ADB:Böhmer, Johann Friedrich

Empfohlene Zitierweise:

Artikel „Böhmer, Johann Friedrich“ von Wilhelm Wattenbach in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 3 (1876), S. 76–78, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:B%C3%B6hmer,_Johann_Friedrich&oldid=- (Version vom 3. Oktober 2024, 23:24 Uhr UTC)
Allgemeine Deutsche Biographie
>>>enthalten in<<<
[[ADB:{{{VERWEIS}}}|{{{VERWEIS}}}]]
Band 3 (1876), S. 76–78 (Quelle).
[[| bei Wikisource]]
Johann Friedrich Böhmer in der Wikipedia
Johann Friedrich Böhmer in Wikidata
GND-Nummer 118660748
Datensatz, Rohdaten, Werke, Deutsche Biographie, weitere Angebote
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Kopiervorlage  
* {{ADB|3|76|78|Böhmer, Johann Friedrich|Wilhelm Wattenbach|ADB:Böhmer, Johann Friedrich}}    

{{Normdaten|TYP=p|GND=118660748}}    

Böhmer: Johann Friedrich B., geb. zu Frankfurt a. M. 22. April 1795, † daselbst 22. Oct. 1863. Einer der verdienstvollsten deutschen Geschichtsforscher, groß durch seine eigenen Leistungen, und nicht minder bedeutend durch die liebevolle und uneigennützige Förderung fremder Arbeiten, ein Mann von höchst eigenthümlichem Charakter, widerspruchsvoll in Ansichten und Neigungen, und nicht zu harmonischer Ausbildung seiner reichen Anlagen gelangt, wie er selbst beklagte. Im Widerspruch mit den herrschenden Ansichten seiner Zeit, hat er nie eine bedeutende Einwirkung auf seine Zeitgenossen erreicht, und große darstellende Werke über deutsche Geschichte, welche er lange beabsichtigte, sind nicht zur Ausführung gekommen. Aber wenn auch ihm selbst, was er leistete, wenig genügte, so sind doch die Früchte seiner unablässigen Arbeit unverloren, und werden in ihrem hohen Werthe allgemein anerkannt. Die eigenthümliche Art und Richtung des Mannes findet ihre Erklärung in der Erziehung des Kindes. Sein Vater, Karl Ludwig B., war rheingräflicher Hofrath, und entwich 1792 vor den Franzosen, zunächst nach Wetzlar, wo er eine zweite Ehe schloß, und dann nach Frankfurt, wo er die wichtige Stelle eines Canzleidirectors erhielt und von früh bis spät nur seiner Arbeit lebte; ein Mann von strengster Rechtschaffenheit, sehr wohlthätig, aber ohne Empfänglichkeit für die heiteren und fröhlichen Seiten [77] des Lebens. In starrer Abgeschlossenheit erwuchs Johann Friedrich, und er selbst erklärte daraus seine Schüchternheit und Aengstlichkeit, welche er schmerzlich empfand, ohne sich davon frei machen zu können. Eine mächtige Wirkung übte auf ihn die Zeit der Franzosenherrschaft; sie weckte in ihm das vaterländische Gefühl und die Sehnsucht nach Kaiser und Reich, die ihn nie verlassen hat. Durch die Unzufriedenheit mit der Neugestaltung Deutschlands und die romantische Richtung, die ihn bald ergriff, gewann diese Sehnsucht die Gestalt der tiefen Abneigung gegen den Protestantismus, der ihm durch mangelhaften Unterricht früh in abstoßender Form entgegengetreten war, und gegen Preußen, das als Haupthinderniß der Reichseinheit erschien. Weil er aber doch auch vom Katholicismus in seiner wirklichen Erscheinung sich nicht befriedigt fühlte, zum Uebertritt nicht zu bewegen war, und in seiner Vorliebe für die alte Kirche, für Baiern und Oesterreich, überall auf Enttäuschungen stieß, ergab er sich mehr und mehr einem unbefriedigt wehmüthigen Gefühl, das in seinen Briefen aus den letzten Lebensjahren