Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredelung und Verschönerung/Dritten Theils erste Abtheilung/Funfzehntes Buch

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Funfzehntes Buch.
Denkungsart der Athenienser und besonders der Sokratischen Schule über Liebe zu den Lieblingen.


Erstes Kapitel.
Einleitung.

Unter allen Versuchen, die Liebe zu veredeln und zu verschönern, ist keiner, der einen so hohen Grad von Celebrität, und einen so wichtigen Einfluß auf die Denkungsart der Nachwelt erhalten hätte, als derjenige, den die Sokratische Schule in dieser Rücksicht gemacht hat, und der gemeiniglich unter dem zu eingeschränkten Nahmen der platonischen Liebe bekannt ist.

Wo ist eine gute Gesellschaft unter allen kultivierten Nationen von Europa, worin man nicht noch heut zu Tage von dieser Liebe reden hörte? Man spricht dafür, man spricht dagegen: unsere Dichter nutzen sie zum Stoffe der Unterhaltung, zum Mittel der Begeisterung; unsere Philosophen dissertieren mit steifem Ernste über ihr Wesen und ihre Möglichkeit, und je nachdem wir nur eine lächerliche Anmaßung menschlicher Schwäche, oder die höchste Stufe menschlicher Würde darin finden, [133] wird sie bald Gegenstand des scherzenden Witzes und des beißendsten Hohnes, bald Gegenstand der feyerlichsten Rührung und Weihe.

Allein wie verworren, wie unbestimmt sind die Begriffe, die wir mit dem Nahmen der platonischen Liebe verbinden! Der eine sieht sie als eine bloße Freundschaft an, der andere versteht darunter eine Geschlechtsliebe, wobey das Andringen körperlicher Begierden mit Glück bekämpft und unterdrückt wird. Bald sucht man darin eine Vermählung der Seelen, die durch rein geistige Vorzüge verschwistert sind, bald einen Ideengenuß körperlicher Schönheit; kurz, nach den verschiedenen Wärmegraden der Sinne, des Herzens und der Phantasie ihrer Beurtheiler, wird der Begriff dieser Art von Verhältnissen ganz verschieden gebildet.

Mehrere Schriftsteller haben uns mit den Ideen der Athenienser, und besonders der Sokratischen Schule über die Veredlung und Verschönerung der Liebe vertrauter zu machen gesucht. Aber irr’ ich nicht, so ist die Sache noch immer einer näheren Aufklärung bedürftig. Der eine hat zu seinen Untersuchungen eine zu oberflächliche Kenntniß der griechischen Sitten hinzugebracht, und nicht die Gabe besessen, sich in die Denkungsart eines fremden Volks aus der Vorzeit hinein zuversetzen. Der andere hat nicht Herz genug, nicht hinreichende Kenntniß des Menschen, wie dieser zu allen Zeiten ist, gehabt; einem dritten hat es an Elevation der Seele gefehlt; ein vierter hat den Sinnen zu wenig, und dem Geiste zu viel zugetrauet.

Die Schwierigkeiten, welche sich der Auflösung des gegenwärtigen Problems entgegen setzen, würden sehr vermindert seyn, wenn man sich hätte angelegen seyn [134] lassen, bestimmte Begriffe über unsere geselligen Triebe, über Geschlechtssympathie und Geschlechtsliebe festzusetzen. Alsdann würde es leichter zu entscheiden gewesen seyn, ob die Liebe in der veredelten Bildung, welche ihr die Athenienser und besonders die Sokratische Schule gegeben haben, begeisterte Beschauungswonne oder wahre Zärtlichkeit, Freundschaft oder Geschlechtsliebe, und letztere wieder völlig rein von dem Einflusse körperlicher Geschlechtssympathie gewesen sey, oder nicht?

Diese Hindernisse glaube ich durch meine vorangegangenen Untersuchungen aus dem Wege geräumt zu haben. Und, ohne Anmaßung sey es gesagt, nach einer vieljährigen und oft wiederholten Prüfung glaube ich in der Sache selbst wenig Schwierigkeiten zu finden, um in den Geist dieser griechischen Liebe einzudringen. Aber indem ich ihren Begriff dem Publiko vorlegen soll, erhebt sich aus der Lage, worin ich zu meinen Zeitgenossen stehe, allerdings eine erhebliche Bedenklichkeit, über die ein zärter fühlendes Herz sich nicht so leicht hinauszusetzen weiß! Die veredelte Liebe der Athenienser zeigte sich in Verbindungen zwischen Männern auf eine Weise, die in unser Klima, zu unserer Organisation, zu unsern Sitten und zu unserer Staatsverfassung keinesweges paßt. Es ist unmöglich, auch nur daran zu erinnern, ohne unsere Begriffe über den Anstand beleidigend zu streifen.

Käme es hier bloß auf Befriedigung der Neugierde an, so würde ich schweigen. Aber es gilt mehr: es gilt Wahrheit, es gilt das Glück vieler Menschen. Die Lehren des Plato, so halb verstanden sie immer seyn mögen, sind von den spätern Jahrhunderten aufgenommen, und modificieren noch heut zu Tage unsere Begriffe über eine ganz andere Art von Liebe, über die Liebe zu den Weibern, [135] auf eine beträchtliche Weise. Die Sittlichkeit überhaupt, und das Glück liebender Verbindungen zwischen beyden Geschlechtern, haben aus der Unkunde des wahren Verhältnisses, worauf die Grundsätze jenes Philosophen ihre zutreffende Anwendung finden, manchen Nachtheil erlitten. Hier scheint einer von den Fällen einzutreten, wo der Liebe zur Wahrheit und Zweckmäßigkeit einiges von den Forderungen des Schicklichen aufgeopfert werden muß: oder vielmehr, wo dasjenige, was nur in einer gewissen Beziehung unschicklich genannt werden kann, dadurch schicklich wird, daß es in allgemeiner Rücksicht dem Triebe nach richtiger Erkenntniß und Nutzbarkeit anpassend erscheint.

Ich werde daher mit Freymüthigkeit, aber weit entfernt von Frechheit, über einen Gegenstand reden, dessen Kenntniß nur demjenigen schädlich seyn kann, der ein verdorbenes Herz zu meinem Buche herzubringt.


Zweytes Kapitel.
Geist der atheniensischen Gesetze und Sitten in Rücksicht auf die Liebe zu den Lieblingen.

Wenn man die Denkungsart eines Volks über einen Gegenstand seiner Gebräuche und geselligen Einrichtungen angeben will; so muß man sich wohl hüten, diese zu allgemein auf alle seine Individuen, ja, nur auf alle Classen seiner Bürger auszudehnen. Die gute Gesellschaft denkt anders darüber wie der einzelne Weise. Dieser prüft selbst, sucht sich in seiner Meinung von dem Einflusse der Vorurtheile und Leidenschaften frey zu erhalten, und unterwirft selbst dem bürgerlichen Gesetze [136] nur seine äußere Handlungsweise. Jene folgt angenommenen und überlieferten Begriffen von dem Schicklichen und Anständigen, die oft mit dem Gesetze übereinstimmen, oft aber auch davon abweichen; in welchem letztern Falle sie nur eine zu kecke Beleidigung seiner Vorschriften vermeidet. Von beyden trennt sich noch der Pöbel durch eine Art die Sachen anzusehen, die der Niedrigkeit seiner Gesinnungen, der Eingeschränktheit seiner Ideen, und der Zügellosigkeit seiner Triebe angemessen ist. Außerdem giebt es allemahl einen kleinen Haufen von Schwärmern, die das Gute, was in einer Nazionalsitte liegt, übertreiben, und einen etwas größern Haufen von entschiedenen Spöttern, die das Nachtheilige, was sie mit sich führt, übermäßig hervorheben, und das Ganze zum Gegenstande ihres beißenden Witzes machen.

Ich werde bey der Untersuchung, die ich hier vorzunehmen habe, zuerst auf den Pöbel Rücksicht nehmen, und zwar in so fern das Gesetz seinen Trieben eine Regel gegeben haben sollte.

