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Artikel „Jeitteles, Andreas Ludwig“ von Bernhard Münz in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 50 (1905), S. 643–647, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Jeitteles,_Aaron&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 19:48 Uhr UTC)
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Jeitteles: Andreas Ludwig J. oder, wie er sich als Poet nannte, Justus Frey, dessen „Gesammelte Dichtungen“ sein Sohn, der bekannte Germanist und Universitätsbibliothekar Adalbert J. im Auftrage der Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen 1899 herausgegeben, ward am 24. November 1799 in Prag geboren, besuchte daselbst 1810–15 das Altstädter Gymnasium, in welchem er besonders eifrig das Studium der classischen Sprachen betrieb. Nach Vollendung des sogenannten philosophischen Obligatcurses, der seiner idealen Geistesrichtung lebhafte Anregung bot, wählte er die Medicin zu seinem Berufsstudium. Schon während der Studienzeit erwachte in ihm die Liebe zur Poesie. Durch vertrauten Umgang mit Karl Egon Ebert und dem berühmten Schauspieler Karl Seydelmann, welcher damals der Prager Bühne als Mitglied angehörte, sowie mit dem genialen Maler Joseph Führich schoß diese Neigung zu hellen Flammen auf. So entstanden schon frühzeitig viele Gedichte, die in verschiedenen Zeitungen, Zeitschriften und Taschenbüchern erschienen und in litterarischen Kreisen Aufsehen erregten. Doch mußte J. der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, seine Neigung eindämmen. Die Armuth, die unseres Dichters Erbtheil war und ihm in dem Jugendgedichte „Frage nicht“ den Seufzer entlockte:

„Wenn ich Andere lächeln sehe,
Sehe, wie sie froh genießen,
Fühl’ ich ein gewaltig Wehe
[644] Durch die Brust wie Pfeile schießen.
Lieder sind die einz’ge Habe
Die vom Himmel ich empfangen“

forderte von ihm mit gebieterischem Zwange, daß er sich eine feste Stellung im Leben erobere. Er promovirte daher im J. 1825 in Wien auf Grund einer Dissertation, die den Titel führt „De animi adfectibus“, ließ sich daselbst als praktischer Arzt nieder und traf zugleich Vorbereitungen für den akademischen Lehrberuf. 1826 unternahm er in Begleitung eines Mäcens, des Dr. Philipp Ritter v. Holger, zu wissenschaftlich-litterarischen Zwecken eine Reise durch Deutschland, welche ihn unter anderem nach Weimar führte. Hier entstand 1826 das ergreifende Gedicht „Im Schiller’schen Hause zu Weimar“, in dem er das Andenken des Dichterfürsten in sinniger Weise feierte. Um dieselbe Zeit erschien auch das Gedicht „Schiller und seine romantischen Gegner“, in welchem er dem unerschrockenen Streiter für Wahrheit und Freiheit, dem Bekämpfer der Tyrannen, dessen Dramen Erzposaunen gleichen, huldigte. Er donnerte den Romantikern entgegen, daß es durchaus nicht etwa heiliger Zorn ist, der sie gegen Schiller entflammt, sondern vollständiger Mangel an dem Ewig-Männlichen:

„Weil er, ein Held, verblutend für jene Freiheit focht,
Bei deren bloßem Namen das Herz euch ängstlich pocht;
Weil er der finstern Lüge Medusenhaupt zertrat
Und unsern Geist mit Wahrheit, mit Licht gesättigt hat.

Weil sein Gesang, der mächtig und kühn daher gebraust,
Wie wenn der Sturm des Waldes um Eichenwipfel saust,
Nie kräftiger und reiner, nie reicher sich ergoß,
Als wenn vom Recht der Menschheit der Mund ihm überfloß.

Weil er, sich selbst vertrauend, nur durch sich selbst geschult,
Um eure Gönnerschaften nicht kleinlich hat gebuhlt;
Weil ihm verhaßt gewesen Parteien-Haß wie Gunst;
Weil Meisterin und Herrin allein ihm war die Kunst.

