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Artikel „Gieseler, Johann Karl Ludwig“ von Julius August Wagenmann in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 9 (1879), S. 163–166, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Gieseler,_Karl&oldid=- (Version vom 9. Oktober 2024, 00:45 Uhr UTC)
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Gieseler: Johann Karl Ludwig G., protestantischer Theolog und Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts, geb. den 3. März 1792 (nicht 1793, wie Redepenning, Herzog, Lipsius u. A. angeben, sondern 1792, wie er selbst im Göttinger Facultätsbuch eingezeichnet hat)[1] zu Petershagen bei Minden, † am 8. Juli 1854 in Göttingen. – Er stammte aus einer alten lutherischen Predigerfamilie Westfalens; sein Großvater Johann Arend G. war Prediger zu Lahde im Fürstenthum Minden gewesen, ein streng orthodoxer, zugleich aber vom Geist A. H. Francke’s berührter Mann; der Vater Georg Christof Friedrich G., geb. 1760, Prediger zu Petershagen, später zu Werther bei Bielefeld, war ein Theolog aus der Halle’schen Schule, aber wegen Schwerhörigkeit überwiegend Autodidakt, ein Mann von originellen theologischen Anschauungen, aber auch großer praktischer [164] Rührigkeit als Pastor, Pädagog, Patriot, Schriftsteller (vgl. H. Döring in der Allg. Encykl. Bd. 67 und N. Nekrolog der D. Jahrg. XVII), der insbesondere auch seine Kinder frühe zur Selbständigkeit des Denkens und Handelns zu gewöhnen suchte. – Als ältestes Kind unter einem zahlreichen Geschwisterkreise genoß G. zuerst den Unterricht seines Vaters und Großvaters, kam dann aber frühe auf die lateinische Schule des Waisenhauses zu Halle, wo besonders Kanzler Niemeyer ihm seine Theilnahme und Fürsorge zuwandte. Dieser war es auch, der ihm nach Vollendung seiner theologischen Studien in Halle 1812 eine Lehrerstelle an den Francke’schen Anstalten, als Collaborator an der lateinischen Schule und Oberlehrer an der Pensionsanstalt, verschaffte. Aber schon 1813 folgte G. dem Ruf des Vaterlandes und trat als freiwilliger Jäger in die Reihen der Freiheitskämpfer. Nach dem Friedensschluß 1815 trat er in sein Lehramt in Halle zurück, erwarb 1817 den philosophischen Doctorgrad, wurde Conrector am Gymnasium in Minden, 1818 Director des Gymnasiums zu Cleve, folgte aber schon 1819 einem Ruf an die neu errichtete Universität Bonn als Doctor und ordentlicher Professor der Theologie. Hatte er diesen Ruf einer epochemachenden Arbeit auf dem Gebiet der biblischen Kritik zu verdanken (seinem historisch-kritischen Versuch über die Entstehung der Evangelien 1818), so führte ihn jetzt erst sein akademischer Lehrberuf in dasjenige Gebiet ein, auf dem er bald die anerkannte Meisterschaft erringen sollte, das der Kirchengeschichte. Und so folgte er denn auch bald, nach zwölfjähriger Lehrthätigkeit in Bonn, im J. 1831 einem Ruf an diejenige Universität, die seit ihrer Gründung die historischen und kirchenhistorischen Studien vorzugsweise gepflegt hatte, nach Göttingen, wo er als Nachfolger J. G. Planck’s zu Ostern 1831 eintrat und von da an 23 Jahre lang als ordentlicher Professor der Theologie (seit 1837 mit dem Titel Consistorialrath) mit unermüdlicher Treue und vielseitiger Tüchtigkeit bis zu seinem Tode gewirkt hat. – Seine Vorlesungen umfaßten Kirchengeschichte, Dogmengeschichte und Dogmatik; die von ihm geleitete theologische Societät beschäftigte sich gleichfalls vorzugsweise mit historischer Theologie, wie auch seine fruchtbare litterarische Thätigkeit, wenigstens während seiner Göttinger Zeit, fast ausschließlich auf diesem Gebiet sich bewegte. Dabei aber war G., hierin der ächte Sohn seines Vaters wie seiner westfälischen Heimath, nichts weniger als ein bloßer Stubengelehrter und Bücherschreiber, sondern