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Artikel „Corrodi, Heinrich“ von Carl Gustav Adolf Siegfried in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 4 (1876), S. 502–504, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Corrodi,_Heinrich&oldid=- (Version vom 28. November 2024, 19:05 Uhr UTC)
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Corrodi: Heinrich C., geb. 31. Juli 1752 zu Zürich, wo sein Vater, der in pietistischem Eigensinne sich in keine kirchliche Ordnung fügen konnte, als privatisirender Geistlicher lebte, und † 1798. Die drückenden Verhältnisse, in denen der Knabe aufwuchs, die unbehülfliche Erscheinung die er machte und die seltsamen Härten und Grillen des Vaters, die seine Jugend verkümmerten, trieben seinen lebendigen und forschenden Geist früh zu jener Selbständigkeit, in der er im Gebiete der Wissenschaft sich die Freiheit und Unabhängigkeit zu sichern strebte, welche ihm die äußern Verhältnisse im Leben zu versagen drohten. – Nachdem er die erste Vorbildung vom Vater selbst erhalten, trat er 1768 in die gelehrte Schule seiner Vaterstadt, deren untere philosophische[1] Classe er schnell durchmachte. In die philosophische Classe 1769 befördert, überstieg sein Streben weit das, was im Unterricht geboten ward. Selbständig machte er sich an die Durcharbeitung des Leibnitz-Wolffischen Systems, welches für seine philosophische Anschauung von dauerndem Einflusse blieb und zunächst seine bisherige gläubige Stellung zu wichtigen kirchlichen Lehren, z. B. der von der Trinität, vom Opfertode Christi u. dgl. erschütterte. Dies hatte seit seinem Aufrücken in die theologische Classe 1771 heftige innere Kämpfe zur Folge, welche zusammen mit einem Mißerfolge bei seiner Prüfungspredigt 1773 ihn zeitweise in tiefe Melancholie versenkten. Aus dieser verzweifelten Lage rettete ihn vorzugsweise die Vermittlung seines tüchtigen philosophischen[1] Lehrers, J. J. Steinbrüchel’s, welcher Corrodi’s Begabung wohl erkennend und auf seine tüchtigen Leistungen verweisend, die Zulassung zu einer abermaligen Prüfungspredigt bei dem Kirchenrathe von Zürich für ihn durchsetzte. Da diese erneute Probe glücklich ausfiel, erlangte C. nunmehr 1775 die kirchliche Ordination. Nun aber handelte es sich um eine umfassendere Ausbildung, welche, wie Steinbrüchel richtig erkannte, C. in einer seinem Geiste entsprechenden Richtung nur bei Semler in Halle finden konnte. Dazu die Einwilligung des pietistischen Vaters zu erlangen glückte zuletzt der von jedem andern wol leicht durchschauten List des sonst so unschuldigen Idyllendichters Salomon Geßner, der darauf hinwies, daß die Stadt Spener’s und Franke’s wol den sichersten Schutz gegen das Blendwerk der Aufklärung bieten möchte. Nachdem C. vorübergehend in Leipzig bei Platner philosophische Studien getrieben und sich außerdem in der stilistischen Darstellung zu vervollkommnen gesucht hatte, ging er nach Halle, wo er Semler’s eifrigster Schüler wurde, ohne indeß seine wissenschaftliche Selbständigkeit aufzugeben. – Seine Erstlingsschrift war eine Vertheidigung der Glückseligkeitslehre von Steinbart gegen Lavater, welche mit einer Vorrede Semler’s 1780 erschien. Bald darauf gab er auch sein Hauptwerk: „Kritische Geschichte des Chiliasmus, 3 Bde. 1781–83 (2. Ausg. 1794 in 4 Bdn.) heraus. – Inzwischen war er nach Zürich zurückgekehrt, wo er sich anfangs durch Privatunterricht ernährte, dann aber 1786 auf den Lehrstuhl der Sittenlehre und des Naturrechts berufen ward. Der anfänglich ungünstige Eindruck seines persönlichen Auftretens ward bald durch die Gediegenheit seiner stoffreichen Vorträge beseitigt, denn seine Polyhistorie erwies sich als eine ganz außerordentliche. Alle Theile der Philosophie, biblischen Kritik und Exegese, palästinische Alterthümer, jüdische Litteratur, [503] Geographie und Reisebeschreibungen, naturhistorische und physikalische Studien, Astronomie, Kirchengeschichte, kurz fast alle Gebiete des Wissens hatte er betreten und sich darin einheimisch zu machen gesucht. – Eben diese Vielseitigkeit zeigte auch seine Schriftstellerei. Schon neben den oben erwähnten Werken begann er die Zeitschrift: „Beiträge zur Beförderung des vernünftigen Denkens in der Religion“, welche von 1780–98 erschien und viele Aufsätze von ihm selbst enthielt. Außerdem erschienen „Philosophische Aufsätze und Gespräche“, 2 Bde. Winterthur 1788–91; „Versuch über Gott, Welt und menschliche Seele“, 1788; „Briefe einiger holländischer Gottesgelehrten über Simon’s kritische Geschichte des Alten Testaments, herausg. von Le Clerc, übers. mit Anmerkungen und Zusätzen“, 2 Bde. 1779; „Etwas über das Buch Esther als Anhang zu Ciddel’s Abhandlung von der Eingebung des heil. Geistes mit Zus. von Semler“, Halle 1783; ferner das wichtige Werk: „Versuch einer Beleuchtung der Geschichte des jüdischen und christlichen Bibelcanons“, 2 Bde. 1792 und außerdem zahlreiche einzelne Abhandlungen in verschiedenen wissenschaftlichen Zeitschriften (vgl. Meusel, Lex. Ueber unvollendet gebliebene Handschriften s. Schlichtegroll, Nekrolog 1793. Bd. I. S. 291 ff.). – Meist erschienen seine Schriften anonym. – Seine Lebensweise hatte etwas von diogenischer Einfachheit, nach mannigfachen inneren Kämpfen ward zuletzt innere Heiterkeit und das ruhige Selbstgefühl des Weisen die herrschende Grundstimmung seiner Seele. – Noch mitten im unermüdeten Forschen ergriff ihn im 41. Jahre seines Lebens ein Faulfieber und raffte ihn am 14. Sept. 1793 hinweg. – Leonhard Meister’s Nekrolog von 1793. Vgl. dazu Schlichtegroll a. a. O. S. 283 ff. Semisch in Herzog’s Realencykl. III. 157 ff.