Weil er, der Zeitenkenner, der Weise, der Prophet,
Wornach ihr kindisch geizet, hat männlich stolz verschmäht:
Aus hohem Aug’ ein Lächeln, ein Kreuz aus hoher Hand,
Und wie er sonst noch heiße der weltlich hohle Tand!

Das sind die weisen Gründe, wir kennen sie genau,
Ihr Männer, fein im Umgang, im Urtheil hart und rauh,
Warum ihr pathologisch den Kerngesunden nennt;
Ja, pathologisch ist es, daß ihr ihn nicht erkennt.

Es wird euch nicht gelingen, ihr müht umsonst euch ab,
Den deutschen Herzen theuer bleibt dieses edle Grab:
Gesinnung heißt der Zauber, wodurch man sie gewinnt,
Charakter heißt die Formel, die Liebesnetze spinnt.“

Damals war es ihm auch vergönnt, den Olympier von Angesicht zu Angesicht zu sehen und ihm seine Reverenz zu bezeigen. Bei aller Verehrung und Bewunderung seines gewaltigen, titanenhaften Genius hielt er jedoch nicht mit dem allerdings zu weit gehenden, das Kind mit dem Bade ausschüttenden Tadel zurück. Goethe ist ihm ein Lehrer, ein Führer, ein Schild gegen Schicksalsdruck, aber er kann ihn nicht erwärmen, das Herz ihm nicht höher schlagen machen, weil er nicht wie Fichte zündende Worte zur deutschen Nation gesprochen, weil er Verrath an seinem Volksthum begangen hat. Der Anblick seiner Statue entlockt ihm den zornigen, schmerzerfüllten Ausruf:

„In diesen Tagen fühl’ ich’s mehr als jemals: Eins hast du verbrochen:
Du ließest deines Volkes Leid vergebens an die Thüre pochen,
Du wiesest vornehm es zurück;
......... und wo du bitter hättest sollen weinen,
Genügte dir dein eigen Glück.

[645] Und doch – wer weiß – ein freies Wort aus deinem Zaubermund erklungen,
Es wäre wie der Strahl des Lichts vielleicht durch Land und Meer gedrungen,
Erleuchtet hätt’ es und geweckt,
Die Säumigen geweckt zur That, die Schlafenden geweckt aus Träumen,
Die bösen Geister hätt’ es kühn gejagt aus ihren finstern Räumen
Und freche Willkür aufgeschreckt.

Und hätt’ auch nicht dein Wort gesiegt – nicht immer siegt ein Wort zur Stunde –
So sprachst du’s doch, so kam es doch hervor aus dem Prophetenmunde,
Durch alle Zeiten tönt’ es fort;
Verkünden würd’ es ein Geschlecht dem andern: „Seht, so dacht’ und schrieb er,
So kämpft’ und litt er für sein Volk, ein Mann des Volkes war und blieb er,
Gepriesen sei sein großes Wort!“

Du wolltest nicht! – Und warum nicht? – Du warst so stark nicht wie der Weise,
Der aus dem himmlischen Gefild in unsre niedern Lebenskreise
Sich opferfreudig hergewandt:
Man zeigte dir das Erdenrund mit allen seinen Herrlichkeiten;
Da ließest du den schlichten Ring von deinem Finger abwärts gleiten,
Der mit dem Volke dich verband.