Ich habe im ersten Theile dieses Werks die Geschlechtssympathie der Körper entwickelt, und gezeigt, daß es falsch sey, wenn wir ihre Wirksamkeit nur bey der Verbindung solcher Körper annehmen, die zur Fortpflanzung der Gattung geschickt sind. Ich glaube dargethan zu haben, daß selbst Körper, die ihren äußern Kennzeichen nach zu einerley Geschlecht gehören, den Geschlechtsinstinkt bey einander aufregen mögen, wenn hebende Zartheit der einen Organisation mit der geschmeidigen Stärke der andern in ein solches Wohlverhältniß zu einander kommen, daß dadurch das Streben nach dem Gefühle einer überschwenglichen Lebenskraft entsteht.

[137] Dieß vorausgesetzt, kann man die Begierden nach Verbindung solcher Körper, die äußern Kennzeichen nach zu einerley Geschlecht gehören, ihrer Organisation nach aber wirklich im Wohlverhältnisse der zärteren Organisation zur stärkeren stehen, unter keinem Volke in der Welt für bloße Folge einer Ausartung der Sinnlichkeit, oder für eine Verirrung der Natur erklären. Eine solche Lüsternheit ist nicht so wohl unnatürlich, d. h. den Gesetzen der physischen Natur widersprechend, als vernunftwidrig und unsittlich. Wir bemerken diesen physischen Zug verschieden organisierter Körper, die den äußern Kennzeichen nach zu einerley Geschlecht gehören, bereits bey Thieren; und unter den roheren Völkern, besonders bey den südlichen, ist er noch heut zu Tage so allgemein, daß man gar nicht daran zweifeln kann, daß nur Gründe, die außer den Gesetzen der Physik liegen, gewisse Menschen von dem Andringen ähnlicher Begierden völlig befreyen.

Dieß ist der Fall bey den kultivierten Nationen des nördlichen Europa. Bey uns wird der Abscheu gegen die ersten Regungen solcher Lüste, die Religion, Gesetze, Vernunft und Anstand auf gleiche Weise verdammen, der Jugend so früh eingeflößt, daß unsre ohnehin minder reitzbare Natur gegen Anfälle einer solchen, eben so ekelhaften als verbotenen Sinnlichkeit, der Regel nach nicht einmahl anzukämpfen braucht. Wir sind daher berechtigt, die Beyspiele, die man von solchen Verhältnissen zwischen uns antrifft, für Ausschweifungen unsers physischen, durch seine genaue Verbindung mit dem moralischen besonders modificierten Wesens zu betrachten, und sie zu Verirrungen unserer einmahl so gebildeten Natur, oder zu Freveln zu zählen, welche die Verdorbenheit der Sitten nach sich zieht.

[138] Der Grieche war hingegen den Anfällen dieser Art von Lüsternheit sehr ausgesetzt. Man hat ihr erstes Erwachen in den Gymnasien aufgesucht. Cicero und Plutarch, beyde Schriftsteller aus spätern Zeiten, und mit Römischen Begriffen über Sittlichkeit und Anstand angefüllt, sind die Urheber dieser Meinung gewesen. Aber so sicher die gymnastischen Uebungen, wobey sich die entblößte Jugend unvorsichtigen Annäherungen aussetzte, zur Beförderung dieser Ausgelassenheit beygetragen haben mag; ihr erstes Entstehen liegt gewiß viel tiefer in der ursprünglichen Organisation dieses höchst reitzbaren und sinnlichen Volks, dessen älteste Sagen vor Gründung der Gymnastik bereits auf Knabenraub hinweisen. Ohnehin waren ja diese Ausschweifungen im südlichen Asien, wie uns die Bibel belehrt, von den ältesten Zeiten her im Schwange, obgleich hier an keine Gymnastik gedacht wurde. Und wenn auch dieser Grund das Entstehen der Männerliebe erklären könnte, wie würde er auf den Ursprung einer ähnlichen Ausgelassenheit unter den Weibern, weshalb besonders die Lesbischen bekannt waren, passen?

So übereinstimmend diese Lüste mit der thierischen Natur des Menschen besonders in heißen Himmelsstrichen von jeher, nach meiner Ueberzeugung, gewesen sind; so früh haben doch gewiß diejenigen, die sich um die Einrichtung der bürgerlichen Gesellschaft und die sittliche Bildung des Menschen verdient gemacht haben, das Nachtheilige für die Population des Staats, das Verderbliche für das Wohl des einzelnen Menschen, und das Hinderliche eingesehen, welches aus solchen Ausschweifungen für das Glück der Ehen zu besorgen war. Unstreitig haben sie also sehr früh die Mißbilligung der Vernunft und des moralischen Gefühls auf sich gezogen. Aber nicht bey allen [139] Völkern sind sie durch Gesetze verboten, und mit bürgerlichen Strafen belegt worden.

Kein einziger glaubwürdiger Schriftsteller führt ein ausdrückliches Gesetz an, wornach in Athen die Ausgelassenheit der körperlichen Geschlechtssympathie unter Männern, und noch viel weniger unter Weibern geradezu verbothen gewesen wäre. [1] Es wird vielmehr aus einem Gesetze des Solon, welches den Sklaven die Männerliebe verwehrt, ziemlich wahrscheinlich, daß der Gesetzgeber freyen Menschen die Sorge für ihre Sittsamkeit selbst überlassen habe. Die Verordnungen, die er und seine Nachfolger über diesen Punkt gemacht haben, suchen nur der Verführung, der Gewalt, und der schnöden Gewinnsucht vorzubeugen. Sie suchen die Begierden durch Entfernung äußerer Bewegungsgründe zu zügeln, aber sie verdammen nicht den Reitz, den der Mensch in seinen Trieben selbst fand, und diejenige Befriedigung derselben, die aus freyer Willkühr beyder interessierter Personen gewährt wurde. Ein Mann, der sich in die Gymnasien der unverdorbenen Jugend einschlich, um diese zu verführen, war des Todes schuldig. Wer sich für Geld ergab, verlor alle Rechte des Bürgers, und harte Strafen erwarteten denjenigen, der Personen, die in seiner Gewalt waren, andern zum Mißbrauche überließ, oder durch Raub oder Verführung junge Männer um ihre Unschuld brachte. [2] Also nicht die Sache selbst, sondern nur die Art, wie sie geschah, war ein Gegenstand der atheniensischen Gesetzgebung.

[140] Um dieß erklärbar zu finden, muß man sich an dasjenige erinnern, was ich oben [3] von den Begriffen der Athenienser über Tugend und Vortrefflichkeit gesagt habe. Nur diejenigen Schwächen und Laster, die mit den Pflichten des Bürgers gegen den Staat im unmittelbaren Widerspruche standen, waren ein Gegenstand des Verbots und der Strafe der Gesetze. Ein Archont, der im Rausche mit den Zeichen seiner Würde erschien, sollte diese Vernachlässigung des Anstandes, die der Führung öffentlicher Angelegenheiten nachtheilig werden konnte, mit dem Tode büßen. Ein Bürger, dessen Sitten so verdorben waren, daß er die Rüge der öffentlichen Meinung auf sich zog, verlor die Rechte des aktiven Bürgers. Aber die Ausgelassenheit der körperlichen Geschlechtssympathie, die kein Aufsehn machte, und die Rechte des Eigenthums und der Freyheit des Bürgers nicht kränkte, ward wie die Stillung eines physischen Bedürfnisses, als eine Quelle sinnlicher Freuden angesehen, die an sich eben so gleichgültig sey, als jeder andere wollüstige Reitz für die übrigen Sinne.