C. offenbart in seinen Schriften einen unermüdlichen Forschungstrieb, der sich weder im Ansammeln von Stoff noch im Aufwerfen und Lösen von Problemen genug thun konnte, aber es fehlte seiner Forschung an Methode und als Schriftsteller mangelte ihm sowol das Geschick der Composition wie die Gabe der Darstellung. Keine seiner Arbeiten zeigt eine reinliche und durchweg richtige Abgrenzung der Aufgabe und eine planmäßige Verfolgung eines Ziels. Ueberall stören den Leser Digressionen und breite rhetorische Ausführungen einzelner Nebenfragen. Bemerkungen und Notizen von oft sehr lockerem Zusammenhang drängen einander, ohne die Hauptfrage der Untersuchung zu fördern. Dazu kommt, was freilich eine Schwäche seiner ganzen Zeit war, der Mangel an historischem Sinn und an religiöser Tiefe. Weder das hebräische noch das christliche Alterthum vermochte er wirklich zu verstehen. Denn wenn er jenes durch allerlei Parallelen aus allen möglichen Zeiten und Völkern von Griechen, Ungarn, Chinesen, Kalmücken u. dgl. zu erläutern suchte (Abhdlg. über die Mythen in den Beiträgen zur Beförderung des vernünftigen Denkens St. 18), so bewies er damit, daß ihm daß Eigenthümliche des A. Testaments mit 7 Siegeln verschlossen war. Und wenn er den reinsten Ausdruck des Christenthums im Brief Jacobi fand (Betrachtung des Bibelcanons, Bd. 2. S. 266), so ist klar, daß er sich nicht zur wirklich historischen Auffassung desselben zu erheben vermochte. Ebensowenig gelingt es C. in der Geschichte des Chiliasmus, seinen Gegenstand unbefangen aufzufassen. Was er hier gesammelt hat, gilt ihm ohne Ausnahme als Ausgeburt der verrückten Phantasie von Schwärmern und zwar gehört ihm dahin jede Lehre oder Vorstellung die nicht unmittelbar moralischen Gehalt hat, von den judaistischen Vorurtheilen der Apostel und dem kabbalistischen Wesen der Apokalypse an bis zu den „elenden Begriffen“ eines Justinus und Irenäus und den Erzeugnissen der „versengten Einbildungskraft“ eines Böhme und Mersey. – So kehren denn wiederholt als die leitenden Gedanken in seinen Arbeiten die Gemeinplätze wieder von der Aufklärung, von dem „unschätzbaren Geschenke der Vernunft“ und [504] eine sehr ehrenwerthe und hausbackene moralische Betrachtung aller Thatsachen. Hierin zeigt sich zugleich, daß es C. eigentlich an eigenem Geiste fehlte und es erklärt sich, warum er diese innere Leere durch unersättliches Stoffverschlingen zu füllen suchte. – Was insbesondere seine Leistungen in der biblischen Kritik betrifft, so kann ihm Wahrheitsliebe, Selbständigkeit des Urtheils und Scharfsinn nicht abgesprochen werden, aber der oben berührte Mangel an Methode hat zur Folge, daß er mehr nur mannigfach anregend auf die wissenschaftliche Forschung einwirkte als daß er selbst es zu haltbaren Resultaten gebracht hätte. So ist z. B. sein Streit mit Eichhorn, ob der alttestamentliche Canon eine Sammlung von Schriften sei, die man für inspirirt gehalten, oder eine heilige Nationalbibliothek darstelle (Bibelcanon Bd. I. Abschn. 1. vgl. Eichhorn, Allgem. Biblioth. der bibl. Litt. Bd. 4. S. 252–276), ein ziemlich müßiger und die Zweifel, welche er gegen die Echtheit von Ezechiel C. 43, 8 ff., 45, 1 ff. und C. 38. 39 (a. a. O. Bd. I. S. 510 ff.) vorbringt, sowie die darauf gebauten Vermuthungen sind etwas völlig Grundloses. – Andrerseits hat er zuerst die Frage nach der Echtheit der Prophetien des Daniel („Freimüthige Versuche über versch. in theol. und bibl. Kritik einschlagende Gegenstände“, Berlin 1783. S. 1 ff. Bibelcanon a. a. O. Bd. I. S. 75) beantwortet und nach dieser Seite auf Eichhorn eingewirkt. Ebenso lenkte er seit längerer Zeit zuerst wieder die Aufmerksamkeit auf die Apokryphen (Bibelcanon Bd. I. Abth. 2) und wies auf den Unterschied des hellenistischen Canons vom palästinischen hin (a. a. O. Abth. 3). – Hinsichtlich der Bedeutung seiner Untersuchungen über die Bildung des neutestamentlichen Canons vgl. Meyer, Gesch. der Schrifterklärung Bd. V. S. 654 ff. 660.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. a b S. 502. Z. 16 u. 28 v. o. l.: philologischen st. philosophischen. [Bd. 4, S. 795]