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Artikel „Jolly, Philipp von“ von Redaktion der ADB in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 55 (1910), S. 807–810, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jolly,_Philipp_von&oldid=- (Version vom 21. November 2024, 17:26 Uhr UTC)
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Jolly *): Philipp Johann Gustav von J., Physiker (älterer Bruder des namhaften badischen Staatsmannes A. D. B. L, 690 ff.), geboren in Mannheim am 26. September 1809, † den 24. December 1884 zu München. Der Vater, Louis J., Abkömmling hugenottischer Emigranten, war in pfalz-bairischen [808] Kriegsdiensten zum Hauptmann avancirt und hatte sich in der Bamberger Garnison mit Marie Eleonore, Tochter des dortigen Archivars v. Alt, vermählt. Im J. 1809 nahm er den Abschied, um sich in seiner Heimath Mannheim dem Kaufmannsstande zu widmen. Bei zahlreich anwachsender Familie – acht Kinder, darunter zwei Söhne – arbeitete er sich mühsam zu Wohlstand und Ansehen empor; 1836–49 hat er das Amt des ersten Bürgermeisters bekleidet. Der ältere Sohn Philipp ward anfangs, da ihm mathematische Arbeiten leicht fielen, aus Sparsamkeit zum praktischen Ingenieur bestimmt; doch bewirkte das Fürwort des Physikers Wilhelm Eisenlohr seine Rückkehr aufs Lyceum, das er im Herbst 1829 mit dem Zeugniß der Reife verließ. In Heidelberg, wo er die zwei ersten Universitätsjahre zubrachte, war für die physikalischen Disciplinen damals nicht viel zu holen; doch vertiefte sich der fleißige Student in die Lectüre mathematischer Classiker und löste bereits im Herbst 1830 die Preisfrage der philosophischen Facultät: „de Euleri meritis de functionibus circularibus“, worauf er sich für die akademische Laufbahn als Lebensberuf entschied. Auch in Wien, wohin er sich zur Fortsetzung seiner Studien im Herbst 1831 begab, fand er in den naturwissenschaftlichen Vorlesungen nicht die ersehnte Förderung; dagegen genoß er den anregenden Umgang strebsamer und talentvoller Altersgenossen, besonders Ferdinand Redtenbacher’s, dem er später (1840) die Professur der Maschinenkunde an der polytechnischen Schule zu Karlsruhe verschafft hat. Von ihm empfing J. den Antrieb, sich während seines zweijährigen Wiener Aufenthaltes regelmäßig in der praktischen Arbeit des Mechanikers zu üben, was ihm hernach bei der Construction physikalischer Apparate wohl zu statten kam. Verwandten Zwecken dienten die größeren Wanderungen, die er in den Ferien durch die industriösen Gebiete der österreichischen Monarchie unternahm, um sich mit dem Betriebe der Berg- und Hüttenwerke, der Fabriken und anderen gewerblichen Anstalten technologisch vertraut zu machen. Theoretisch entscheidend aber wurde für ihn erst der Eintritt in Berlin gegen Ende des Jahres 1833. Dort fand er an der Universität die exacten Wissenschaften im regsten Aufschwung; insbesondere hatte Magnus eben seine Thätigkeit begonnen, die in der Folge zur bedeutungsvollen Entfaltung der Berliner physikalischen Schule führte. Die hier empfangenen Eindrücke haben auch in J. den Entschluß gereift, sich vornehmlich dem Lehrfach der Experimentalphysik zu widmen. Durch den mahnenden Ruf des Vaters zur Heimkehr bewogen, promovirte er am 21. Juni 1834 in Heidelberg und habilitirte sich gleich darauf daselbst als Privatdocent für Mathematik, Physik und Technologie.

