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Artikel „Credner, Karl August“ von Carl Gustav Adolf Siegfried in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 575–583, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Credner,_Carl&oldid=- (Version vom 25. Dezember 2024, 16:14 Uhr UTC)
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Credner: Karl August C., geb. 10. Januar 1797, † 16. Juli 1857. Zu Waltershausen bei Gotha, wo sein Vater Pfarrer war, als das älteste von acht Geschwistern geboren, empfing er die erste Bildung von seinem Vater, welcher, ein eifriger Kantianer, in ihm früh den Sinn für klares folgerichtiges Denken und Liebe zur Wahrheit weckte. Auch die Neigung für naturwissenschaftliche Studien, [576] besonders für Mineralogie, welche C. durchs Leben begleitete, ist auf die Anregungen des Vaters zurückzuführen. Nachdem er seit 1812 auf dem Gymnasium zu Gotha weiter ausgebildet worden war, bezog er 1817 die Universität Jena, welche er aber noch in demselben Jahre verließ, um seine Studien in Breslau fortzusetzen. Hier ward er besonders Augusti’s Schüler, von diesem selbst als einer der vorzüglichsten bezeichnet. Seine Privatstudien waren in dieser Zeit vorzugsweise auf die morgenländischen Sprachen und die Kirchenväter gerichtet. Nach Ablauf der Universitätsjahre trieb ihn ein tief innerlicher Drang seines wahrhaft frommen Gemüthes und eine edle Begeisterung für die hohe und universelle Aufgabe der christlichen Kirche dazu an sich im J. 1821 der Mission für Ostindien zur Verfügung zu stellen. Indessen die bestimmten dogmatischen Anforderungen, welche man an ihn stellte, hinderten die Ausführung dieses Entschlusses. Infolge dessen nahm er noch in demselben Jahre eine Hauslehrerstelle in Göttingen an, in welcher er einige Jahre zubrachte, die er zugleich auf das trefflichste für seine eigene Ausbildung zu nutzen verstand. Eine ähnliche Stellung, die ihn in Verbindung mit der höheren Aristokratie guter und schlechter Gattung brachte, bekleidete er eine Zeitlang in Hannover. Im J. 1827 erwarb er sich zu Jena auf Grund seiner Abhandlung „De prophetarum minorum versionis Syriacae quam Peschita dicunt indole“ die philosophische Doctorwürde. Diese Dissertation zeigte bereits die Gründlichkeit und strenge Methode der Forschung, welche alle späteren Arbeiten Credner’s kennzeichnet. Der erste Theil derselben handelt von den kritischen Hülfsmitteln zur Feststellung des syrischen Textes der Bibel, nämlich von den Handschriften und Ausgaben desselben, sowie insonderheit von den Citaten bei Ephraem Syrus. Hierbei werden über des letzteren Kenntniß des Hebräischen und des Griechischen und über sein Verhältniß zum alttestamentlichen Grundtexte wie zu dem Texte der LXX[WS 1] eingehende Untersuchungen angestellt, deren wesentlichste Resultate auch die neuere Forschung bestätigt hat (vgl. hinsichtlich des hebräischen Textes namentlich Gerson, Die Commentarien des Ephr. Syrus im Verhältniß zur jüdischen Exegese in Frankel’s Monatschr. f. Gesch. u. Wissensch. des Judenthums 1868, besonders S. 147 mit Credner’s Abhandlung S. 47; in Bezug auf Credner’s Ansicht, daß Ephraem einige Kenntniß des Griechischen besaß, aber seine Citate der LXX nicht aus diesen selbst, sondern aus mündlicher Ueberlieferung oder syrischen Randglossen schöpfe, vgl. Rödiger, Herzog’s Realencyklopädie f. protest. Theologie IV, 91). – Im zweiten Theil der besprochenen Schrift werden die einzelnen Stellen des Propheten Hosea, welche sich bei Ephraem finden, zusammengestellt und auf Grund dieser Citate Emendationen des syrischen Textes vorgenommen. Daran schließen sich dann allgemeine Erörterungen des Verhältnisses der Peschita zum hebräischen Text, der Uebersetzungsweise der ersteren und ihres Verhältnisses zu den LXX.