oft stark hervortritt. Er empfand es bitter, daß seine Arbeiten gerade in Norddeutschland die lebhafteste Anerkennung und Nachwirkung fanden, und seine Herzensneigungen stimmten nur zu oft nicht zu den Erfahrungen seines Lebens. Alt-Frankfurt bezeichnet er selbst als seine erste Liebe, aber mit dem neuen Frankfurt konnte er sich nicht befreunden. Ein Studienjahr in Heidelberg 1813–14 gewährte B. daß Glück warmer Jugendfreundschaft und des herrlichsten Naturgenusses; dagegen vermochte er dem juristischen Studium weder hier noch in Göttingen Geschmack abzugewinnen. In Göttingen aber führte Sartorius ihn in die Kenntniß deutscher Verfassungsgeschichte ein, und Fiorillo erschloß ihm das neue Gebiet der Kunst. Gerade die Seiten seines Gemüthes, welchen die Knabenzeit keine Entwicklung verstattet hatte, gewannen jetzt ein starkes Uebergewicht. Nach dem Tode seines Vaters 1817 konnte B. sich zu einem bestimmten Beruf nicht entschließen und folgte der Aufforderung eines Freundes zu einer italienischen Reise, wo er in dem Kreise der deutschen Künstler und Kunstfreunde, Cornelius, Passavant, Schnorr u. A. mächtig angeregt wurde und ganz in die romantische Strömung gerieth. Schon auf der Hinreise hatte die Boisserée’sche Sammlung altdeutscher Gemälde ihn gewaltig ergriffen, und er gedachte nun, sich ganz dem Studium der altdeutschen Kunst zu widmen, über welche er auch in Frankfurt 1820–21 Vorträge gehalten hat. In die Administration des Städel’schen Kunstinstitutes berufen (1822), trat er in nahe Beziehung zu den ausgezeichneten Frankfurtern J. F. Schlosser, J. G. C. Thomas und J. E. v. Fichard, die ihn immer entschiedener dem Studium der Geschichte zuführten. Entscheidend für seinen Lebensberuf wurde 1823 die durch diese Männer vermittelte Bekanntschaft mit dem Freiherrn v. Stein und sein Eintritt in die Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, deren Mitdirector er dann lange Jahre gewesen ist, mit G. H. Pertz, mit welchem er trotz großer innerer Verschiedenheit stets durch treue Freundschaft verbunden geblieben ist. Nun erst gewann seine Thätigkeit eine bestimmte und fruchtreiche Richtung. Es ist nicht nöthig, ihn auf seinen vielen wissenschaftlichen Reisen zu begleiten und den kleineren Begebenheiten seines Lebens zu folgen; es genügt zu bemerken, daß er von 1830–1862 Bibliothekar seiner Vaterstadt, von 1825 bis 1836 auch am Archive angestellt gewesen ist, und durch den ersten Band eines Frankfurter Urkundenbuches 1836 sich ein damals noch seltenes Verdienst erworben hat. Ein bedeutendes Vermögen setzte ihn in den Stand, nicht nur sorgenfrei leben, sondern auch fremde Arbeiten in liberalster Weise unterstützen zu können. Für die „Monumenta Germaniae“ übernahm B. die Sammlung und Ausgabe der Kaiserurkunden, verzichtete aber später auf die Ausgabe, weil er sich mit dem Folioformat nicht befreunden konnte; wir dürfen aber nicht verschweigen, [78] daß seine als Acta Conradi I. 1859 gegebene Probe einer selbständigen Ausgabe den gesteigerten Anforderungen unserer Zeit nicht ganz genügte. Wahrhaft epochemachend aber sind seine Vorarbeiten zu der Ausgabe geworden, die Regesten, d. h. die Verzeichnisse sämmtlicher von unseren Kaisern und Königen ausgestellten Urkunden, welche für alle historischen Darstellungen die einzige feste Grundlage liefern, und überall Nachahmung gefunden haben. Er