Koch, Gesch. des Kirchenlieds Bd. II.