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Artikel „Semler, Christoph“ von Fritz Jonas in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 33 (1891), S. 694–698, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Semler,_Christoph&oldid=- (Version vom 22. Dezember 2024, 20:25 Uhr UTC)
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Semler: Christoph S., Prediger, geb. am 2. October 1669 auf dem Neumarkt vor Halle, Sohn eines Schwertfegers und Beisitzers des Rathes zu Halle. Schon früh zeigte sich bei ihm ein Hang zu mathematischen und mechanischen Studien, und bereits als zwölfjähriger Knabe soll er die Namen aller Sterne am Himmel gekannt haben. Im Jahre 1681 starben seine Großeltern, Eltern und Geschwister an der Pest, und er blieb allein von der ganzen Familie am Leben. Nach dem Besuch des Gymnasiums zu Halle bezog er 1688 die Universität Leipzig und hörte Carpzow, Seeligmann, Alberti, Thomasius. Von 1691 ab setzte er sodann seine Studien in Jena fort, wo er sich besonders Weigel anschloß. 1693 oder 1694 kehrte er nach Halle zurück und stand in enger Verbindung mit Olearius, Thomasius und Buddäus. 1697 wurde er Magister nach Vertheidigung seiner Dissertation de primo iuris naturae principio, scilicet amore felicitatis suae ordinato und hielt „mit gutem Applausu“ Vorlesungen über Philosophie, Mathematik und Theologie. 1699 übernahm er ein Predigtamt am Hospital und der Moritzkirche, mit dem das Inspectorat „derer niedriegsten [695] teutschen Schulen“ verbunden war, und wurde 1708 als Ober-Diakonus an die St. Ulrichkirche berufen. In dieser Stellung blieb er bis zu seinem am 8. oder 9. März 1740 erfolgten Tode. Im Jahre 1701 verheirathete er sich mit Dorothea Küchmeister, Tochter eines Halle’schen Kämmerers, welche ihm 22 Kinder gebar. Sie starb vor ihrem Gatten am 6. Mai 1736. Semler’s Predigten wurden fleißig besucht, und er galt für einen „oratorem sine pari“, bis er im Jahre 1722 heftig erkrankte und für die Folgezeit am lauten Sprechen gehindert wurde. Aber auch vor Anfeindungen blieb er nicht bewahrt. Zwar hielt er sich bei dem schisma pietisticum zwischen der theologischen Facultät und dem Stadtministerium neutral. Aber er wurde angegriffen, weil er nur den ersten und dritten Artikel des Glaubens treibe, wogegen er sich jedoch genugsam vertheidigte mit dem Hinweise auf zahlreiche Predigten auch über den zweiten Artikel. Daneben entfaltete er mit Vorliebe und Erfolg eine praktisch-gemeinnützige Thätigkeit. So hat er den Plan zur Stiftung des Almosenamtes zu Halle entworfen und die Halle’sche Prediger-Witwenkasse gegründet, und als einst bei Winterglätte die Todtenträger einen Sarg hatten fallen lassen und die Leiche herausgeworfen war, veranlaßte ihn dies zur Einführung des Leichenwagens.

Nach dem Zuge der Zeit neigte er zu einer gewissen Polyhistorie und betrieb neben den theologischen Studien mit besonderer Vorliebe Mathematik, Astronomie und Mechanik. Dreißig Jahre hindurch soll er mit einem vergeblichen Aufwande von 6000 Thalern an der Herstellung eines perpetuum mobile gearbeitet haben. Aus Indien ließ er sich Zuckerrohr und Samen der Baumwollenstaude schicken und versuchte, freilich auch ohne Erfolg, diese Pflanzen in Halle anzubauen. Doch gelang ihm dies mit Datteln. Daneben beschäftigte ihn die Erfindung und Zusammensetzung einer ganzen Reihe von astronomischen und physikalischen Apparaten und Instrumenten, die zum Theil in den Francke’schen Schulen zu Halle und in auswärtigen Schulen zur Unterweisung der Jugend benützt wurden. So verfertigte er einen Cylindrum arithmeticum, durch welchen alle Exempel nach den vier Species geschwind und untrüglich ausgerechnet werden konnten. Ferner stellte er Uhren mit zwei Perpendikeln oder mit einem Schwungrade her, um den Gang derselben gleichmäßig zu erhalten und ein Zifferblatt einer Taschenuhr in der Form einer Schneckenlinie, um eine vollkommene Accuratesse des Zeigers zu gewinnen. Auch hatte er eine Einrichtung getroffen, daß eine Stubenuhr zugleich in allen Zimmern seines Hauses die Stunden weisen mußte. Noch werden als Erfindungen von ihm angeführt ein Instrument, das den Takt bei der Musik schlägt und die Stelle eines Cantoris oder Praefecti vertrat; ein Schiff, das mittelst einer Windmühle mit jedem Winde segelte; ein Ofen, durch den das größte Zimmer bei geringem Holzverbrauch geheizt wurde, und der, falls er drinnen nicht Platz hat, auch davor gesetzt werden