begabt und geschickt zu den verschiedenartigsten praktischen Geschäften, ein treuer Arbeiter, erfahrener Rathgeber, umsichtiger und gewandter Geschäftsmann in den verschiedenartigsten Beziehungen des akademischen wie des öffentlichen Lebens. Als Facultätsmitglied und oftmaliger Dekan, als mehrmaliger Prorector der Universität, als Theilnehmer an den verschiedenartigsten Commissionen, als Mitglied des theologischen Ephorats, der Kirchendeputation und Wittwenkassen-Verwaltung, der Bibliothek-Commission, Freitisch-Inspection, als Curator des Waisenhauses, Verwalter der Hugo’schen Schulstiftung und verschiedener Stipendien, als Mitglied der Societät der Wissenschaften und Curator der Wedekind’schen Stiftung, als Gründer eines Vereins für entlassene Strafgefangene, Mitglied des Bibel-, Missions-, Gustav-Adolf-, Gesangbuchs-Vereins, aber auch als Wortführer des Bürgervorsteher-Collegiums, als Maurer und Meister vom Stuhl in der Freimaurerloge, als Freund und Gesellschafter im Kreis der Collegen, endlich als Gatte und Vater einer überaus zahlreichen Kinderschaar (er hatte aus seinen zwei Ehen 24 Kinder) – in allen diesen Lebensstellungen bewahrte und bewährte er seine klare Verständigkeit, seine unermüdliche Arbeitskraft, seine vielseitige theoretische wie praktische Begabung und Erfahrung. Gesund an Körper und Geist wie wenige, auch äußerlich eine männlich kräftige Gestalt, unterlag er im 63. Lebensjahre einer mit großer Heftigkeit auftretenden, seine Kräfte schnell verzehrenden Unterleibsschwindsucht – tiefbetrauert von seiner Familie, von Stadt und Universität, [165] von einem zahlreichen Freundes- und Schülerkreis. – So vielfältig auch seine Begabung wie seine Wirksamkeit war, seine eigentliche Virtuosität und sein bleibendes Hauptverdienst liegt doch auf dem Gebiet der kirchenhistorischen Forschung, deren Ergebnisse er theils in einer großen Zahl von kirchen- und dogmenhistorischen Monographien, theils aber besonders in dem Hauptwerk seines Lebens, seinem in 5 Bänden oder 10 Abtheilungen, zum Theil in wiederholten Auflagen erschienenen Lehrbuch der Kirchengeschichte (Bonn, Marcus 1824–35, 8. nebst einem die Dogmengeschichte umfassenden Ergänzungsband) niedergelegt hat. Ein Verzeichniß der monographischen Arbeiten, der Programme und Abhandlungen in Zeitschriften, deren Resultate meist in das Hauptwerk verarbeitet sind, gibt (nach des Verfassers eigenen Angaben) Oesterley, Geschichte der Universität Göttingen, 1838, S. 410 ff. Die bedeutendsten derselben sind folgende: „Historisch-kritischer Versuch über die Entstehung der Evangelien“, zuerst 1816 in Keil und Tzschirner’s Analekten Bd. III, dann Leipzig 1818; eine Abhandlung „über Nazaräer und Ebioniten“, 1819; „Ueber den Reichstag zu Augsburg“, 1821; „Beurtheilung von Neander’s gnostischen Systemen“, 1823; „Comm. de Clementis Alex. et Origenis doctrina de corpore Christi“, 1837; verschiedene Beiträge zur altkirchlichen und mittelalterlichen Sectengeschichte, über die Monophysiten, Paulicianer, Petrus Siculus; „Visio Jesajae“; „Rückblick auf die theologischen Richtungen der letzten 50 Jahre“, 1837; „Ueber die Lehninische Weissagung“, 1849; „Ueber Hippolytus und die römische Kirche des dritten Jahrhunderts“, 1853; dann einige pseudonyme Schriften (unter dem Namen Irenaeus) über die Kölner Angelegenheit 1838; „Ueber Mission und Kirche“, 1841; Vorreden zu einer Schrift über die niederländische Kirche, 1840: zu Mäder’s Geschichte der protestantischen Kirche Frankreichs 1848 etc.; mit Lücke gab er 1823 ff. eine Zeitschrift für gebildete Christen, mit Jakobi, Fritsche u. A. eine Zeitschrift für evangelisches Christen- und Kirchenthum 1834 heraus, seit 1828 gehörte er zu den Mitherausgebern der theologischen Studien und Kritiken.