In dieser Nachsicht kam denn die gute Sitte mit dem Gesetze ziemlich überein. Es ist der Mühe werth, die Schauspiele des Aristophanes durchzublättern. Welcher Schmutz! Welche Beleidigung aller Schamhaftigkeit! Es ist gewiß, daß selbst der niedrigste Pöbel bey uns die Vorstellungen dieser Schauspiele mit Steinwürfen würde unterbrochen haben. So häufig sind darin die Anspielungen auf Lüste, an die wir ohne Abscheu nicht erinnert werden können. Nach den Mythen war den Göttern selbst eine völlige Ausgelassenheit der Begierden eigen. Die Tragiker spielten ungescheut in ihren Schauspielen auf [141] ähnliche Ausgelassenheiten an. [4] Euripides hatte eines unter dem Nahmen Chrysippus verfertigt, dessen Süjet der Raub dieses Jünglings durch den Lajus ausmachte. [5] Denkmähler der bildenden Kunst waren Darstellungen gewidmet, die nach unsern Begriffen Ekel erwecken, [6] und die Rüge der Polizey auf sich ziehen würden. [7] Vor allen andern aber waren die Mißbräuche der Geschlechtssympathie unter Männern häufig. Sokrates warnte vor dem Umgange mit schönen Jünglingen, und verglich die Gefahr, die aus ihrer unvorsichtigen Berührung drohte, mit dem Bisse der Tarantel. [8] In den Gastmählern des Xenophon und des Plato, und in des letztern Republik und Phädrus, wird dieser Gegenstand mit einer Unbefangenheit behandelt, die uns in Erstaunen setzt, und die Sorge, welche die Väter anwandten, ihre Söhne durch beygegebene Hüter vor Verführung schlechter Menschen zu bewahren, so wie der hohe Werth, der den Weisen beygelegt wird, die über diese Schwäche hinausgesetzt waren, beweisen hinreichend, wie allgemein, wie durchgängig die Gewalt dieser verkehrten Richtung körperlicher Begierden angenommen wurde.

Man würde zu weit gehen, wenn man daraus folgern wollte, die gute Sitte in Athen habe gar keinen Werth auf die Keuschheit und Ehrbarkeit des Mannes [142] gelegt. [9] Unstreitig wußte sie diesen Vorzug zu schätzen; aber sie setzte eine viel geringere Wichtigkeit auf den Mangel desselben bey dem großen Haufen, und fand es auf der andern Seite viel außerordentlicher, wenn der einzelne Mann eine Mäßigkeit und Enthaltsamkeit in diesem Stücke zeigte, die von der Menge, selbst unter der guten Gesellschaft, nicht erwartet werden konnte. Der Athenienser dachte über die Keuschheit des Mannes wie unsere Vorfahren über die Trunkfälligkeit. Diese letzten fühlten wohl, daß Mäßigkeit ein Vorzug, und Trunkenheit ein Fehler sey; aber sie sahen jene als eine Vortrefflichkeit an, die dem großen Haufen nicht angemuthet werden könnte, und fanden etwas Außerordentliches in dem Manne, der von einer so gemeinen Schwäche frey war. Wir finden heut zu Tage dieß Außerordentliche weder in dem mäßigen Trinker, noch in demjenigen, der die Triebe der Geschlechtssympathie vor unerlaubter Ausgelassenheit zu bewahren weiß, und bey uns trifft den Uebertreter des Anstandes und der Sittlichkeit in beyden Punkten eine viel schärfere und viel ausgebreitetere Rüge.


Drittes Kapitel.
Fortsetzung.

Der wohlerzogene Athenienser billigte folglich die Ausschweifungen der körperlichen Geschlechtssympathie keinesweges; selbst diejenigen, welche wechselseitige Zuneigung herbeyführte, hatten keinen unbedingten Anspruch auf seinen Beyfall; er hielt es weder für schön, noch für edel, den Begierden auf solche Art zu huldigen: es war [143] immer eine Schwäche, ein Fallen. Aber er übte eine Nachsicht dagegen aus, die nicht in unser Klima, zu unserer Organisation, nicht in unsere Religionsbegriffe, Erziehung und politische Verfassung paßt. Eben diese Nachsicht hatte nun den größten Einfluß auf das Urtheil der Athenienser über die dauernderen Verbindungen zwischen Männern, die einen zärtlichen und leidenschaftlichen Charakter annahmen. Glaubten sie wirklich, daß diese Verbindungen rein vom Einfluß des Körpers, über die Gefahren, ja über den wirklichen Fall der Sinnlichkeit hinausgesetzt wären? Gewiß nicht! Aber wie konnten sie denn Verbindungen dieser Art gestatten? Ein Beyspiel wird die Sache erklären.

Die Cicisbeatura in Spanien und Italien ist gewiß der Treue, die Gatten sich unter einander schuldig sind, äußerst gefährlich. Die Sitten dieser Länder authorisieren gewiß den Ehebruch eben so wenig, als die Sitten in Athen das Laster der ausgelassenen Männerliebe. Dennoch lassen jene eine engere Verbindung und eine Vertraulichkeit zwischen dem Cicisbeo und der Dame zu, welche die menschliche Schwäche auf mannigfaltige Proben setzt, und denen sie, ihrer Ueberzeugung nach, nicht gewachsen ist. Aber sie verblenden sich willkührlich über die Mißbräuche, welche diese Verhältnisse nach sich ziehen, sie machen es entweder zur Pflicht, sie für unschuldig zu halten, oder sehen dem wirklich eingetretenen und nicht zu verkennenden Falle nach, wenn nur dieser den Anstand nicht frech unter die Füße tritt, und das Ansehn und der Werth der verbündeten Personen eine Entschuldigung für ihre Schwäche mit sich führt. Warum? Diese Cicisbeaturen haben die Autorität der Rittergalanterie, der Petrarcalischen Liebe, und selbst das Beyspiel einiger wirklich [144] tugendhaften Verbindungen für sich; sie sind in die Geschichte, in die Künste, in die geselligen Einrichtungen dieser Völker genau verwebt; sie mildern das Loos schlecht gepaarter Ehen, sie tragen zur geselligen Bildung der Jugend, und zur Unterhaltung bey; sie beugen ärgern Ausschweifungen vor; kurz, sie sind eben so reitzend als unentbehrlich. Aus allen diesen Gründen kann die Cicisbeatura bey den Spaniern und Italiänern, ungeachtet aller Gefahren und Mißbräuche, die dem größten Theile dieser Verhältnisse drohen, auf ein Interesse rechnen, das jedesmahl eintritt, wenn die Personen, die dadurch vereinigt werden, sich durch Gleichheit des Ansehns und innerer Vorzüge auszeichnen, und des äußern Anstandes schonen. Dieß Interesse fällt aber weg, und macht der Verachtung Platz, sobald Personen von ungleichem Stande sich mit einander verbinden, oder wenn die Verbündeten von gleichem Stande durch ihr Betragen zeigen, daß der Zweck ihrer Vereinigung auf die Befriedigung solcher Begierden geht, die man verzeiht, wenn sie der Sympathie der Seelen untergeordnet sind, und sich neben dieser einschleichen, die man aber bar für sich nicht für gültig annehmen würde. Man sieht Fehlern nach, die edle Triebe unterstützen, aber man verdammt den Frevel, der sich unbegleitet von Tugenden darstellt.

Ungefähr so verhielt es sich mit der Liebe zu den Lieblingen nach den Sitten der Athenienser. Ihr erster Ursprung ist in den Heldenverbrüderungen jener ersten Wohlthäter der menschlichen Gesellschaft zu suchen, welche durch Ausrottung wilder Thiere und Räuber den Nahmen der Halbgötter verdienten. Spuren solcher Waffenbrüder findet man unter allen Nationen, auf der Stufe, wo sie zur Kultur übergehen. Gegenseitige Hochachtung [145] für die Tugenden des damahligen Zeitalters, für Muth, Stärke, Beharrlichkeit, Treue: Gefühl eines wechselseitigen Nutzens unter gleichen dauernden Lagen, zog diese Personen an einander an. Sie verbanden sich zur Abwehrung gemeinschaftlicher Gefahren, zur Erreichung gleicher Zwecke; und lange Gewohnheit, das Erleben vieler Begebenheiten mit einander, knüpfte das Band immer fester. Vielleicht läßt sich schon hieraus allein das Leidenschaftliche dieser Heldenfreundschaften erklären, das so weit ging, daß der Freund sich willig für die Erhaltung des Freundes aufopferte, und seinen Verlust nicht überlebte, wenn er ihn gerächt hatte. Vielleicht aber waren diese Verbindungen unter einem Volke, dessen Sinnlichkeit durch Klima und Organisation so reitzbar war, bereits von allen Fehlern der spätern Liebe zu den Lieblingen angesteckt, und vielleicht muß auf diesen Umstand ein Theil der leidenschaftlichen Aeußerung gesetzt werden, womit sich diese Verbindungen in der Geschichte ankündigen.