...............................
Bedrängte Menschheit, wann doch wird ein Geistesheros dir erstehen,
Der einen Arm hat für dein Wohl und ein Gefühl für deine Wehen? –
O, weinen möcht’ ich wie ein Kind,
Daß Männer, die du nennen mußt im Reich des Geistes hohe Fürsten,
Nach ihrer eig’nen Ehre zwar, jedoch nach deiner Schande dürsten,
Daß deine Größten – groß nicht sind!“

1829 erhielt J. die Stellung eines Prosectors bei der anatomischen Lehrkanzel in Wien und 1831 die durch den Tod des Ordinarius erledigte Lehrkanzel selbst in provisorischer Eigenschaft, 1835 wurde ihm die supplirende und ein Jahr darauf die ordentliche Professur der sogenannten theoretischen Medicin für Wundärzte an der ehemaligen Universität in Olmütz übertragen. In dem Studienjahr 1842–43 bekleidete er das Ehrenamt eines Rectors. Im Sturmjahre 1848 erfuhr seine Lehrthätigkeit eine Unterbrechung. Er schloß sich mit feuriger Begeisterung und der ganzen Hingebung seiner nach Fortschritt und Aufklärung dürstenden Seele der freiheitlichen Bewegung an. In seiner Eigenschaft als Lehrer der Hochschule fühlte er sich vor allem gedrängt, auf die akademische Jugend beschwichtigend und belehrend einzuwirken, indem er an sie in und vor der Aula wiederholte, mit Jubel aufgenommene Ansprachen hielt. Er übernahm ferner die Leitung eines politischen Blattes („Die neue Zeit“), in dem er seinem Freimuth und dem Ingrimm gegen die finsteren Mächte der Reaction rückhaltlos Ausdruck lieh. Durch diese seine politische Thätigkeit gewann er sich nicht nur die Herzen der gesammten Studentenschaft, sondern zugleich die Gunst und Achtung des aufgeklärten Theiles der Bevölkerung in so hohem Grade, daß er von dem Wahlbezirk Olmütz mit weitaus überwiegender Stimmenmehrheit zum Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt am Main gewählt wurde. In der Paulskirche saß er neben dem 80jährigen Ernst Moritz Arndt, so lange dieser nicht die „Schwenkung nach rechts machte, und hielt zwei größere Reden. Mit geschwellten Hoffnungen war er nach Frankfurt gezogen, tiefgebeugt kehrte er im December 1848 in die Heimath zurück, weil Deutschland sich freiwillig der Schmach vermählt hatte. Zu der herben Gemüthsstimmung gesellte sich ein langwieriges schweres Leiden, das ihn zwang, mehrere Jahre hindurch seinem geliebten Berufe fernzubleiben. Während dieser unfreiwilligen Unterbrechung seiner akademischen Thätigkeit war er eine Zeit lang ernstlich von der Gefahr bedroht, wegen seines öffentlich bekundeten Liberalismus des Lehramtes entsetzt zu werden. Erst 1852 kam er in die Lage, seine Berufsarbeit wieder aufzunehmen, [646] und er lag ihr mit dem ihm eigenen Pflichteifer bis zum Jahre 1869 ob, in dem ihm die edle Gattin durch den Tod entrissen wurde. Den Rest seines Lebens verbrachte er in Graz, wo er am 17. Juni 1878 starb.

Aus den oben erwähnten Gedichten, zu denen sich noch das 1844 verfaßte Gedicht „Nicolaus Lenau“ gesellen mag, in dem er für das Schicksal des unglücklichen Dichters seinen Mißton verantwortlich machte und in den schönen Versen:

„Wie anders deiner Muse Sonnenblick,
O Goethe, reizendstes der Wunder!
Mit allen Grazien im Freundschaftsbund,
Strömt Weisheit dir vom lebenswarmen Mund,
Und selbst dein Schmerz ist ein gesunder.