Im J. 1828 habilitirte sich C. mit der Abhandlung „De librorum N. T. inspiratione quid statuerint christiani ante saeculum tertium medium“ als Privatdocent der Theologie zu Jena und stellte in dieser Schrift gewissermaßen ein Programm auf der wissenschaftlichen Hauptarbeit, welche sich über sein ganzes Leben hinaus erstrecken, ja ihren formellen Abschluß erst nach seinem Tode durch andere Hand erhalten sollte.

Die mit Frische und vor zahlreicher[WS 2] Zuhörerschaft begonnenen Vorlesungen mußten infolge eines unglücklichen Falles, den C. auf einer im Herbst 1828 unternommenen Harzreise that, auf einige Zeit unterbrochen werden. Doch nachdem er in einigen Bädern Heilung gefunden, trat er im Herbst 1829 seinen akademischen Beruf aufs neue an. Die Erfolge, welche er in demselben alsbald errang, verschafften ihm 1830 eine außerordentliche Professur. In dieser Zeit [577] erschien von ihm in Winer’s Zeitschr. für wissensch. Theol. I. 211. 277 eine Abhandlung über „Essäer und Ebioniten und einen theilweisen Zusammenhang derselben“, in welcher er unter anderm auch essäische Lehren in den clementinischen Homilien nachwies und überhaupt eine Vermischung des Essäismus mit dem Judenchristenthum aufzeigte (dagegen Schliemann, Clementinen 1844. S. 527, doch vgl. Gieseler, Kirchengesch. I. 1. S. 133). – Von hervorragender Bedeutung aber war die gleichfalls in dieser Zeit erscheinende musterhafte exegetische Monographie über Joel. („Der Prophet Joel übersetzt und erklärt.“ 1831.) Die Arbeit ist wegen der Solidität ihrer Grundlagen von bleibendem Werth. Nachdem Schritt für Schritt auf das sorgfältigste der Text geprüft und gesichert ist, wird derselbe Wort für Wort in sich selbst und in seinem Verhältniß zu den Uebersetzungen durchgegangen. Ist so der Wortlaut festgestellt, so wird auf das genaueste der Sinn des Wortes sprachlich erläutert, was zu den werthvollsten Untersuchungen über den alttestamentlichen Sprachgebrauch Veranlassung gibt. – Da bekanntermaßen die ganze Weissagung Joel’s ihren Ausgangspunkt von einer gewaltigen Heuschreckenplage nimmt, deren Schilderung schon für sich allein beinahe zwei Capitel des prophetischen Buchs ausfüllt, so hielt C. mit Recht dafür, daß von der richtigen Erklärung gerade dieses Theils das Verständniß des Ganzen abhängig sei. Er stellte deshalb eine erschöpfende Untersuchung an über die Heuschrecken, sowol über die verschiedenen Namen derselben als über alles, was von diesen Thieren im A. T. ausgesagt wird, und beleuchtete dies durch ein fast vollständiges Material alles dessen, was in alter und neuer Zeit hierüber berichtet wird. Diese Untersuchung S. 261–313 bildet alsdann die Grundlage, auf welcher die eingehende Erklärung der betreffenden Capitel des Joel sich bewegt. Unwiderleglich geht aus derselben hervor, was außerdem noch zusammenfassend die Einleitung S. 15 ff. darthut, daß die allegorische Erklärung der Heuschreckenplage ganz unhaltbar ist und daß auch die Schilderung des anrückenden Heeres nicht auf ein wirkliches Kriegsheer, sondern auf die Heuschrecken sich bezieht. – Ebenso hat C. in ihren Grundzügen die richtigste Ansicht von der Abfassungszeit des Joel aufgestellt (S. 38 ff.) und namentlich den sehr gelungenen Nachweis geliefert, daß Joel lange vor Amos geschrieben habe und von diesem vielfach berücksichtigt worden sei, wie er denn überhaupt zuerst die Einwirkung Joel’s auf die gesammte spätere prophetische Litteratur in deutlicher Weise dargelegt hat (S. 52 ff.). – So kann man ohne Uebertreibung sagen, daß die wissenschaftliche Auslegung dieses Propheten im wesentlichen auf Credner’s Forschung ruht. Mag im einzelnen manches verbessert sein, wie in der Theilung der Hauptabschnitte (bei c. 2, 18 statt bei c. 3, 1 Ewald, Göttinger gel. Anz. 1831. Bd. 3. S. 1916 ff. und Propheten I, 89) oder hinsichtlich des Erweises des volksrednerischen Charakters dieser Prophetien (Ewald a. a. O. S. 1917) – dem Ertrage des Ganzen gegenüber erscheinen diese Ausstellungen von untergeordneter Bedeutung.