Wie dem auch sey: diese Heldenfreundschaften waren in die Mythologie und Geschichte der Griechen und besonders der Athenienser verwebt, die sogar einem solchen Heldenpaare, dem Harmodius und Aristogiton, die Wiederherstellung ihrer Freyheit verdankten. Sie erhielten dadurch einen Reitz, der demjenigen, welchen die Rittergalanterie für uns hat, völlig gleich kommt, ja sogar übertrifft. Die Nahmen: Castor und Pollux, Theseus und Pyrithous, Orestes und Pylades, Achilles und Patroklus, und die eben genannten Harmodius und Aristogiton, bezeichneten Heldenpaare, die von dem Volke, in dessen Künsten, Religion und Chroniken sie auftraten, nicht ohne [146] Interesse und Ehrfurcht genannt werden konnten. Und gesetzt, daß auch der Verdacht eines zweydeutigen Umgangs über diese Verbrüderungen nach der allgemeinen Meinung geschwebt haben sollte, so ward dieser doch durch das Ueberwiegende der Tugenden, welche darin herrschend waren, an seiner Lebhaftigkeit gehindert, oder gar erstickt. –

So kam denn der Begriff leidenschaftlicher Verbindungen zwischen Männern, mit einem feyerlichen Interesse verknüpft, auf die Athenienser in dem Zeitalter der Republik, und wir finden in den beyden Gastmählern des Xenophon und Plato mehrere Beziehungen auf diese allgemein verehrten Heldenpaare. Allein die Fortsetzung dieser Verbrüderungen in spätern Zeiten brachte auch die größten Vortheile für den Staat und für die Bildung und Sitten zuwege.

Selbst nach der höchsten Ausbildung der Kriegskunst bey den Alten ward man noch in jeder Schlacht handgemein mit dem Feinde. Hier konnte ein Angriff, eine Vertheidigung, die Paarweise geschahen, nicht gleichgültig seyn. Hier ward es wichtig, den jüngern Geliebten neben den ältern Liebenden hinzustellen, auflodernden Muth, brennende Ehrbegierde mit Erfahrung und überlegter Tapferkeit zu paaren, beyde aber durch stärkere Bande mit einander zu vereinigen, als bloße Mannszucht, Bürger- und Vaterlandsliebe, und selbst bloße Freundschaft knüpfen können. So rettete denn auch Sokrates seinem Alcibiades das Leben, und so fiel Epaminondas seinem Asopirhus zur Seite, indem sie zu gleicher Zeit für den Staat und für einander fochten. Die Kretenser behaupteten, daß ein kalter, frostiger Krieger, den nur Mars beseelte, dem feurigen, [147] vom Amor beseelten Liebhaber nicht widerstehen könne, und Lykurg, der seine Gesetze von den Kretensern entlehnte, Lykurg, der einen kriegerischen Staat bildete, empfahl die Liebe der Männer unter einander als die schönste Anleitung zu derjenigen Tugend, die er seinen Landsleuten, den Spartanern, einzuflößen suchte.

Aber nicht bloß im Kriege war diese zärtliche und leidenschaftliche Paarung der Männer wichtig. Sie stand in genauer Beziehung mit der republikanischen Verfassung, worunter die Griechen, und besonders die Athenienser lebten. In Staaten, deren Bestehen so ganz auf persönlicher Anhänglichkeit der Bürger an einander beruht, wo das Gute oft nicht anders bewirkt werden kann, als durch enthusiastisches Vertrauen zu der Person des einzelnen Bürgers: wo selbst Partheygeist nothwendig wird, um den Freyheitssinn stets wach und rege zu erhalten; wie wichtig war es da, das Herz früh und ununterbrochen zu gewöhnen, der Liebe alles, und nichts dem Zwange aufzuopfern!

Endlich war diese Männerliebe sehr nützlich für die Erziehung der Jugend. Diese ward zu Leibesübungen, zur Kenntniß der Muttersprache und der Volksdichter durch Lehrer angeführt, die besonders dazu bestellt waren. Aber die Staatswissenschaft, das Privatrecht, die Behandlung der Geschäfte überhaupt, scheint sie in dem Umgange mit erfahrnen und thätigen Männern diesen praktisch abgelernt zu haben; und selbst der Unterricht über die Pflichten des Menschen und des Bürgers, der keinen Theil der gottesdienstlichen Verehrung ausmachte, scheint ihr mehr bey zufälligen Gelegenheiten und Veranlassungen im [148] Gespräch, als durch an einander hängende Lektionen mitgetheilt zu seyn. [10] Wie viel anders mußte hier die Sorge des Liebhabers für die Ausbildung des Geliebten, und der Eifer des letzten, sie zu nutzen, seyn, als wenn der junge Mann entweder von dem Miethlinge lernt, oder die Mittel zur Ausbildung seines Geistes und seines Herzens ohne alle Schwierigkeiten findet! Wie wichtig, wie edel wurden dadurch diese Verbindungen! Darum nannte schon Solon die Liebe der Männer eine Mutter aller Tugend: darum empfahlen sie alle Weltweisen als das zuverlässigste Mittel, junge Seelen dazu anzuführen.

Diese Vortheile waren der Grund, warum die Athenienser so nachsichtig gegen Mißbräuche waren, die sich leicht in diese Verbindungen einschleichen, aber zu gleicher Zeit die Begeisterung und die Innigkeit erhöhen konnten, womit diese Bürgerpaare an einander hingen. Sie billigten die Richtung, welche eine ausgelassene Sinnlichkeit zu Körpern des nehmlichen Geschlechts nahm, nicht unbedingt, nie, wenn die Verbindung allein auf bloße Befriedigung einer unreinen Lust ausging. Sie nannten ein solches Verhältnis: eine gewöhnliche, pöbelhafte Liebe, die sich nicht um den Werth, um das Wohl des Geliebten bekümmerte, seine Seele durch schändliche Gewinnsucht zu verderben suchte, und ihn verließe, wenn sie zu ihrem verworfenen Zwecke gelangt war. Vor dieser Liebe suchten die Väter ihre Kinder zu bewahren: diese mißbilligten sie an den Lesbischen Weibern, nach deren Lage gegen [149] den Staat an ein edleres Band zur Ausbildung der Tugend nicht zu denken war.

Hingegen die himmlische Venus flößte eine ganz andere Liebe ein. Diese suchte Jünglinge auf, deren Geburt und Anlagen den Staat zu den größten Hoffnungen in Rücksicht der Dienste, die sie ihm leisten würden, berechtigten. Mit diesen vereinigte sie sich, unter gleichen Verhältnissen in allem, was den Griechen das Liebste war, und was sie allein edel und schön nannten. Der junge Mann theilte die geselligen Freuden des reifern in größern Zusammenkünften, besuchte mit diesem die öffentlichen Oerter, und besonders die Gymnasien. Der Liebhaber und der Liebling erkannten wechselseitig den Werth des Bürgers in einander an, und hielten sich gegenseitig eines Wohls fähig, das sie nur als Bürger genießen konnten. Sie trafen in einem Genuß zusammen. Hier fand also wahre Zärtlichkeit, wahre Paarung der Naturen zu einer Persönlichkeit Statt. Und darum ward sie auch in der Verbindung zwischen Männern viel allgemeiner anerkannt, als in der Verbindung zwischen dem Manne und dem Weibe. Ja, sie war diejenige Liebe, welche die Athenienser im eigentlichen Sinne edel und schön nennen konnten. Denn sie war es allein, der man eine Erhebung über gröbere körperliche Triebe zutrauen, der man den edeln Grund einer wechselseitigen Achtung für Bürgervortrefflichkeit, und den edeln Zweck der Beförderung des allgemeinen Wohls durch Besorgung des partikulären beylegen konnte. Und zu Gunsten dieser Vortheile mochte sich denn auch hie und da einige Sinnlichkeit mit einmischen: man übersah es; sie diente die Begeisterung zu verstärken, [150] mit der die Liebenden an einander hingen, und die sie zu allen Aufopferungen, welche der Staat und die Ruhmbegierde von ihnen forderten, geschickter machten. Dennoch mußten sich diese nicht ohne Kampf ihren Trieben überlassen. Schwäche blieb es allemahl, ihnen bis zu groben Ausbrüchen zu huldigen. Aber wenn sie endlich der Gewalt der Sinne wichen, so war die Gunst, die der Liebhaber nahm, ein verzeihlicher Gewinnst, den er bey seinen edeln Bemühungen um das Wohl des Lieblings davon trug; so war die Ergebung des letztern eine Belohnung, die in seiner Dankbarkeit für so viele wahre Wohlthaten, die er empfangen hatte, ihre Endschuldigung fand. [11]

