Zur Berichtigung irriger Ansichten. Die Testamentsscheu und der wissenschaftliche Tod

Textdaten
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Autor: Carl Ernst Bock
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Titel: Zur Berichtigung irriger Ansichten. Die Testamentsscheu und der wissenschaftliche Tod
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 471-472
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1860
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Zur Berichtigung irriger Ansichten.
Die Testamentsscheu und der wissenschaftliche Tod.

Das Testament zu machen, verabsäumen und verweigern nicht blos Solche, die in Folge blödsinnigen Aberglaubens fürchten, daß durch die Niederlegung des Testamentes dann ihr Tod eiligst heraufbeschworen werde, sondern auch die, welche (meistens aus Bequemlichkeitsliebe) meinen, daß es bei ernstlichem Krankwerden schon noch Zeit genug sei, auf Anrathen des Arztes die letzten Verfügungen zu treffen. Gerade als ob ein Mensch nicht in jedem Augenblicke dem plötzlichen Tode (aus äußern und innern Ursachen) ausgesetzt wäre, und als ob bei der scheinbar leichtesten Krankheit nicht gegen alles Vermuthen des Arztes ein tödtliches Ende eintreten könnte! Ganz abgesehen davon, daß es äußerst inhuman und grausam ist, einem Kranken durch Erinnern an’s Testamentmachen gewissermaßen sein Todesurtheil zu verkünden.

Kurz, es ist unverständig und gewissenlos, ja oft geradezu sündhaft, wenn Jemand, der vor seinem Tode zum Wohle seiner Angehörigen oder anderer Mitmenschen noch Bestimmungen und Verfügungen zu treffen hat, diese nicht bei Zeiten trifft und zwar so, daß sie auch rechtskräftig sind. Wenn es Manche für hinreichend [472] halten, ihren letzten Willen nur im Schubkasten für die Angehörigen zu hinterlassen, so irren sie und können in den meisten Fällen, zumal wenn unmündige Erben mit in Betracht kommen, die Vollziehung ihres Willens total vereitelt sehen. Alles also, was man vor seinem Tode zu besorgen hat, das besorge man so zeitig und ordentlich als möglich, damit man für alle Fälle gesichert und für das Sterben gehörig vorbereitet sei.

Wie oft ist es nicht schon vorgekommen, daß Wohlhabende, auf deren Tod nur lachende (nicht selten ganz unwürdige) Erben sehnlichst warteten, diejenigen ihrer Getreuen, die ihnen Jahre lang die größten Opfer, selbst an Gesundheit, brachten, in der größten Noth hinterließen, nur weil sie ihr Testament, welches sie zu Gunsten ihrer aufopfernden Freunde zu machen gedachten und versprachen, zur richtigen Zeit gesetzlich niederzulegen vernachlässigten. Daß solchen herz- und rücksichtslosen, undankbaren Subjecten kein gutes Andenken über das Grab hinaus folgen kann, versteht sich wohl von selbst. – Wie mancher Geldprotze, der in Folge seines irdischen Thuns nach seinem Tode gar nicht fortzudauern verdiente, wünscht sich bei der nachkommenden Menschheit durch Gründung von Humanitäts-Einrichtungen wenigstens eine Namens-Fortdauer zu schaffen, allein seine Testamentsscheu vernichtet seinen Namen mit der Hand voll Erde, die von den das offene Grab Umstehenden auf seinen Sarg geworfen wird. – Ich selbst würde mich sicherlich vor Aerger im Grabe noch herumdrehen, wenn ich bei meinem Begräbniß hinter meinem Sarge (natürlich in der Leichenkutsche) eine schwarzbefrackte Homöopathen-Deputation einherschreiten sähe, welche das mir im Jahre 1849 wegen allopathischer Arzneiungläubigkeit vom homöopathischen Centralvereine ausgestellte Diplom als Mitglied der homöopathischen Heilkünstler-Societät auf weißem Sammtkissen einhertrüge, was ich mir doch durch rechtzeitige Niederlegung meines letzten Willens verbitten konnte. – Also nochmals: hübsch zeitig und ordentlich testirt!