hatte dabei auch, wie er mit Bezug auf den von ihm sonst hochverehrten Luzerner Kopp äußert, den Gesichtspunkt, die Geschichte von ihrem unendlichen Ballast zu entlasten und der Darstellung eine freiere Bewegung möglich zu machen. Deshalb hat er auch, nachdem zuerst 1831 die Regesten von 911 bis 1313 als bloße Auszüge von Urkunden erschienen waren, in steigendem Maße die geschichtlichen Thatsachen eingereiht und in ausführlichen Einleitungen die Hauptbegebenheiten der einzelnen Regierungen dargelegt. Hier vorzüglich ist es, wo er seiner Feindschaft gegen die moderne Zeit den Zügel schießen ließ, und auch schon dem Kaiser Friedrich II. mit gleicher Erbitterung entgegentrat; der Anstoß aber, den er dadurch der großen Mehrzahl gab, wurde weit überwogen durch die Trefflichkeit der Arbeit. 1833 erschienen die Regesten der Karolinger, 1839 die Regesten Ludwigs des Baiern; dann begann er rückwärts gehend die Neugestaltung der alten Regesten in unendlich bereicherter Form; vollendet sind in dieser Weise die Regesten von 1198 bis 1313. Dazu gesellten sich 1854 die Regesten der Wittelsbacher bis auf den Kaiser Ludwig; ebenfalls eine sehr werthvolle Arbeit, die aber durch einige scharfe Bemerkungen in der Vorrede Anstoß erregte. Als sehr störend empfand B. bei seinen Arbeiten den verwahrlosten Zustand der Chroniken aus der späteren Zeit, für welche von den „Monumenta Germaniae“ noch lange keine Hülfe kommen konnte. Von diesen hatte man längere Zeit alles erwartet, die eigene Thätigkeit war gelähmt gewesen. Da hat sich B. ein neues großes Verdienst erworben, indem er zuerst jenen Bann durchbrach, und in handlicher Form, zu bequemem Gebrauche, unter dem Titel „Fontes Rerum Germanicarum“ eine Sammlung von Geschichtsquellen in drei Bänden herausgab, unter welchen sich auch manche neue Entdeckung befand. Denn unablässig spürte er auf Bibliotheken und in Privatbesitz verborgenen Schätzen nach, und mehr als ein glücklicher Fund ist ihm gelungen. Von vorzüglichem Werthe sind auch die in den Einleitungen gegebenen Charakteristiken der herausgegebenen Schriftsteller. Nur schwer aber entschloß sich B. zur abschließenden Bearbeitung der von ihm gesammelten reichen Materialien und um so mehr ist es dankbar anzuerkennen, daß er durch letztwillige Verfügung auch für die Zukunft gesorgt hat. Schon ist aus seiner reichen Urkundensammlung, durch neues Material vermehrt, durch Ficker’s sorgsame und saubere Arbeit der stattliche Band der Acta Imperii Selecta (1870) erschienen; durch A. Huber ein vierter Band der Fontes (1868) und von demselben begonnen die Regesten Karls IV., durch C. Will die Monumenta Blidenstadensia (1872). Weitere Arbeiten sind zu erwarten, und die so ungemein förderliche Einwirkung Böhmer’s auf die deutsche Geschichtsforschung ist durch seinen Tod nicht abgeschlossen.

B. ist unvermählt geblieben; um so inniger war sein Verhältniß zu seinen Freunden, zu Clemens Brentano, der Görres’schen Familie, Döllinger, Stälin u. A. Davon zeugt die Sammlung seiner Briefe, welche aus seinem Nachlasse Joh. Janssen in zwei Bänden herausgegeben hat, eine wahre Fundgrube für die Geschichte seiner Zeit und die sie bewegenden Gedanken und Richtungen. Vorausgeschickt ist im ersten Bande eine mit liebevoller Pietät gegen den Mann, dem auch er viel verdankte, ausgearbeitete Lebensbeschreibung (Freiburg 1868).