Dieß scheint die Art gewesen zu seyn, wie die gute Sitte in Athen die Liebe zu den Lieblingen betrachtet hat. Den Beweis werden die folgenden Kapitel noch weiter liefern. Hier bemerke ich nur noch, wie durch diese Darstellung alle Widersprüche, und alle Zweifel gehoben werden, die bis jetzt diese Materie umgeben haben. Zuerst zeigt sich der deutliche Unterschied, der zwischen bloßer Freundschaft und jener Liebe eintrat. Mit Recht hat Cicero behauptet, daß diese Verbindung einen leidenschaftlichen Charakter und eine Einwirkung körperlicher Triebe mit sich führte, [151] die nicht in das Wesen der Freundschaft gehörten. [12] Dennoch soll diese Verbindung für rein von Ausschweifungen der Sinnlichkeit[WS 1] gehalten seyn! Wie das? Die Sache ist sogleich erklärbar. Grobe Aeußerungen der körperlichen Geschlechtssympathie sind gar nicht nothwendig, um den Begriff der Geschlechtsliebe, selbst der leidenschaftlichen, zu gründen. Genug, wenn sie die Modifikation einer lüsternen Begeisterung annimmt, die allemahl zur Geschlechtssympathie gehört, und bey der, nach meiner Ausführung im zweyten Theile dieses Werks, so leicht körperliche Triebe im Geheimen mitwirken, wenn anders der Körper desjenigen, dessen Seele geliebt wird, sie zu erwecken im Stande ist. Diese Kraft hatten die schönen Gestalten der Jünglinge bey den Atheniensern um so mehr, als die allgemeine Denkungsart des Volks ihre Wirksamkeit nicht niederschlug. Es läßt sich folglich nicht behaupten, daß die Liebe zu den Lieblingen, wie sie zu den Zeiten der Sokratischen Schule von den Sitten gebilligt wurde, Freundschaft gewesen sey. Sie war vielmehr eine auf Geschlechtssympathie, und selbst auf mitwirkende körperliche Triebe, gebauete Zärtlichkeit, mithin Geschlechtsliebe, und diese brach sogar oft in grobe Symptomen aus. Auf der andern Seite war sie aber auch nicht, was Andere behauptet haben, Folge grober körperlicher Lust. Diese schlich sich nur mit ein, und erhielt zuweilen die Oberhand. [13] Nirgends findet sich beym [152] Xenophon und Plato, die hier beyde die Kardinalquellen seyn müssen, eine Verwechselung der Liebe mit der Freundschaft. Diese letzte war nach ihnen ein zärtliches auf Gewohnheit und Uebereinstimmung der Neigungen gegründetes Band, das aber keines der üppigen, lüsternen, und leidenschaftlichen Symptome mit sich führte, die sie der Liebe beylegen.

Zweytens erklärt sich nun auch aus dieser Darstellung der Denkungsart der wohlerzogenen Athenienser über die Liebe zu den Lieblingen, wie sie diese theils haben billigen, theils verdammen können. Der Regel nach war die Richtung, welche die körperliche Geschlechtssympathie auf Personen des nehmlichen Geschlechts nahm, den strengeren Forderungen der Moral zuwider, und ihre schamlose Befriedigung immer unanständig. Eben so wie es heut zu Tage der Ehebruch bey den Spaniern und Italienern, ja selbst, in den verdorbensten Hauptstädten eines jeden andern Landes ist. Darum trugen die Väter Sorge, ihre Söhne davor zu bewahren; darum legte man Werth auf die Enthaltsamkeit in diesem Stücke; darum durfte der Charakter des Weisen mit dieser Schwäche nicht befleckt seyn! Aber wenn es mit Beobachtung des äußern Anstandes geschah: wenn es durch große Vorzüge und Vortheile, welche dauernde Verbindungen ausgezeichneter Männer mit hoffnungsvollen Jünglingen mit sich führten, ausgetilgt wurde: wenn es mehr Folge einer menschlichen Schwäche, als eine zügellose Brutalität war; so ward es verziehen, so erweckten solche Verbindungen sogar ein Interesse, wie ungefähr die Cicisbeaturen in Spanien und in Italien, und die Galanterien, die in Frankreich und dem übrigen Europa [153] gewöhnlich waren, und zum Theil noch sind. Vortreffliche Menschen fanden sich immer, die über ihre Begierden siegten, und dadurch die Unschuld dieser Verbindungen im Kredit erhielten, während daß der Pöbel sich den gröbsten Ausschweifungen ohne Schonung des Anstandes überließ, und dadurch diesen Kredit wieder schwächte. Einige Schwärmer legten diesen Verhältnissen Vorzüge und Absichten bey, die nur in ihrer Phantasie Grund hatten. Einige Spötter machten sich über die Möglichkeit ihrer Unschuld lustig, und sahen sie sämmtlich als zweydeutige Schleier grober Ausgelassenheit an. Alles dieß findet man noch heut zu Tage bey den Beurtheilern der Cicisbeaturen, und anderer ihnen ähnlicher Verbindungen zwischen unverehlichten Männern und Weibern. [14]

Wir wollen nun noch sehen, wie einige Weise darüber dachten, und übergehen die Anschauungsart der Uebrigen.


Viertes Kapitel.
Denkungsart des Sokrates und seiner Schüler über edlere und schönere Liebe zu den Lieblingen, nach der Darstellung des Xenophon.

Die Philosophen, besonders Sokrates, nahmen die Liebe zu den Lieblingen, so wie die gute Sitte sie ihnen darbot, auf, und suchten sie mehr zu veredeln und zu [154] verschönern. Aber eben dieß gab dem Pöbel und den Spöttern Veranlassung zum Verdacht, als wenn sie von den Schwächen des großen Haufens nicht frey wären. Dieser Verdacht traf auch den Sokrates. Zwey seiner Schüler, Xenophon und Plato, haben ihn von diesem Vorwurfe zu befreyen, und zugleich seine wahren Grundsätze über die Liebe zu entwickeln gesucht. Die Nachrichten, welche sie uns darüber liefern, scheinen Anfangs ein wenig widersprechend: sie lassen sich aber am Ende mit einander vereinigen. Es scheint mir interessant zu seyn, einen kurzen Ueberblick ihrer Darstellungen zu liefern, und eine Vergleichung zwischen ihnen anzustellen. Ich fange mit dem Xenophon an.

In den Denkwürdigkeiten dieses Schriftstellers wird Sokrates nicht bloß als ein enthaltsamer Mann geschildert, der sich durch vorsichtige Entfernung von allen Versuchungen, vor der Gefahr unter diesen zu fallen, zu bewahren weiß; sondern als ein abgehärteter Mann, der sich durch Ausbildung seines Charakters gegen alle Versuchungen stark zu machen gewußt hat, und sich daher ruhig und mit festem Schritte ihnen nähert. Er ist mäßig in Speise, Trank, und Befriedigung der Geschlechtssympathie. Diese drey Stücke werden in eine Klasse gesetzt. Besonders machen schöne Gestalten nicht mehreren Eindruck auf ihn, als häßliche, als gewöhnliche Menschen. Aber nicht alle Charaktere haben so viel Gewalt über sich selbst, und daher räth er seinen Schülern, sich durch behutsame Vermeidung aller Gelegenheiten, die zu Schwächen verleiten könnten, vor diesen zu bewahren. Sie sollen sich vor dem Umgange mit Menschen hüten, die sie zur Unmäßigkeit in Speise und Trank verführen könnten: sie sollen [155] aber eben so sehr den genaueren Umgang mit schönen Jünglingen vermeiden. Flucht vor dem Anblick und der Berührung einer schönen Gestalt, wie vor dem Biß der Tarantel, ist für diese schwächeren Menschen das einzige Rettungsmittel.