Das Aufsehen, welches diese Leistungen erregten, verschaffte C. am 1. Dec. 1831 eine Berufung nach Gießen, wohin er im April 1832 übersiedelte, nachdem er soeben mit einer Tochter des Historikers Luden sich ehelich verbunden hatte. – Die Zustände in Gießen waren in hohem Grade reformbedürftig. Schlendrian herrschte unter den Professoren, unwissenschaftlicher bisweilen roher Ton unter den Studirenden. C. begab sich mit Eifer an das Werk, dem nur eine staunenswerthe Arbeitskraft genügen konnte. Wiederbelebung der guten alten Statuten der Universität, Betheiligung an den Verwaltungsgeschäften, Neuordnung der Bibliothek, Einrichtung eines Universitätsgottesdienstes, Regelung des Collegienbesuchs, Begründung eines wissenschaftlich-theologischen Seminars – alles dies [578] ward fast zugleich in Angriff genommen und daneben mußte C. fast alle theologischen Disciplinen vertreten. Er las Kirchengeschichte, Exegese fast aller neutestamentlicher Schriften und als ganz neuen Zweig: Einleitung in das N. T., dazu kamen während mehrerer Jahre noch die alttestamentlichen Vorlesungen. Aber die oft gemachte Erfahrung, daß man je mehr man pflichtmäßig zu thun hat, desto mehr noch freiwillig dazu thut, bestätigt sich auch hier. Es ist erstaunlich, daß C. neben alle diesem seit 1832 auch noch eine seltene wissenschaftliche Production leistete. Es erschienen zunächst: „Beiträge zur Einleitung in die biblischen Schriften“, 1. Bd. 1832. – C. ging in dieser Schrift von der Beantwortung der Frage aus, welches die ältesten Formen der evangelischen Verkündigung nach den uns erhaltenen Spuren in der alten Kirche gewesen seien. Indem er das Evangelium betrachtete, wie es Paulus predigte und wie es bei den apostolischen Vätern erscheint, ergibt sich ihm, daß in der ältesten Zeit die mündliche Ueberlieferung das Uebergewicht gehabt habe über die schriftliche. Erst allmählich erscheinen in der kirchlichen Litteratur neutestamentliche Schriftcitate und auch diese zunächst nur von Stellen paulinischer Briefe. Noch später bilden sich schriftliche Evangelien und auch diese zuerst in sehr schwankendem Zustande und in keiner Weise als göttlich beglaubigte Lehrschriften. Daß dies der Stand der Dinge im 2. Jahrhundert nach Christo war, zeigen die Sectenbildungen und der Kampf mit denselben, in welchem es keinen Canon gibt, auf welchen man verweisen könnte. Aber diese Zustände rufen in der Kirche die Fixirung der evangelischen Ueberlieferung hervor, anfänglich ist die Berufung auf die letztere ganz allgemein wie im Brief an den Diognet, dann erwähnt man γραφαί κυριακαί, bei Theophilos von Antiochien finden sich schon einzelnes apostolische Schriften namentlich bezeichnet, Irenäus hat vier Evangelien, dem Tertullian ist die schriftliche Ueberlieferung die sichere im Gegensatz zur mündlichen. Eine Auswahl der Schriften bildet sich, die im Canon des Eusebius hervortritt. Von besonderer Wichtigkeit ist für diese Frage Justinus, der deshalb von C. der gründlichsten Untersuchung unterzogen wird, indem er die sämmtlichen Citate des N. T.’s bei Justin zusammenstellt und mit dem recipirten Text vergleicht (man beachte die Aehnlichkeit der Methode mit der obigen Untersuchung über Ephraem Syrus). Das Resultat dieser Kritik für Justin ist folgendes: Justin kannte unsere Evangelien, bediente sich aber gleichwol eines von den unsern verschiedenen Evangeliums, welches dem des Matthäus am nächsten kommt, aber ausführlicher als dieses ist. Die Consonanz mit den clementinischen Homilien, das Schweigen über Paulus verrathen uns Justin’s Christenthum und Evangelium als ein petrinisch-judenchristliches. – Hieran schließen sich allgemeine Untersuchungen über die Evangelien der Judenchristen, Zusammenstellung der erhaltenen Bruchstücke und eine vergleichende Uebersicht des Verhältnisses derselben zu unseren Evangelien. – Daneben steht das κίρυγμα Πέτρου als das Erzeugniß einer vermittelnden ebionitischen Partei, welche der Predigt des Paulus nicht feindlich entgegenstand und sich allmählich mit der großen katholischen Partei verschmolz, die sich bildete. Ein eigentliches εὐαγγέλιον καθ᾿ Ἑβραίους wie die Kirchenväter es nennen, gab es nicht, die letzteren führen auf dasselbe nur die Stellen zurück, die mit ihren Evangelien nicht stimmten.