Zu dieser Quelle wandert ungesäumt:
Hier wird nicht knabenhaft der Tag verträumt,
Lebendiges wird treu besichtigt;
Vom Kerne wird das Beiwerk losgeschält,
Der Sinn geschärft, die Mannesbrust gestählt
Und Leid wie Leidenschaft beschwichtigt!“

den Altmeister als lichtvolles Gegenstück hinstellte, geht klar hervor, daß J. im Gegensatze zu vielen österreichischen Dichtern des Vormärz nie in schwachmüthige Resignation und weltabgewandte Beschaulichkeit verfiel. Dem Quietismus schoben schon sein ernster Beruf und die Beschäftigung mit der trockenen, nüchternen Erfahrungswissenschaft einen Riegel vor. Die Hingabe an die letztere war für die Ausreifung seines dichterischen Talentes von entschiedenem Vortheil; sie schärfte seinen Blick für die Natur, sie befähigte ihn zu einem raschen Erfassen des Nothwendigen, ihr dankte er die Gabe, alles Ueberflüssige und Zufällige sofort von einer Sache abzustreifen, aus den verwickeltsten Dingen alsbald den wesentlichen Kern herauszuschälen, – eine Gabe, die so vielen Berufspoeten in empfindlichem Grade mangelt, sie über die Oberfläche der Dinge nicht hinausschauen läßt und der naturalistischen Kleinkunst in die Arme treibt.

J. war ein reger Geist und mit seinen Idealen der trägen Zeit voraus. Goethe und Schiller waren ihm leuchtende Vorbilder, an ihnen rankte er sich empor. Gleichwol kann er nicht schlechthin als Epigone gelten, denn er erhebt sich durch den Reichthum der poetischen Anlage, durch die Fülle dessen, was er aus Eigenem zu dem Ueberkommenen hinzuthat, hoch über das Durchschnittsmaß.

Wahrhaft mannbar wurde seine Muse erst mit dem staatlichen Umschwung. Auf der hohen Warte des Zeitgeistes stehend, nahm er an den Kämpfen der Völker um Recht und Freiheit den lebendigsten Antheil und stellte sich überhaupt in den Dienst der Menschheit. Sein Singen und Sagen ist auf den Grundaccord gestimmt: „Wie soll, wer kriecht, sein höchstes Ziel erklettern?“ Wie auf rein wissenschaftlichem, so ging ihm eben auch auf litterarischem und politischem Gebiete die unverfälschte, ungeschminkte Wahrheit über Alles.

Er war vorzugsweise Lyriker. Die harmonische Verschmelzung und Durchdringung aller Geisteskräfte drückt seiner Lyrik den Stempel auf. Sie ist ein Gewebe von Dichtung und Wahrheit, Anmuth und Würde. Verstand, Gemüth und Phantasie sind in ihr zu trautem Bunde vereint. J. war kein Stimmungsfanatiker, er gab jederzeit der Idee vor der bloßen Stimmung den Vorzug; er war ein Gedankendichter, womit aber beileibe nicht gesagt sein soll, daß er kein einziges echtes Lied geschrieben, kein einziges Gedicht, welches man den schlichten Ausdruck naiven Empfindens nennen könnte; hat er doch sogar in einigen Gedichten den Ton des Volksliedes ausgezeichnet getroffen. Die Naturlaute echter Empfindung standen ihm ebenso reichlich zu Gebote, wie die ätzende Lauge der Satire und kecker, überschäumender Humor. Und wie die [647] Töne, so meisterte er auch die vielfältigen Formen. Seinen Rhythmen und Reimen, im schlichten Liede wie im Odenschwunge, sowie nicht minder in den um so schwierigeren und zierlicheren Krystallisationsformen der Glosse, des Sonetts, des Ghasels und der Ottaven ist ein leichter, anmuthiger Fluß eigenthümlich.

Ein reines, lauteres Gemüth spricht auch aus den thaufrischen „Spruchdichtungen“, die Adalbert J. im Jahre 1903 aus dem Nachlasse des Vaters herausgab. Gedankenwucht und Seelentiefe drücken ihnen den Stempel auf. Kraft ist der Panzer dieser Sinngedichte, köstlicher, oft übermüthig sprudelnder Humor ihr Geschmeide, Begeisterung ihr Schwert, ihr Schild die Klarheit. Der Sonne gleich verbreiten sie Wärme und Licht zugleich.

Es sei noch hervorgehoben, daß J. sich auch nicht ohne Geschick in einigen kleinen Dramen versucht hat.