konnte; ein Pflug, der zugleich pflügte, säete und eggte; eine Dreschmühle, darinnen ein Mann soviel ausrichtete, als sonst fünf; globi caelestes und sphaerae mit einem beweglichen Horizonte; zwei Himmelssphären, das systema Tychonicum und Copernicanum vorstellend, 12 Schuh im Durchmesser, das über tausend Thaler gekostet; zehn astronomische Apparate, welche die Bewegungen der Sterne, die Ab- und Zunahme des Mondes, die Sonnen- und Mondfinsternisse erkennen ließen und Modelle der Stiftshütte, der Stadt Jerusalem und des gelobten Landes. Endlich hatte er mit besonderem Fleiße eine dreifache Methode ersonnen, die longitudinem maris zu finden, und die dazu erforderlichen Instrumente und Seekarten angefertigt. Auf solche Methode war in England ein Preis von 30 000 Pfund ausgesetzt worden, und da S. nicht selbst die Reise dorthin unternehmen konnte, entschloß [696] er sich, seine Erfindung einem früheren russischen Feldgeistlichen namens Christoph Eberhard (V, 566), mitzutheilen und diesen mit der nöthigen Instruction zur Erhebung des Preises nach England zu schicken; nur einige Handgriffe enthielt er ihm noch vor, damit er nicht untreu werden und sich die Erfindung zuschreiben möchte. Dieser aber glaubte die Sache vollkommen zu wissen und soll sie beim Parlament als seine Erfindung ausgegeben und auch eine Schrift darüber in London geschrieben haben, die nach anderer Ueberlieferung aber wider seinen Willen in Leipzig 1720 von einem S. P. W. unter dem Titel veröffentlicht wurde: „Specimen theoriae magneticae quo ex certis principiis magneticis ostenditur vera et universalis methodus inveniendi longitudinem et latitudinem confectum a Christoph Eberhardo, Londini Oct. XXXI anno MDCCXVIII.“ Gleichzeitig erschien von demselben S. P. W. eine deutsche Uebersetzung. Eine Commission von zwanzig Sachverständigen sollte die Methode prüfen und Newton zunächst sein Urtheil abgeben. Da dieser aber sich für incompetent erklärte, trat die Commission gar nicht in eine Berathung ein. Einer der Deputirten aber, namens Whiston soll dem Eberhard sein Geheimniß entlockt haben und nun die Erfindung für die seinige ausgegeben und mit Hilfe bedeutender Unterstützungen vom Könige und einigen reichen englischen Privatleuten weitere observationes auf der See angestellt haben, die aber keinen Erfolg hatten. Semler’s Plan, seine Erfindung selbst im Druck vorzulegen, scheint nicht zur Ausführung gelangt zu sein, obwohl Jöcher eine solche Schrift von ihm aufführt; doch soll sich in seinem Nachlaß seine Darlegung in der Handschrift vorgefunden haben.

Was aber Semler’s Namen im dauernden Andenken erhalten hat, ist die Eröffnung einer Schule, die als erste den Namen Realschule führte. Schon im Jahre 1705 hatte er eine Schrift ausgehen lassen: „Nützliche Vorschläge von Aufrichtung einer mathematischen Handwerkerschule bey der Stadt Halle.“ Nach seiner Darlegung ist „der Schulen Endzweck, daß die Kinder in denenselben zum gemeinen Leben praepariret werden“, und da „die wenigsten Schulkinder zum Studieren, die meisten aber zu anderen Professionen und zu Handwerkern gelangten“, so müßten schon während der Schulzeit ihnen möglichst viele Anschauungen von den Materialien und Instrumenten gegeben werden, die ihnen in natura oder im Modell vorzuzeigen seien. Denn oculare demonstrationen gäben am besten deutliche Vorstellungen. Die Schrift fand die Beachtung der königl. preußischen Regierung des Herzogthums Magdeburg, auf deren Anregung schriftliche Gutachten der Mitglieder des Collegium scholarchale zu Halle eingefordert werden sollten. Und „da nun einige Stimmen dem Werck favorisirten, einigen aber die Introduction desselben allzu difficil erschienen, so wurde zur Entscheidung der entstandenen Dubiorum bei der Königl. Preußischen Societät der Wissenschaften ein Responsum eingeholt“, welche in einem Gutachten vom 15. December ausführte, „daß gleich wie die hohen und niedrigen Schulen auch die Ritterschulen und Academien zu dem Ende gestifftet worden, damit diejenigen, so dermahleins dem gemeinen Wesen in Officiis Ecclesiasticis et Politicis, Civilibus et Militaribus dienen sollen, von Jugend auf dazu vorbereitet, und Stuffenweise geschickt gemacht werden mögen; also auch allerdings rathsam und thunlich sey, die Knaben, so zu Handwerckern sich begeben sollen, und bißhero meistentheils in nichts, als höchstens in Lesen, Schreiben und Rechnen bey den teutschen Schulen unterwiesen worden, künfftig