Der zweite Band dieser Schrift, betitelt: „Das alttestamentliche Urevangelium“. Halle 1838 gibt zunächst kritische Uebersichten: 1) über die Pentateuchcitate im Evang. Matth. und bei Justinus Martyr, 2) über die Psalmencitate und 3) über die Prophetencitate daselbst. Diese Zusammenstellung ergab nach C., daß Matthäus und Justin die LXX zu Grunde legen, dieselbe aber nach dem Hebräischen in vorzugsweise messianischen Stellen berichtigen (?). Ergänzend trat diesen Untersuchungen zur Seite die „Einleitung in das Neue Testament“, [579] welches Werk seiner allgemeinen Anlage nach ein die ganze Disciplin in wissenschaftlicher Weise umfassendes werden sollte. In den in der ersten Abtheilung des 1. Theiles S. 4 gezeichneten Grundlinien bahnte C. zuerst jene neue Organisation der Einleitungswissenschaft an, welche seitdem besonders durch Reuß’ vollendete Durchführung die herrschende geblieben ist. Es sollte nach dem a. a. O. angegebenen Plane im ersten Theil eine geschichtliche Uebersicht über die Entwicklung der Einleitungswissenschaft gegeben werden. Darauf sollte 2) die Entstehung der neutestamentlichen Schriften im Einzelnen beschrieben werden. Hieran sollte sich 3) die Geschichte der Sammlung oder des Canons, 4) die Geschichte der Ausbreitung oder der Uebersetzungen, 5) die Geschichte der Erhaltung oder des Textes und 6) die Geschichte des Verständnisses oder der Auslegung anschließen. – Die vollständige Ausführung dieses großen Entwurfs sollte C. nicht mehr erleben. Wir besitzen von seiner Hand nur die Ausarbeitung der drei ersten Theile desselben und zwar enthält „Die Einleitung in das N. T.“, 1. Theil, 1. u. 2. Abtheilung, 1836 nur die geschichtliche Uebersicht und die sogenannte specielle Einleitung nach der herkömmlichen Reihenfolge der biblischen Schriften des N. T’s. Von dem Reichthum und der sorgfältigen Sichtung des Materials in diesem oft geplünderten Thesaurus der neutestamentlichen Einleitungswissenschaft (vgl. namentlich Neudecker, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung mit Belegen aus den Quellenschriften und Citaten aus der älteren und neueren Litteratur, 1840) auch nur annähernd eine Vorstellung zu geben, ist bei der Menge der Gegenstände, auf welche sich die Untersuchung richtet, in den Grenzen des hier verstatteten Raumes unmöglich. (S. die Recension in Rheinwald’s theolog. Repertorium, Bd. 31. Heft 1.)