Zwanzig Jahre lang, bis zum Herbst 1854, hat J. an der Heidelberger Universität gelehrt. Ende 1839 wurde ihm als außerordentlichem Professor die erledigte Lehrkanzel der Mathematik übertragen, 1846 ward er zum Ordinarius für Physik ernannt und erhielt gleichzeitig die Befugniß zur Errichtung des ersten, freilich noch kleinen physikalischen Laboratoriums für Studirende, während er bisher bei der Anschaffung der Instrumente, selbst für die Demonstrationen im Hörsaal, auf die eigenen bescheidenen Mittel angewiesen war. Allein alle Schwierigkeiten hatten nur dazu gedient, seine eifrige Lehrthätigkeit zu beflügeln; von Anfang an erwies er sich als der geborene Docent, der durch die – man möchte sagen: französische – Klarheit und Präcision seines Vortrags den Geist der Zuhörer befriedigte, während er durch stete Liebenswürdigkeit ihr Herz gewann. Weniger seine „Anleitung zur Differential- und Integralrechnung“ (Heidelberg 1846), als die vorzügliche gemeinfaßliche Darstellung der „Principien der Mechanik“ (Stuttgart 1852) gibt eine Anschauung davon, in welchem Maße er die Gabe besaß, sowohl die [809] leitenden Ideen als die wichtigsten Resultate einer physikalischen Disciplin dem Verständniß nahe zu bringen. Von eigenen Forschungen Jolly’s in der Heidelberger Zeit sind, abgesehen von seinem Antheil an den chemisch-physiologischen Untersuchungen des Anatomen Bischoff über die Vorgänge bei der Respiration (1837), besonders hervorzuheben die Experimental-Untersuchungen über Endosmose (1848), die seinen Namen vornehmlich bekannt gemacht haben; sie trugen zur Klärung der osmotischen Vorgänge wesentlich bei, wenn sich auch seine Formeln nicht als haltbar erwiesen. In Heidelberg begann er ferner jene weit angelegte Untersuchung über das Wirkungsgesetz der Molekularkräfte, deren Principien er in einer Münchener akademischen Rede entwickelte („Die Physik der Molecularkräfte“, München 1857) und die er noch Jahre lang, obwohl schließlich ohne befriedigendes Ergebniß, fortgesetzt hat. Inzwischen hatte er (1839) Luise Wüstenfeld die Hand gereicht, sein Haus füllte sich mit Leben. Er verdiente sich die Freundschaft der besten Collegen, der Pfeufer und Henle, Gervinus und Häusser, Vangerow und Mohl, die in ihm den Mann von scharfem, hellem Urtheil, von geradem, ehrlichem, rührend neidlosem Charakter schätzten. So fühlte er sich durchaus glücklich. Allein als 1854 – wie es scheint, auf Pfeufer’s Empfehlung – der ehrende Ruf an ihn erging, der Nachfolger des berühmten Ohm in München zu werden, und als die damalige reactionäre badische Regierung grundsätzlich nicht das geringste that, um den mustergültigen Docenten dem Lande zu erhalten, bloß weil er sich zum besonnensten Liberalismus bekannte, da blieb J. keine Wahl. Uebrigens hatte Heidelberg das Glück, an seiner Statt Kirchhoff zu gewinnen.