bey einer gewissen Mechanischen Schule in denen zu solchen ihrem Vorhaben und künfftigen Stande dienlichen, theils allgemeinen, theils bey vielen Handwerckern zustatten kommenden Lehren, Nachrichtungen und Uebungen unterweisen und abrichten zu lassen; damit ihnen der Verstand und Sinnen mehr geöffnet werden, und sie [697] insonderheit die nöthigen Materialien und Objecta sammt deren Güte und Preiß erkennen; denn den gemeinen wie auch proportional-Circul, Lineal, Winkelmaß und Gewicht, wie nicht weniger auch andere Maße und Maßstäbe, Wage und nach Gelegenheit das schlechte globular Microscopium zu genauer Einsicht der Körper, und sonst andere nützliche Instrumenta samt Werck- und Heb-Zeugen verstehen lernen, mithin sich dieser Erkenntniß hernach zu besserer Begreiff- und Ausübung ihres Handwercks, auch Ersinnung nützlicher Handgriffe bedienen mögen u. s. w.“

Das traf genau, was S. in seiner Schrift weitläufiger dargelegt hatte, und gestützt auf diese Empfehlung wagte S. nun mit geringer Unterstützung des Hallischen Almosenamtes und einiger Gönner im J. 1708 eine Schule nach seinem Plane einzurichten, welche er Mathematische und Mechanische Realschule nannte. Den Unterricht leitete unter seiner Aufsicht eine „in solchen Wissenschaften wohl versirete Person, mit Namen Herr Christian Benit“, nach dessen „mühsamen Collectaneis“ S. im J. 1709 eine Schilderung der Lectionen in der Form der Frage und Antwort herausgab, deren weitschweifiger Titel ein vollständiges Bild gibt über alles, was in dieser Schule betrieben wurde. Derselbe lautet: „Neueröffnete Mathematische und Mechanische Real-Schule, In welcher praesenter gezeiget und nach allen Theilen erklähret wird Das Uhrwerck, das Modell eines Hauses, das Kriegs-Schiff, die Vestung, Salz-Koth, Mühle, Bergwerck, chymisch Laboratorium, Glaß-Hütte, Tuchmacher-Stuhl, Drechselbanck, Pferd- und Pferdeschmuck, Brau-Hauß, Baum-Garten, Blumen-Garten, Honig-Bau, Wagen Pflug, Ege und Ackerbau. Ferner: Alle Arten derer Gewichte, inländische Müntzen, Maaße, gemeine Steine, Edelgesteine, alle Arten der Wolle und Seyde; die Gewürtze, Saamen, Wurtzeln, Kräuter, Mineralien, Thiere, Vogel, Fische, Sceleton; Ingleichen: Die Geometrischen und Optischen Instrumenta, die Rüst-Zeuge der Bewegungs-Kunst, die Arten der Wetter Gläser und Wasser Künste, der Magnet, Compaß, das Wagen, Grundriß eines Gebäudes, Topographie der Stadt Halle, Fürstellung derer Sphaeren des Himmels, u. a. m. Hall im Magdeb. Ao. 1709. Zu finden in Rengerischer Buchhandlung.“ Die Schule wurde mit 30 Schülern im Alter von 10 bis 14 Jahren eröffnet, und zwar in zwei nur je zweistündigen Cursen, mit den armen Kindern Mittwochs und Sonnabends von 11–12 und mit denen, so etwas geben, von 2–3 Uhr, „weil man bei diesem guten Vorhaben keiner anderen Schule praejudiciren noch irgend einigen Menschen offendiren möchte“. Als die Hauptsache sah S. an, daß die Jugend „an eine wahre Realität gewöhnt werde“. „Denn hier sind keine leere Speculationes“, heißt es in der Vorrede, „oder unnütze Subtilitäten, sondern es sind ipsissimae res, es sind Dei opera, und solche Machinen, welche in der Welt täglichen und unaussprechlichen Nutzen praestiren. Denn der Augenschein wird zeigen, daß man nicht sowohl auf Exotica und curiosa, als fürnehmlich auf quotidiana und necessaria gesehen, und was praesentissimam utilitatem im Leben mit sich führet.“ Es ist unbekannt, aus welchem Grunde die Schule schon nach dreijährigem Bestande wieder einging. S. selbst war von ihrer Nothwendigkeit nach wie vor überzeugt. Im J. 1739 eröffnete er sie von neuem, da er aber bereits im nächsten Jahre starb, scheint sie wiederum keinen Bestand gehabt zu haben. Aber sein Gedanke hatte Einfluß zunächst auf die Francke’schen Schulen in Halle, fand dann seine volle Verwirklichung in Hecker’s Realschule in Berlin, und ist seitdem in immer neuen Formen und unter den verschiedensten Namen auch in den Bürger-, Industrie-, Erwerb-, Fortbildungs-, Fach-, Handwerker-Schulen immer wieder aufgenommen worden. So gebührte hier der Nachricht über Semler’s Schule die obige Ausführlichkeit um so mehr, da einmal auf diesem Werke seine Bedeutung beruht und andererseits in den [698] Geschichten der Pädagogik seiner Anregung nirgends die entsprechende Beachtung gezollt worden ist.

Dreyhaupt, Beschreibung des Saalkreises. – Universal-Lexikon (Zedler) XXXVII, 1772, wo sich auch ein Verzeichniß seiner Schriften findet.