Wir begnügen uns daher, von der eigenthümlichsten und bedeutendsten Leistung Credner’s, die in der nach seinem Tode von Volkmar herausgegebenen „Geschichte des neutestamentlichen Canons“, 1860 vorliegt, eine zusammenfassende Darstellung zu geben. Der Grundcharakter dieses Werkes kann nicht richtiger bezeichnet werden als es von Volkmar in der Vorrede geschieht. C. ist in demselben der „Hauptbegründer einer nicht katholisch-befangenen Erforschung des neutestamentlichen Canons.“ Von entscheidender Wichtigkeit für das ganze Buch ist die gleich im Anfange gegebene reinliche Abgrenzung der Aufgabe, nach welcher wir es hier nicht mit den einzelnen Büchern an sich, sondern nur mit dem Keim und der Entwicklung einer Sammlung derselben zu thun haben. Dem entsprechend richtet sich die Untersuchung zunächst auf die ersten Spuren des Daseins einer solchen, welche sich bei Justin finden und auf 10 paulinische Briefe und die sogenannte Predigt des Petrus führen, welche der Ausdruck einer freieren dem Paulinismus sich annähernden judenchristlichen Richtung ist. Demnächst begegnen uns Spuren des Evangeliums Lucae bei Marcion und des Ev. Marci beim Presbyter Johannes, außerdem auch einzelne Zeugnisse für die Apokalypse und den Hebräerbrief. – Erst nach Mitte des zweiten Jahrhunderts kommt es in der katholischen Kirche zu einer Sammlung der vier Evangelien und der apostolischen Schriften, die das N. T. genannt wird. Die Lehre Jesu hatte sich erweitert zu der Lehre der Apostel, deren Schriften man sammelte, um durch sie das ältere Judenchristenthum zu überwinden. Dieses faßte das Christenthum vorzugsweise als Vollendung des Judenthums und suchte strenge Aufrechthaltung des Gesetzes mit christlichem Universalismus zu vereinigen, eine Tendenz, welche besonders im Hirten des Hermas und in den Pseudoclementinischen Homilien hervortritt. Der Paulinismus dagegen, dem Christus Welterlöser ist und der an allgemeiner Bekehrung der Völker arbeitete, suchte seine Ausgleichung mit dem Judaismus im Evangelio Johannis, im Brief des Clemens, der die [580] beiden großen Apostel Paulus und Petrus einander gleichstellt, und nach der Seite der Lehre im Briefe an den Diognet. Es bildet sich die Einheit der katholischen Kirche, die zunächst in Rom aus Heiden- und Judenchristen sich herstellte und für deren Verbreitung die Apostelgeschichte, die Pastoralbriefe, der zweite Petribrief und das κήρυγμα Πέτρου wirkten. Sie war die Rettung vor der nach Auflösung der Urgemeinde zu Jerusalem drohenden Spaltung des Christenthums in vielerlei Secten und sie bedurfte wieder als des zusammenfassenden Bandes des ursprünglich Apostolischen, auf welches man überall zurückzugehen strebte. Man sammelte analog den Bestandtheilen des A. T.’s (Gesetz und Propheten) Evangelium und apostolische Briefe. Da es wenig gesicherte apostolische Schriften gab, mußte man diesen Begriff weiter fassen und auf alles ausdehnen, was in den apostolischen Gemeinden für apostolisch gehalten ward. In Folge dessen bildeten sich drei Classen von Schriften: 1) die allgemein angenommenen, 2) allgemein verworfenen, 3) von einigen angenommenen, von anderen verworfenen Schriften. – Danach ist der Bestand der Sammlung öfters verschieden bestimmt worden: 1) durchweg feststehend waren: a. 4 Evangelien, b. 13 paulinische Briefe mit Einschluß der Pastoralbriefe, aber mit Uebergehung des Hebräerbriefs, c. die Apokalypse; 2) schwankend: 7 katholische Briefe; 3) im ältesten Canon verworfen: der Hebräerbrief. – Unter Apokryphen verstand man in dieser Periode die in der Kirche geltungslosen Schriften, womit also über Echtheit oder Unechtheit gar nichts entschieden war. – Ueber einige dieser Schriften war in Bezug auf kirchliche Geltung das Urtheil noch schwankend so über den Hirten des Hermas, den Brief des Clemens an die Corinther u. a. Doch strebte man nach einer festen Norm, als welche anfangs die regula fidei galt. Die vereinigten Schriften beginnt man für inspirirt zu halten, ihr Verständniß vom usus ecclesiae abhängig zu machen.