Jolly’s Wirksamkeit in München erstreckt sich über dreißig Jahre, vom Herbst 1854 bis nah an seinen Tod; sie war vom glücklichsten Erfolge begleitet und hat ihn selber tief befriedigt. Vor allen Dingen bewährte er sich auch hier als bewundernswerther Docent von unübertrefflicher Klarheit und Eleganz der Darstellung, auf das genaueste vertraut mit der ganzen Geschichte und dem jüngsten Stande seiner Wissenschaft. Das große Colleg über Experimentalphysik, das nach guter Münchener Tradition von Studirenden aller Facultäten der allgemeinen Bildung wegen gehört wurde, hat er nicht nur immer vollzählig zu erhalten verstanden; die Besuchsziffer war sogar die größte, die in jenen Jahren überhaupt an der Universität vorkam. Auch an der geräuschloseren Thätigkeit im physikalischen Seminar ließ er es nicht fehlen; manchen Schüler, wie Wüllner, Lommel u. a. m., hat er zu wissenschaftlicher Production angeleitet. Seine Forscherarbeit ist in dieser späteren Periode meist von dem Streben nach Verbesserung und Vereinfachung der Meßinstrumente und Meßmethoden beseelt, um dadurch für andere Zwecke genauere Zahlen zu gewinnen. So verdankt man ihm die Construction einer Federwage, der Quecksilberluftpumpe, eines Luftthermometers, des Kupfereudiometers u. dgl. mehr; er bestimmte das specifische Gewicht des flüssigen Ammoniaks, suchte die Tiefe der Gebirgsseen zu ermitteln, studirte die Ausdehnung des Wassers durch die Wärme, stellte die Ausdehnungscoefficienten des Sauerstoffs und anderer Gase fest und constatirte gewisse Schwankungen in der Zusammensetzung der atmosphärischen Luft, die er mit vorherrschenden Windrichtungen in Beziehung brachte. Am bedeutsamsten waren seine den Jahren 1878–81 angehörenden Versuche der Anwendung der Wage auf Probleme der Gravitation; sie führten zu einer neuen Methode, die Dichtigkeit der Erde zu bestimmen. Was Jolly’s außeramtliche Stellung in München betrifft, so begegnete ihm, dem fremdbürtigen Protestanten, wohl eine Zeit lang das gleiche Mißtrauen, mit dem die von König Max II. Berufenen überhaupt betrachtet wurden, und seinen vertrauteren Verkehr hat er auch nachmals vornehmlich in den Kreisen [810] der Zugewanderten, der Sybel, Siebold, Heyse, Windscheid gesucht und gefunden. Gar bald aber erwarb und erhielt er sich auch unter den Einheimischen eine durchaus unangefochtene und geachtete Position. Dies vermochte er, abgesehen von seiner Tüchtigkeit im Amt, durch unverbrüchliche Geradheit, Fernhaltung von aller Intrigue, feinfühligen Takt und vollkommene Uneigennützigkeit. „Es machte doch Eindruck“, versichert Mohl, „daß er zu allen besonderen Aufträgen bereit war, aber nur unter der Bedingung, keinerlei besondere Belohnung oder Auszeichnung dafür zu erhalten.“ So betheiligte er sich mit lebhaftem Interesse an der Einführung des metrischen Maß- und Gewichtssystems, war schon 1861 als bairisches Mitglied in der Commission am Bundestag dafür thätig, half 1869 die Organisation in Baiern selbst besorgen und wirkte lebenslänglich als wissenschaftlicher Rathgeber bei der Normalaichungscommission. Nicht minder thätigen und fördernden Antheil nahm er an der Reform des höheren technischen Unterrichts – nur daß er als Sitz der Hochschule Nürnberg vorgezogen hätte – und half auch bei der Organisation der bairischen Kriegsakademie. Er vertrat sein Land bei der internationalen Meterconferenz 1872 in Paris und fungirte im folgenden Jahre als Mitglied der deutschen Centralcommission für die Wiener Weltausstellung. Der Münchener geographischen Gesellschaft, der er seit ihrer Gründung 1869 bis an sein Lebensende präsidirte, hat er in wissenschaftlicher und socialer Hinsicht den Stempel aufgedrückt. Auch das große gebildete Publicum erfreute er bei den Vorträgen im Liebig’schen Hörsaal jezuweilen durch die Meisterschaft seiner lichtvoll darstellenden Kunst.

Im Sommer 1884 feierte J. sein funfzigjähriges Doctorjubiläum und beschloß zugleich, sich nun nach dem hundertsten Semester zur Ruhe zu setzen. In der Dankrede, mit der er die ihm dargebrachten Begrüßungen erwiderte, pries er sich dreifach glücklich: daß er in diesem Jahrhundert des wissenschaftlichen Fortschritts geboren sei, daß ihn sein Schicksal nach München geführt und daß er als Deutscher die Erhebung des Vaterlands geschaut habe. Die Gattin hatte er schon 1874 verloren; von seinen Söhnen standen drei, als Jurist, Psychiater und Sprachforscher, mit Ansehen in auswärtigen akademischen Aemtern. Er verstarb nach kurzem, aber schwerem asthmatischen Leiden, 75jährig, am Weihnachtsabend 1884.

Nekrolog von C. v. Voit in den Sitzungsberichten der mathematisch-physikalischen Classe der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München, Bd. XV, Jahrg. 1885, S. 119 ff. – Gottfried Böhm: Philipp v. Jolly, ein Lebens- und Charakterbild. München 1886. Am Schluß Verzeichniß der Schriften Jolly’s. – Badische Biographien, hrsg. von Fr. v. Weech, IV. Th., S. 199 ff. Karlsruhe 1891. – Rob. v. Mohl: Lebenserinnerungen, I–II. Stuttgart u. Leipzig 1902.

[807] *) Zu Bd. L, S. 701.