Xenophon hat diesen Charakter eines starken, gegen alle Versuchung festen Mannes, der aber seine eigene Stärke von andern nicht verlangt, sondern diesen Behutsamkeit anräth, in seinem Gastmahle in Handlung dargestellt. Höchst wahrscheinlich ist ein solches Gastmahl wirklich gehalten worden, wobey Sokrates seine Ideen über die Liebe und über die Schönheit entwickelt hat.

Bey diesem Gastmahle, nach der Schilderung des Xenophon, spielt besonders ein Paar von Liebenden eine wichtige Rolle. Kallias, der Herr des Hauses, hat seinen Geliebten, den Knaben Autolycus, mit dessen Vater zum Essen eingeladen. Autolycus wird mit allen Vorzügen eines ausgezeichneten Jünglings, und mit allen Reitzen eines sittsamen und schönen Mädchens dargestellt. Er hat in den gymnastischen Uebungen bereits den Preis davon getragen. Schamhaftigkeit, Bescheidenheit, Liebe zu seinem Vater, zeigen sich in seinem Betragen, und erhöhen die Schönheit seiner Gestalt. Diese zieht die Augen aller Anwesenden auf sich, die ihre Macht mit starker Rührung empfinden. Einige schweigen, andere verrathen ihre Unruhe durch ihre Geberden. Vor Allen aber zeichnet sich Kallias durch den Eindruck[WS 2] aus, den der Anblick seines Geliebten auf ihn macht. Sein ganzes Wesen trägt Spuren einer schmelzenden Begeisterung an sich.

Xenophon macht hierbey die Bemerkung, daß alle diejenigen, welche von einer Gottheit begeistert werden, [156] ein interessantes Schauspiel gewähren; daß aber diejenigen, welche die Gottheit der keuschen Liebe erfüllt, etwas Zärtlicheres in ihren Augen, eine sanftere Stimme, und eine reitzendere Bewegung in ihren Geberden zeigen. Dieses war der Ausdruck der Liebe des Kallias, der keinem der Gäste, die in den Geheimnissen dieses Gottes eingeweiht waren, entgehen konnte. Die Wirkung, welche dieß Alles auf die Gäste machte, war so stark, daß sie schweigend saßen, nicht anders, als ob die Anwesenheit eines höhern Wesens ihnen diese stille Ehrfurcht geboten hätte. Nicht einmahl der Witz eines privilegierten Spaßmachers konnte sie in dieser Andacht stöhren.

Gegen das Ende der Mahlzeit wird jedoch diese feyerliche Stimmung durch einen Syracusaner unterbrochen, der in Begleitung eines Paars artiger Mädchen und eines schönen Knaben künstliche Sprünge und Tänze, unter Begleitung einer Flöte und einer Zither, von dieser Jugend aufführen läßt. Die Gechicklichkeit, mit der sie sich dabey benahm, gab dem Sokrates Gelegenheit, von der Nothwendigkeit zu reden, den Körper auszubilden, und die Bemerkung zu machen, daß auch Weiber Anlagen besitzen, die der Ausbildung fähig und werth sind. Seiner Meinung nach fehlt es ihnen nur an überlegender Klugheit und Stärke. Er setzt hinzu, daß die Bewegung der Gestalt vortheilhafter sey, als die Ruhe. Alles in offenbarer Beziehung auf die Würdigung des wahren Werths der Schönheit! Denn nach dem Xenophon sah Sokrates den Körper als den Agenten der Seele und ihrer thätigen Tugenden, Tapferkeit und Führung der Geschäfte, an. War der Körper in dieser Rücksicht [157] zweckmäßig, so war er auch schön; und überhaupt gab nur dasjenige dem Menschen Werth, was er durch Anstrengung, Ausbildung, Leitung seiner Kräfte, besonders auch der körperlichen, sich zu eigen machte. Alles Uebrige war zufällig, und dem Menschen fremd. – –

Laßt uns bemerken, daß bey den Griechen die Untersuchung über die Liebe beynahe immer mit Untersuchungen über das Schöne und Begehrungswerthe verbunden waren.

Das Gespräch wird nun auf die Vorzüge hingeleitet, um derentwillen sich jeder der Gäste schätzen zu können glaubt. Alle nach der Reihe geben an, was den Grund ihres Stolzes ausmacht. Kritobulus rühmt sich seiner Schönheit. „Kannst du uns dadurch besser machen?“ fragt Sokrates, „nur das allein bestimmt den Werth des Menschen!“ – Jetzt ein schöner Zug von dem jungen Autolycus: ein wichtiger Beytrag zur Charakteristik seiner Sittsamkeit, und der keuschen, aber begeisterten Liebe, die Kallias für ihn empfindet!

Der Vater des jungen Menschen, Lycon, wird gefragt, worauf er stolz sey? „Auf meinen Sohn,“ sagt dieser. „Vielleicht,“ fragt ein anderer, „weil er in den gymnastischen Spielen den Preis davon getragen hat?“ – Autolykus erröthet, und indem er das Wort für seinen Vater nimmt, antwortet er bescheiden: „Gewiß! darauf kann er nur wenig Werth legen!“ Alle freuen sich, den Knaben reden zu hören, und nun wird auch er gefragt, worauf er sich denn etwas einbilde? „Auf meinen Vater,“ antwortet dieser, und schmiegt sich schmeichelnd an diesen an. Bey diesem Anblick ruft sein Liebhaber, Kallias, voll Begeisterung [158] aus: „O Lycon! Der Besitz dieses Sohnes macht dich zum reichsten Manne. Du würdest ihn für keine Krone weggeben!“

Wenn man an die Stelle des Sohns eine sittsame Tochter ihrem edeln Liebhaber gegenüber setzte, würde sich noch heut zu Tage ein reitzenderes und durch seine sittliche Einfalt rührenderes Gemählde denken lassen?

Autolicus ist schätzbarer durch seine innern als äußern Vorzüge, und Kallias liebt ihn, ganz gegen die Gewohnheit anderer Liebhaber aus der Ursache, weil er so sehr an seinem Vater hängt.

Man sieht deutlich, daß Xenophon für dieß liebende Paar, das er auch in der Folge als Muster aufstellt, hat interessieren wollen. Darum hebt er es nun noch durch den Kontrast. Critobulus, eben derjenige, der sich vorher seiner Schönheit wegen gepriesen hatte, sucht die Gewalt, welche diese über die Menschen ausübt, darzustellen. Er schlägt sie nach dem Eindrucke an, den sie auf ihn selbst in andern macht. „Meinen Geliebten, Clinias, zu sehen,“ sagt er, „ist mein höchster Wunsch, und mein größter Genuß! Ich zürne auf die Nacht, die mich seines Anblicks beraubt, und der Tag wird mir theuer, der mir ihn wieder giebt. Der schöne Mensch braucht nicht so wie der starke, der muthige, der weise, durch Arbeit, Bestehung von Gefahren, oder Reden, Güter zu erlangen. Er kann ruhen, und dennoch steht ihm alles zu Gebote. Ich,“ fährt Critobulus fort, „ich weiß den Werth der Glücksgüter wohl zu schätzen, und dennoch würde ich mein ganzes Vermögen dem Clinias lieber hingeben, als etwas von Andern annehmen. Ich würde gern sein Sklave seyn, mich keine Arbeit verdrießen lassen, und [159] gern jede Gefahr für ihn übernehmen. Durch die Liebe, welche die Schönheit einflößt, werden diejenigen, welche sie empfinden, freygebiger, muthiger, standhafter, edler, bescheidener. Man sollte lauter schöne Feldherrn wählen. Für den Clinias würde ich durchs Feuer gehen, und gewiß Alle, die ihn kennen, würden mich begleiten!“

Critobulus bleibt der gemeinen Denkungsart treu, die in der Macht der Schönheit einen Antrieb zur Bürgertugend fand, aber zugleich die ganze Gewalt, die sie über die Sinne ausübt, und den Zweck, der am Ende mit dabey zum Grunde liegt, anerkennt. Sokrates nimmt bald darauf Gelegenheit, von der Gefahr der Küsse zu reden, die sich Critobulus gegen den Clinias erlaubt hat. „Nichts,“ sagt er, „erweckt so leicht die Liebe als Küsse! denn sie sättigen nicht, und geben die Ahnung einer höheren Lust. Vielleicht wird diese Liebe, weil sie sich auf die bloße Umarmung beschränkt, mit der edleren Liebe, die allein in der Seele wohnt, verwechselt.“ Scherzhaft gesteht Sokrates selbst ein, daß ihn einst eine unvorsichtige Annäherung an den schönen Critobulus in große Bewegung gesetzt habe. Es erhebt sich ein Streit zwischen dem Critobulus und ihm über die Frage: wer von ihnen beyden der schönere sey. Sokrates behauptet, daß seine Gestalt den Vorzug verdiene, weil sie zweckmäßiger zum Dienst seiner Sinne eingerichtet sey. Auch hier liegt der Satz zum Grunde, daß die Gestalt nur in so fern Werth habe, als sie brauchbar ist, die Wirksamkeit der Seele zu unterstützen.