Soweit das 1. Buch des Werkes; das 2. betrachtet die ältesten kirchlichen Verzeichnisse des N. T.’s, zunächst den Muretori’schen Canon, dessen Text gesichert wird. In diesem finden sich 4 Evangelien, die Apostelgeschichte, Briefe an 7 Gemeinden, an 4 Freunde, im ganzen 13 paulinische Briefe, nicht paulinisch gilt der Hebräerbrief; unter den katholischen Briefen fehlen der Brief des Jacobus und beide Petribriefe, dagegen sind der Judasbrief und 2 Johannesbriefe da. Die Apokalypse des Johannes wird erwähnt, aber auch eine des Petrus, polemisirt wird gegen den Hirten des Hermas. Der Canon des Tertullian hat 4 Evangelien, die Apostelgeschichte, 13 paulinische, aber keine katholische Briefe, der Canon der afrikanisch-römischen Kirche ist tolerant gegen den Hebräerbrief und schwankt über die katholischen Briefe. Demnach ergibt sich als Resultat über den Canon der abendländischen Kirche die Geltung von 4 Evangelien, der Apostelgeschichte, 13 paulinischer Briefe und der Apokalypse. Nirgends zeigen sich die 7 katholischen Briefe bis Ende des 4. Jahrhunderts in gleichmäßigem Gebrauch. – Im 3. Buch wird der Canon der morgenländischen Kirche behandelt. Hier herrscht der Grundsatz der alexandrinischen Theologie, daß die geistige (nicht die äußerliche) Abstammung von den Aposteln entscheide. Demnach wird der Hebräerbrief aufgenommen, dagegen die Apokalypse verdächtigt. Es gibt also 14 paulinische Briefe und keine Apokalypse, über die katholischen Briefe ist Schwanken. Doch zählt Origenes als kirchlich feststehend auf: 4 Evangelien, Apostelgeschichte, 13 paulinische Briefe, 1 Petri, 1 Joh. und Apokalypse, dazu Hebräerbrief, andere Schriften enthalten nach ihm Echtes und Unechtes μίκτά) oder sind ganz unecht (νόθα). Der Canon blieb in dieser Hinsicht schwankend bis Eusebius ihn feststellte. Das allgemein Anerkannte sollte darin Aufnahme finden und er enthält alle jetzigen Schriften des N. T.’s mit Ausnahme der Apokalypse. So auch das Concil von Laodicea. Gegen den Ausschluß der [581] Apokalypse aber sprach sich Athanasius aus, es entstanden wieder abweichende Verzeichnisse und neue Verwirrung riß ein.

Das 1. ökumenische Concil suchte abzuhelfen, brachte aber auch über die Apokalypse keine Entscheidung und so bleibt schließlich in der griechischen Kirche über die Frage, was ist der Canon, die abschließende Antwort aus. – In der abendländischen Kirche, der das 4. Buch sich zuwendet, gestattete man nie den Ausschluß der Apokalypse; die Entwicklung bewegte sich hier nur um den Hebräerbrief und die katholischen Briefe. Ueberhaupt war der abendländischen Kirche wichtiger als die Sicherung des Canons selber die Sicherung des Grundsatzes, daß die Bestimmung des Canons von der Kirche abhange. Die Synoden der afrikanischen Kirche (393. 397) setzten unter Augustinus’ Leitung: 4 Evangelien, Apostelgeschichte, 13 paulinische Briefe, dazu 1 Brief an die Hebräer, 2 Briefe Petri, 2 Briefe Johannis, 1 Brief Jacobi, 1 Brief Judä und die Apokalypse fest. – Von Rom aus war im 5. Jahrhundert noch nichts über den Canon angeordnet worden, auch das decretum Gelasii zeigte noch Verwirrung. – Hier bricht Credner’s Arbeit ab, die weitere Geschichte des Canon in der abendländischen Kirche des Mittelalters und in den Kirchen der Reformation gibt Volkmar, der auch die vorstehenden Untersuchungen, namentlich in Bezug auf die Differenz der Reihenfolge der einzelnen neutestamentlichen Schriften, besonders der apostolischen Briefe in den verschiedenen Aufstellungen des Canon weiter fortführte (S. 341–416). Die Besprechung dieser Arbeiten liegt indeß außerhalb unserer Aufgabe. – Für weitere Kreise hat C. seine wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiete zugänglich zu machen gesucht in seinem Buche: „Das Neue Testament nach Zweck, Ursprung und Inhalt für denkende Leser der Bibel“, Bd. 1. 1841; Bd. 2. 1847, in welchem auch dem Laien der Zusammenhang der Geschichte der Kirche mit der Entwicklung der biblischen Schriften in ansprechender Weise klar gemacht wird. (Vgl. darüber Allgem. Litt. Zeitung. 1841, Ergänzungsblatt Nr. 85. 86. – Rheinwald’s Repertorium, Bd. 36. Heft 1. S. 1 ff. – Zeller, Theolog. Jahrb., Bd. 3 [1844] Heft 2. S. 346 ff.)