Was nun den „wissenschaftlichen Tod“ betrifft, so soll darunter das von Aerzten als sicher vorher gesagte und in Bälde eintretende Sterben eines Kranken verstanden werden. Es ist dies ein Tod, den schon viele, zur Zeit noch im besten Wohlsein Herumwandelnde vor Jahren gestorben sind, wie ja auch eine uralte, vormeidingersche Anekdote beweist, die einen Arzt zu einem ihn ansprechenden Spaziergänger ganz ärgerlich sagen läßt: „Mein Herr! Sie sind für mich wissenschaftlich todt.“ Vor Monaten hatte nämlich jener Arzt diesem Manne, der damals lebensgefährlich krank schien, voreiliger Weise nur noch wenige Stunden zum Leben gegeben. – Es ist gräßlich unwissenschaftlich, wenn ein Heilkünstler bei kranken Personen die Zeit des Todes mit nur einiger Sicherheit voraussagt, zumal wenn diese Zeit wohl gar auf Jahre hinausgestellt wird. Es ist ferner eine ganz nichtswürdige Verleumdung, wenn man einem gebildeten Arzte nachsagt, daß er Patienten in’s Gesicht erklärt habe, sie hätten nur noch so und so lange zu leben, ganz abgesehen von der Inhumanität, ja Rohheit, welche eine solche Erklärung in sich trägt. Nur unwissenschaftliche Charlatane, die sich wichtig machen wollen, werfen mit Todesbestimmungen um sich herum, der gelehrte Arzt weiß, daß bei den allermeisten Krankheitsprocessen, selbst wenn schon der Tod im Anzuge zu sein scheint, doch noch Heilung oder wenigstens eine ganz unbestimmte Fortdauer des Lebens möglich ist. Beispiele mögen dies bestätigen; vorher sei aber noch erwähnt, daß Kranke, die von unwissenden Aerzten aufgegeben wurden, gar nicht selten unter der Behandlung von Charlatanen und Homöopathen gesunden, und zwar deshalb, weil die Naturheilkraft (s. Gartenlaube 1855, Nr. 25) scheinbar unheilbare Krankheitsprocesse zu heilen oder doch unschädlich zu machen vermag. Natürlich schreibt dann der urtheilslose Laie und Quacksalber die Heilung dem angewendeten Hokuspokus und nicht der Naturheilkraft zu.

Vom Schlagflusse (s. Gartenl. 1855, Nr. 19) heimgesucht zu werden, ist allerdings nicht gerade wünschenswerth, allein wie viele vom Schlage Getroffene, die tagelang bewußtlos, röchelnd, halbseitig gelähmt dalagen, sind nicht schon nach wenigen Wochen wieder wie die Gesündesten einhergegangen, und es ist ihnen nicht einmal zur Ader gelassen worden! – Ueberhaupt ist bei allen das Gehirn in seiner Thätigkeit störenden Krankheiten, welche mit Kopfschmerz, Bewußtlosigkeit, Sinnesstörungen, Irrereden, Krämpfen und Lähmungen auftreten, niemals die Hoffnung auf Genesung zu verlieren, zumal bei Kindern nicht. Wie sich die Aerzte bei vielen Leiden hinsichtlich des Wesens, Verlaufs und Ausgangs derselben täuschen können, so ist dies gerade bei Hirnleiden am leichtesten möglich. Und daher kommt es denn auch, daß die so beliebte Hirnerweichung mehr in den Köpfen der Aerzte, als in denen der Kranken spukt. Wie wenige kleine Kinder bei sogen. Hirnkrämpfen an der vom Arzte mit Blutegeln und Calomel verfolgten Hirnentzündung leiden, ist ganz erstaunlich.

Das Nervenfieber oder der Typhus (s. Gartenl. 1856, Nr. 10) bringt bisweilen den Kranken, nachdem derselbe tage- und selbst wochenlang phantasirte und seines Bewußtseins gänzlich beraubt war, in einen Zustand, wo er zu seinem Glücke keine Medicin mehr schlucken kann, im Bette zusammengerutscht, fast puls- und athemlos, eben sterbend erscheint. Und doch stirbt er nicht, ja, selbst auch dann nicht, wenn der Typhus zum Ueberflusse noch von einer Lungenentzündung begleitet wird und der Typhöse sich brandig aufgelegen hat. Hier denkt dann der Arzt wie Goethe’s Mephistopheles „und läßt’s am Ende gehn, wie’s Gott gefällt.“ In den meisten Fällen wär’s freilich besser, wenn die Aerzte nicht erst am Ende, sondern gleich vom Anfange der Krankheit an so dächten.