Gieseler’s theologischer Standpunkt läßt sich im Allgemeinen bezeichnen als historisch-kritischer Rationalismus: er hat deshalb, zumal in den letzten Jahren seines Lebens, manche Anfechtungen zu erleiden gehabt, theils von Seiten einer über ihn hinausgehenden kritisch-speculativen Richtung, mit deren neuen Constructionen des Urchristenthums er sich nicht einverstanden erklären konnte, theils aber besonders von Seiten eines verschärften und fanatischen Confessionalismus, besonders von Hengstenberg, der ihm seine intimen Beziehungen zum vulgären Rationalismus und maurerischen Humanismus zum Vorwurf machte. Er selbst hat, jeder persönlichen Polemik abgeneigt, gleich entfernt von oberflächlicher Aufklärung wie von mystischer Ueberschwenglichkeit, von hyperkritischem Radicalismus wie von bornirtem Orthodoxismus, gegenüber von allen extremen Richtungen die Freiheit seines kritisch-rationalen, und doch zugleich kirchlich wie politisch conservativen Standpunktes sich gewahrt und denselben in allen praktischen Fragen (in Bezug auf Union und Confession, Kirchenverfassung, Schulwesen und Universitätsangelegenheiten) wie in der theologischen Wissenschaft geltend gemacht. Insbesondere ist es dieser kritische Positivismus, der seine kirchen-historischen Arbeiten charakterisirt und ihn zu dem anerkannt ersten unter den Kirchenhistorikern des 19. Jahrhunderts, sein Lehrbuch zu dem „nützlichsten Werk der neueren Kirchengeschichtsschreibung“, zu einer Fundgrube kirchen-historischer Gelehrsamkeit, zu einem unübertroffenen Vorbild eines geschichtlichen Lehrbuchs gemacht hat. Des Historikers erste Aufgabe sieht G. darin, zu zeigen was geschehen ist; jedes Zeitalter aber könne nur dann richtig verstanden werden, wenn man es selbst sprechen höre. Daher will er mittelst umfassender und gründlicher Durchforschung des Quellenmaterials, mittelst eines ununterbrochenen und unparteiischen [166] Zeugenverhörs den geschichtlichen Thatbestand feststellen und denselben in einfacher, streng objectiver Form zur Darstellung bringen – in einem möglichst kurz und präcis gefaßten Text und fortlaufenden, gut gewählte Quellenauszüge und litterarische Nachweisungen bietenden Anmerkungen. Am meisten zeigt sich daher Gieseler’s Virtuosität gerade in den schwierigsten, durch Unkunde oder Parteilichkeit bisher verdunkelten Partien der Kirchengeschichte, z. B. in der Geschichte des Papstthums, Mönchthums, in der Geschichte der Sekten, der Lehrstreitigkeiten, während anderwärts z. B. in den dogmengeschichtlichen Abschnitten, in der Geschichte des Urchristenthums, bei der Würdigung großer historischer Persönlichkeiten eine gewisse Nüchternheit und Aeußerlichkeit, Mangel an tieferem Einblick in die Gesetze und Ziele der geschichtlichen und dogmatischen Entwicklung, eine gewisse kühle oder berechnete Zurückhaltung des eigenen Urtheils und Gefühls seiner Geschichtsdarstellung nicht ohne Grund zum Vorwurf gemacht worden ist. Immerhin also bedarf die objectiv kritische Geschichtsforschung Gieseler’s noch wesentlicher Ergänzungen und Fortbildungen, zumal da die aus Gieseler’s Nachlaß edirte Darstellung der letzten Jahrhunderte eine sehr dürftige, den früheren Bänden durchaus nicht ebenbürtige Gestalt zeigt. Aber innerhalb der ihm selbst gesteckten Grenzen seiner Begabung und Richtung hat G. der kirchlichen Geschichtsforschung ein Meisterwerk von unvergänglichem Werthe geliefert.

S. bes. Redepenning, Gieseler’s Leben und Wirken in dem aus seinem Nachlaß herausgegebenen Band V seiner Kirchengeschichte, Bonn 1855; Oesterley, Gesch. der Univ. Göttingen, S. 409 ff.; Lipsius in der Allg. Encykl., Bd. LXVII; Baur, Epochen der kirchl. Geschichtsschreibung, S. 232; Herzog in s. theol. R.-E. V, S. 152 f.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 163. Z. 8. v. u.: Das Kirchenbuch von Petershagen bestätigt das Jahr 1792 als Gieseler’s Geburtsjahr. [Bd. 17, S. 795]