Die wissenschaftliche Leistung Credner’s aber, so bedeutend sie ist, war doch nicht das einzige Verdienst, welches er sich um Förderung der geistigen und sittlichen Entwicklung des Vaterlandes erworben hat. Vielmehr führte er noch außerdem einen heroischen Kampf gegen jenen furchtbaren Gegner, der seit Jahrhunderten unermüdlich immer wieder aufs neue deutsche Religiosität, Sittlichkeit und Wissenschaft zu vernichten und jedes höhere Leben unserer Nation politisch wie geistig immer wieder zu ersticken trachtet. Der römische Jesuitismus hatte bekanntlich seit den dreißiger Jahren besonders die kleinen deutschen Territorien zu Brutstätten auserkoren. So ward auch in Gießen eine ultramontane Festung errichtet. Die Regierung gab dem Freiherrn Dr. Joh.[1] Tim. Balth. v. Linde in dem Amte eines Universitätskanzlers und Ministerialraths die größte Macht in allen Angelegenheiten der Universität in die Hand, welche von demselben zur Umgestaltung der Universität im römischen Interesse benutzt wurde. Zunächst in äußerlicher Beziehung, insofern die wohlthätigen Stiftungen der Universität wider das Recht auch den Katholiken zugänglich gemacht wurden, dann sollten Unterrichts- und Studienplan im Sinne jesuitischer Dressur umgeformt werden. Auf diesem Wege war nun C. ein lästiges Hinderniß. Wie aber ihm beikommen? Als wissenschaftliche Größe diese Zierde der Universität herabzusetzen war unmöglich, seine Moralität war von fleckenloser Reinheit, ein Versuch, ihn bei der rectoralen Amtsführung zu fassen (1839) und ihm disciplinare Tumulte der Studirenden zur Last zu legen, schlug fehl. – Aber ging es nicht, den wissenschaftlichen Forscher bei der gläubigen Gemeinde als Irrlehrer zu denunciren? War nicht dies Recept von der Hengstenberg’schen Evangelischen Kirchenzeitung [582] so oft mit Erfolg angewandt worden? – Das war ein glücklicher Gedanke! Credner’s Schriften wurden durchstöbert, ein Artikel in den Heidelberger Jahrb. 1844, „Kirchliche Zustände“ betitelt, ward hervorgezogen und in einer Schrift: „Staatskirche, Gewissenhaftigkeit etc.“ von Linde der Beweis versucht, daß C. keine Berechtigung zu einem Lehramte in der evangelischen Kirche habe. Einzelne protestantische Orthodoxen (Huber und Reich) ließen sich an diesem ultramontanen Köder fangen. Der Streit bewegte sich in der Folge vorzugsweise um Credner’s Schrift: „Die Berechtigung der protestantischen Kirche Deutschlands zum Fortschritt auf dem Grunde der heiligen Schrift“ und drehte sich namentlich um die Frage, ob in Deutschland staatsrechtlich nur die bestimmt formulirten Confessionen oder jede aus dem Boden der Schrift erwachsende und ihre Norm ertragende religiöse Richtung Berechtigung habe. Heftige Schriften wurden gewechselt. Von Credner’s Seite sind hervorzuheben: „Beleuchtung der dem Herrn Kanzler von Linde abgenöthigten Schrift die Berechtigung etc. Betrachtung der Schrift des Herrn Dr. Credner“. 1846. [„Römische Waffen im deutschen Streit“. I. Mannheim 1846. II. 1847.] „Asterisken oder Sternchen zum 2. und 3. Heft der Berichtigung confessioneller Mißverständnisse von Herrn v. Linde“, 1847. Der Streit handelte sich im innersten Grunde um ein Princip, nämlich um den Widerstand gegen die versuchte Neukatholisirung Deutschlands, aber da er mit einem persönlichen Angriff auf C. begonnen war, so mußte auch die Abwehr naturgemäß viel Persönliches einmischen. Daß C. vielleicht in einzelnen Beziehungen hier zu weit ging – obwol wahrlich nicht weiter als sein ultramontaner Gegner – kann unbedenklich zugegeben werden, jedenfalls aber war es nöthig, Fälschungen aufzudecken, Entstellungen zu beseitigen, Verdächtigungen abzuwehren und die Polemik mußte um deswillen unter allen Umständen mit einer gewissen Erbarmungslosigkeit geführt werden, weil nur durch moralische Vernichtung des Gegners das gewaltige Gericht der öffentlichen Meinung herbeigeführt und die connivirende Regierung zum Aufgeben des