Bei der Lungenschwindsucht (s. Gartenl. 1855, Nr. 15), selbst wenn schon ein ziemlicher Theil der Lungen total verloren gegangen ist und der bleiche, bluthustende Kranke bis zum Skelet abgezehrt, mit einem Beine im Grabe steht, kann doch noch ein Stillstand des Leidens und (auch ohne Leberthran, Hundefett, Heringsmilch, Salzbrunnen und schwedische Heilgymnastik) eine solche Aenderung im Befinden des Patienten eintreten, daß dieser, wenn auch etwas kurzathmig und zeitweilig vom Husten geplagt, doch dick und munter noch ein langes Leben verlebt. Ja, er hat dann dabei sogar den Vortheil, daß er von einer Menge anderer Krankheiten unangefochten bleibt.

Von Wassersucht (s. Gartenl. 1857, Nr. 25) bis zum Platzen Geschwollene, die schon nahe daran waren, in ihrem eigenen (innern, Lungen-) Wasser zu ertrinken, gaben manchmal plötzlich, und zwar ohne Arznei genommen zu haben, durch Nieren und Haut (mit Harn und Schweiß) soviel Wasser von sich, daß sie wieder auf’s Trockne kamen und trotz des Uebels, von welchem die Wassersucht nur ein Symptom war, doch ziemlich fidel noch eine hübsche Weile fortlebten. Es sind demnach die wassersüchtig geschwollenen Beine nicht gleich als „Reisestiefeln in’s Jenseits“ anzusehen.

In den verschiedenen Entzündungen (s. Gartenl. 1855, Nr. 36), zumal edler Organe, wie des Herzens, der Lunge, des Gehirns u. s. w., hält oft der bedeutenden Ausbreitung und Heftigkeit der Krankheit wegen auch der ruhigste und vorsichtigste Arzt eine Rückkehr des erkrankten Organs zur Gesundheit fast für unmöglich, und doch weiß die Naturheilkraft nicht selten die Entzündung sammt ihren Folgen gänzlich zu tilgen oder doch für längere oder kürzere Zeit unschädlich zu machen.

Rückenmarks-Verzehrung, – aber die echte, nicht die, mit welcher junge Männer sich und die Aerzte quälen, wenn sie mit Gewissensbissen bei zeitweiligem Schmerze im Kreuze etwas knickbeinig einher bummeln, – ist gar nicht so selten auch dann hinter dem Rücken der Aerzte noch vollständig verschwunden, wenn bei halbgelähmten Beinen die Harn- und Stuhlentleerung in die größte Unordnung gerathen war. Also mögen auch die Rückenmärker mit Hahnentritt die Hoffnung auf Kräftigung ihres Pedals durch die gütige Mutter „Natur“ nicht aufgeben, selbst wenn die Aerzte nur vom Bade Gastein noch Hülfe erwarten.

Wollte ein Arzt selbst bei den furchtbarsten Verletzungen genau bestimmen, ob und wann der Tod eintreten muß, so könnte er sich sehr oft in seiner Vorhersage blamirt sehen, denn was in Verstümmelungshinsicht ein Mensch aushalten kann, das grenzt geradezu an’s Unglaubliche und läßt sich auf dem Schlachtfelde oder in Invalidenhäusern am besten begreifen. Daß Arme und Beine von Kanonenkugeln weggerissen werden, Flintenkugeln durch Brust oder Leib hindurchdringen, der Schädel gespalten wird, die Gedärme zum aufgeschlitzten Bauche heraushängen u. s. f., und schließlich der junge Blessirte doch noch ein uralter Invalide (leider Gottes nicht selten mit der Drehorgel) wird, ist gar nichts Seltenes. – Ob das aber wohl dem Verstande und Gemüthe des Menschen Ehre macht, daß er fortwährend auf Entdeckung von raffinirten Menschen-Verstümmelungs-Apparaten ausgeht?

Und was ist nun dieses langen Aufsatzes kurzer Sinn? Der Arzt ist fast nie im Stande, den Tod eines Kranken oder Verletzten mit nur einiger Sicherheit zu bemessen.
Bock.