[160] Dieß Alles [15] geht der eigentlichen Rede des Sokrates über die Liebe zum Voraus, steht aber mit der folgenden Entwickelung seiner Ideen in dem genauesten Zusammenhange.

Er hebt damit an, von der Allgemeinheit der Liebe zu reden. Er selbst hat immer geliebt. Charmides hat viele Liebhaber gehabt, und hat jetzt Geliebte. Critobulus liebt schon wieder, und wird noch geliebt. Nikerates liebt seine Frau, und wird wieder von ihr geliebt. Hermogenes liebt den Ruf eines rechtschaffenen und biedern Mannes. – Dann fährt er fort, der Liebe des Callias zum Autolycus eine Lobrede zu halten. Die ganze Stadt, selbst viele Auswärtige, sind davon unterrichtet; so berühmt sind ihrer Beyder Eltern, so sehr haben sie selbst bereits die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Callias“, fährt Sokrates fort, „ich habe deinen Charakter stets geschätzt, aber jetzt verdienst du besonders meinen Beyfall durch die Liebe, die du einem Jüngling schenkst, der kein Weichling ist, und allgemein anerkannte Beweise seiner Stärke, seines ausdauernden Muths, und seiner Mäßigkeit an den Tag legt. Eine solche Wahl bringt auch demjenigen Ehre, der sie trifft. Ich weiß nicht, ob es wirklich eine doppelte Venus, eine himmlische und eine gemeine giebt. Denn auch Jupiter, ob er gleich einzig ist, hat mehrere Beynahmen. Aber das weiß ich, daß ihr Dienst verschieden, [161] und daß die Verehrung, die man der himmlischen Venus zollt, die reinere ist. Die gemeine flößt die Liebe zum Körper ein, aber die himmlische gewährt die Liebe zur Seele, zu freundschaftlichen Neigungen, zu ehrbringenden Thaten. Und diese Liebe, theurer Callias, ist die Deinige. Dafür bürgt mir die Sittsamkeit deines Geliebten, und deine Vorsicht, den Vater zu deinen Zusammenkünften mit ihm zuzuziehen. Denn ein guter und rechtschaffener Liebender macht den Vater zu seinem Vertrauten. Welche Vorzüge hat nicht diese Liebe der Seele vor der zu dem Körper? Ohne Freundschaft kann keine Verbindung angenehm seyn, und ein Band, das durch gegenseitige Achtung für Sitten und Charakter geknüpft wird, ist, obgleich freywillig geschlungen, das stärkste unter allen. Wie kann aber dieß unter Personen Statt finden, die den Körper lieben? Ihre Sitten werden von vielen getadelt, und ihr Verhältniß wird gehaßt. Gesetzt nun auch, daß sie sich unter einander liebten, wie kurz wird ihre Zuneigung seyn! Sie vergeht mit der Blüthe der Schönheit, und selbst für diese stumpft sich das Gefühl durch den Genuß ab. Hingegen die Seele wird immer liebenswürdiger, so wie sie an Weisheit zunimmt; und die Liebe zu ihr ist eben darum nie zu sättigen, weil sie keusch ist. Weit entfernt, daß wir durch diese Entbehrung verlieren sollten, belebt vielmehr die Göttin unsere Ausdrücke und Handlungen mit neuem Reitze. Der Geliebte wird gegen eine so edle Liebe nicht unempfindlich bleiben. Wer könnte denjenigen hassen, der uns hochachtet, den wir mehr bekümmert um unsern Ruf als um sein eigenes [162] Vergnügen sehen, und der uns die Ueberzeugung giebt, daß Alter und Krankheit keine Veränderung in seinen Gesinnungen hervorbringen werden? Welchen Genuß werden sie dann aus ihrer Vereinigung ziehen! Jene freundlichen Blicke, jene zärtlichen Gespräche, jenes wechselseitige Zutrauen, jene gemeinschaftliche Freude an ihren Tugenden, jene ungetrennte Theilnahme an ihrem Unglück, so wie jene stete Heiterkeit, die ihnen ihr Umgang bey guter Gesundheit einflößt! Krankheit und Abwesenheit werden ihre Aufmerksamkeit und ihre Sorge für einander nur erhöhen; und so liegt in Allem, was sie thun, der Ausdruck der Liebe, einer Liebe, die selbst der Gewalt des Alters trotzt. Alles dieß fällt bey der Körperliebe weg! Warum sollte der Geliebte den Liebhaber lieben? Etwa, weil dieser eine Befriedigung seiner Begierden sucht, die für den Geliebten äußerst unanständig ist? Oder, weil er ihn in seinen nothwendigsten, liebsten Bestrebungen hindert, und verlangt, daß er nur für Liebe leben soll? Derjenige Liebhaber, der Verführung statt Gewalt braucht, verdient am mehrsten den Haß des Geliebten. Denn wer diese anwendet, kündigt sich gleich als einen schlechten Menschen an. Jener hingegen verdirbt unvermerkt den Charakter desjenigen, den er gewinnt. Der Geliebte aber, der sich für schnöden Gewinnst ergiebt, liebt seinen Käufer nicht mehr, als derjenige, der sich auf öffentlichem Markte zum Sklaven verkauft. Er selbst bleibt nüchtern bey dem Anblicke des lüsternen Rausches, den er einflößt, und theilt nicht das Vergnügen, das er giebt. Welch Wunder, wenn er einen solchen Liebenden verachtet! Alle [163] Erfahrung lehrt es, daß diejenigen Verbindungen, die auf die Liebe zu einem tugendhaften Charakter gegründet sind, nichts Nachtheiliges mit sich führen, da hingegen jene unzüchtigen Verhältnisse die Quelle vielfachen Unheils geworden sind. Aber nicht blos gefährlich, auch höchst unanständig sind sie. Wer einen Jüngling zum Reden und Handeln anführt, verdient geehrt zu werden, so wie Chiron und Phoenix vom Achilles geehrt wurden. Wer aber den Körper liebt, folgt dem Geliebten wie ein Bettler, der bald um diese, bald um jene Gunst fleht. Gleich dem Pächter eines Grundstücks, dem die Verbesserung desselben gleichgültig ist, sucht er nur recht viel Vergnügen aus seiner Verbindung zu ziehen, während daß der Freund, dem Eigenthümer des Grundstücks gleich, keine Mühe spart, den Geliebten zu veredeln. Dieser, wenn er fühlt, daß nur seine Gestalt ihm die Herrschaft über den Liebenden gewährt, wird ihn sehr schlecht behandeln. Wenn er hingegen fühlt, daß Rechtschaffenheit und Güte ihm allein das Herz seines Freundes sichern, so wird er mit größerm Eifer der Tugend nachstreben. Der größte Vortheil aber, der demjenigen, der aus dem Geliebten einen braven Freund anzuziehen sucht, gewährt wird, besteht in dem stets regen Antriebe zur Ausbildung seiner eigenen Tugend. Sein Beyspiel muß auf den andern wirken. Ist seine Aufführung schlecht, so kann er den Gefährten nicht veredeln. Zeigt er sich unmäßig und unverschämt, so kann er dem Geliebten keine Mäßigkeit und Bescheidenheit einflößen.“ –