Mannes und zur Einsicht in die drohende Gefahr gebracht werden konnte. Wie groß die letztere war, zeigt ein Blick in Linde’s urkundliche Aeußerungen, Asterisken Vorwort S. III, wie viel größer die Verblendung der Regierung bewies die fortgesetzte Freiheit, welche dieselbe dem Bischof v. Kettler in Mainz gewährte. Leider bewirkte die große Unreife, die in der Bewegung von 1848 auf politischem wie auf kirchlichem Gebiete zu Tage trat, daß die Staaten den vermeintlichen Stützen des Jesuitismus sich immer mehr hingaben. Auch in Hessen hatte eine kirchliche Volksversammlung zu Darmstadt das Möglichste an verkehrten Projecten zum Neubau der Kirche zu Tage gefördert. C., dem diese von ihm geleitete Versammlung über den Kopf gewachsen war, suchte auf dem Wege der Schrift die Bewegung wieder in das rechte Gleis zurückzuführen. Er veröffentlichte 1852 Philipps des Großmüthigen Hessische Kirchenreformationsordnung. Auf Grund der Beschlüsse der Homburger Synodalversammlung von 1526 stellte er als kirchliches Recht für Hessen auf: das normative Ansehen der heiligen Schrift, neben welcher kirchliche Symbole nur als Zeugniß des Glaubens der Vergangenheit Geltung haben. – Der letztere Zusatz erregte den heftigsten Widerspruch einer sich damals bildenden neulutherischen Partei. Es blieb nicht beim litterarischen Streit, in welchem C. die alte Ueberlegenheit zeigte, es folgten Agitationen in den Volksmassen, deren Kampfesweise in der Biographie Credner’s, welche in der Protestantischen Kirchenzeitung, Jahrg. 1858, Nr. 44 sich findet, geschildert ist (S. 1041 f. im Separatabdruck, Berlin 1858 S 14 ff.).

Diese Kämpfe, hergehend neben der angespanntesten wissenschaftlichen und lehrenden Thätigkeit, mußten die Lebenskraft auch des festesten Organismus untergraben. Schon 1854 zeigten sich Abnahme des Gedächtnisses und der Sprachfähigkeit. [583] Doch setzte C. seine Vorlesungen fort bis im Sommer 1855 eine Unterbrechung nöthig ward. Eine Badereise nach Boppard im Herbst desselben Jahres war vergeblich. 1856 traten die Fortschritte der Krankheit immer bedenklicher hervor, bis 1857 nach langem Leiden ein sanfter Tod ihn dahin nahm. Die Erscheinung Credner’s wird von dem obenerwähnten Darsteller, dem der biographische Theil dieses Artikels im wesentlichen entnommen ist (Protestantische Kirchenzeitung S. 1043) folgendermaßen geschildert: „C. war eine starke markige Gestalt mittlerer Größe. Etwas derbe Gesichtszüge, eine hohe Stirn, ein feuriges braunes Auge sprachen ebensowol Geist als Kraft aus. Und Geist und Kraft waren ihm in der That in hohem Grade eigen. Das zeigte sich fast in jeder Vorlesung, welche er hielt. Seine Stimme war gerade nicht klangvoll, jedoch männlich; sein Vortrag hatte stets anfangs etwas Langsames, Schweres, aber wenn das Gewicht der Sache sich geltend machte, wenn der Gegenstand anzog, dann hob sich die Stimme, das Auge strahlte, der Mund wurde beredt und die Rede zwang mit kräftigem Behagen die Herzen der Hörer.“ Aus Credner’s Charaktereigenschaften verdienen die Wahrheitsliebe und der Muth der eigenen Ueberzeugung einer besonderen Hervorhebung; daß auch andere schöne Züge demselben eigen waren, zeigt die Biogr. Skizze, Berlin 1858. S. 17 ff. Ihn gegen abgeschmackte Vorwürfe, welche die Unwissenheit oder Bosheit aufgebracht, vertheidigen zu wollen, wäre an diesem Orte Zeitverschwendung.

Das Wort Luther’s, welches C. selbst als Motto auf den Titel seiner Einleitung in das N. T. setzte, drückt am besten des Mannes ganzes Wesen und Streben aus: „Studio et amore elucidandae veritatis in nomine Domini nostro Jesu Christi“.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 581. Z. 14 v. u. l.: Justin statt Joh. [Bd. 33, S. 795]


Anmerkungen (Wikisource)

  1. LXX = Septuaginta, die altgriechische Übersetzung der hebräischen heiligen Schriften, der Hebräischen Bibel und die älteste durchgehende Bibelübersetzung
  2. Vorlage: zahreicher