Sokrates sucht nun durch Beyspiele aus der Göttergeschichte seine Lehren zu bekräftigen. „Götter und [164] Helden“, sagt er, „haben die Seelenliebe der körperlichen vorgezogen. Jupiter hat die sterblichen Weiber, deren Umarmung er aufgesucht hat, in der Klasse der Sterblichen zurückgelassen: hingegen hat er diejenigen, deren Seelen er geliebt hat, zur Unsterblichkeit gehoben. Selbst den Ganymed hat er nicht um seines Körpers, sondern um seiner Seele willen in den Himmel gerückt. Homer läßt den Achilles den Tod seines Patroklus nicht als Liebhaber, sondern als Genosse rühmlich rächen. Orestes und Pylades, Theseus und Pirithous, und mehrere Andere unter den vorzüglichsten Halbgöttern sind nicht durch die ausgelassene Befriedigung ihrer Lüste, sondern durch die großen und schönen Thaten berühmt geworden, die sie aus wechselseitiger Achtung für einander verrichtet haben. Wie könnten auch diejenigen, die Wollust dem Ruhme vorziehen, so glänzende Handlungen thun, als diejenigen, die in der Ehre einen Antrieb zu den mühsamsten und gefährlichsten Unternehmungen finden? Pausanias, der Liebhaber des Dichters Agathon, hat zwar diese ausschweifenden Begierden vertheidigen wollen, und behauptet, daß ein Heer, das aus Liebenden und Geliebten bestehen würde, unwiderstehlich seyn müßte. Denn diese, glaubt er, würden sich aus gegenseitiger Scham einander nicht verlassen wollen. Sonderbar genug! wie sollten diejenigen, welche die öffentliche Meinung und sich selbst nicht achten, für das Schändliche überhaupt Scheu tragen? Pausanias berief sich auf die Thebaner und Eleer, bey denen es Gesetz war, daß diejenigen, welche sich auf die gemeine Art lieben, neben einander in der Schlacht gestellt werden mußten. [165] Aber dieser Grund scheint mir nicht durchschlagend zu seyn. Bey jenen Völkern sind Verhältnisse dieser Art von den Gesetzen gebilligt; bey uns werden sie für unanständig gehalten. Und gewiß! Diejenigen, die man in ein Glied zusammenstellen muß, scheinen mir nur Mißtrauen zu verrathen, und erwecken den Verdacht, daß, wenn sie allein gestellt würden, sie den Ruhm tapferer Männer nicht bestehen würden. Die Lacedämonier hingegen, welche glauben, daß die gemeine Liebe die Begierde nach allem Edeln und Guten austilge, stellen ihre Liebenden nicht zusammen, und dennoch verlassen diese ihre Reihen nicht. Aber bey ihnen ist auch Schamhaftigkeit, nicht freche Ausgelassenheit, eine Gottheit!

Vielleicht würde nur eine Meinung hierüber Statt finden können, wenn man sich die Frage beantworten wollte: wem man am liebsten sein Vermögen und seine Kinder anvertrauen möchte, demjenigen, der um der Seele, oder demjenigen, der um des Körpers willen geliebt wird? Mich dünkt, daß selbst derjenige, der die Gestalt auf eine grobe Art liebt, demjenigen eher trauen werde, dessen Seele er liebenswürdig finden muß.“

Nun wendet sich Sokrates zum Callias. „Danke den Göttern“, sagt er zu ihm, „daß sie dir Liebe zum Autolykus eingeflößt haben. Er hat durch die That bewiesen, welche edle Ruhmbegierde in seiner Brust wohnt, da er sich keine Anstrengung, keine Mühe hat verdrießen lassen, um den Preis in den gymnastischen Spielen davon zu tragen. Ueberzeugt, wie er es ist, daß er durch ausgezeichnete Verdienste sich [166] selbst und seinem Vater Ehre machen, seinen Freunden durch Tugend wohlthun, sein Vaterland erheben, und durch Trophäen über unterjochte Feinde bey den Griechen und Barbaren seinen Nahmen verherrlichen werde, wie sollte er nicht denjenigen besonders ehren, den er bey allen diesen Thaten zum trefflichsten Beystande gewählt hat? Ihm zu gefallen, strebe den edelsten und vorzüglichsten Mustern nach: einem Themistokles, dem Befreyer Griechenlands: einem Perikles, dem erfahrensten Staatsmann: einem Solon, dem weisesten Gesetzgeber! Studiere die Einrichtungen, wodurch unsere Nachbaren, die Lacedämonier, sich so groß im Kriege gemacht haben, und suche Gastfreundschaft mit den Edelsten unter diesem Volke zu unterhalten! Bald wird dann die Republik deine Dienste suchen. Du trittst unter den günstigsten Verhältnissen auf: deine Geburt, die Stelle, die du bereits bekleidest, und dein Körper von ausgezeichneter Gestalt und Stärke, begründen deine Ansprüche. Verzeiht“, setzte Sokrates am Ende hinzu, „wenn meine Rede für ein Tischgespräch zu ernsthaft geworden ist. Aber neben der Republik habe ich immer diejenigen am mehrsten geliebt, die sich durch glückliche Anlagen, und durch ihre Begierde nach Ruhm und Tugend auszeichnen.“

Beym Schlusse dieser Worte warf Callias seine Augen auf den Autolykus, dessen Blicke den seinigen begegneten. „Ja! Sokrates“, rief er aus, „du hast mich dem Staate gewonnen, ihm will ich zu gefallen streben, und alle meine Kräfte forthin den öffentlichen Angelegenheiten widmen!“

[167] Hiermit endigt sich das Gespräch. Es folgt aber noch ein Nachspiel, das allerdings mit zu der Oekonomie des Ganzen gehört: eine Scene, die den Sokrates aufs Neue in seiner Stärke gegen die verfeinerten Versuchungen körperlicher Triebe darstellen soll. Aber von dieser Scene entfernt Xenophon den sittsamen Autolykus. Dieser geht mit seinem Vater spatzieren, und macht einem pantomimischen Drama Platz, in dem die Spiele der gemeinen Venus mit allen ihren Lockungen dargestellt werden sollen.

Ariadne, als Braut geschmückt, sitzt auf einem Throne. Bacchus, dessen Lebensgeister durch den Genuß des Weins erhöht sind, tritt unter Begleitung von Musik auf. Man sieht der Ariadne an, wie sehr diese Erscheinung auf sie wirkt, aber sie behält Gewalt genug über sich selbst, um dem Liebhaber nicht entgegen zu gehen. Bacchus drückt seine liebenden Empfindungen durch den Tanz aus, und läßt sich endlich auf die Kniee vor ihr nieder. Er umarmt, er küßt Ariadnen. Sie streitet anfangs mit ihrer Schamhaftigkeit, endlich giebt sie ihm seine Küsse zurück. Die Gäste rufen laut auf, und klatschen Beyfall. Nun überlassen sich die beyden Liebenden ihren wechselseitigen Umarmungen. Beyde sind schön, Beyde bringen den wahrsten Ausdruck in ihre Geberden. Bacchus fragt Ariadnen, ob sie ihn liebe? Sie betheuert es, und Beyde spielen mit so viel Natur, daß man hätte schwören sollen, die beyden Schauspieler liebten sich im Ernst. Die Zuschauer, welche ahnen, daß die Liebenden sich nach höheren Freuden sehnen, gerathen in die stärkste Bewegung. Die ledigen Personen unter ihnen nehmen [168] sich fest vor, zu heirathen; die Verheiratheten schwingen sich zu Pferde, um zu ihren Gattinnen zu eilen. Aber Sokrates steht mit dem Callias auf, um den Lycon und seinen Sohn auf dem Spatziergange aufzusuchen.

Nach diesem Auszuge aus dem Gastmahle des Xenophon leidet es keinen Zweifel, daß dieser Philosoph die Schönheit der Gestalt an sich für einen gleichgültigen Vorzug, aber ihrer Wirkungen auf die Sinnlichkeit wegen für eine höchst gefährliche Eigenschaft gehalten habe. Er betrachtet die körperlichen Triebe überhaupt als Schwächen, denen zu huldigen dem edleren Manne unanständig ist. Sogar ihre Richtung gegen die Weiber ist ein bloßer Zug der gemeinen Natur im Menschen. „Jupiter“, sagt Sokrates, „hat die Weiber, mit denen er sich abgegeben hat, in der Klasse der Sterblichen gelassen, hingegen die Männer, deren Seelen er geliebt hat, zur Unsterblichkeit gehoben.“ Als die übrigen verheiratheten Männer bey erwachter Lüsternheit sich zu ihren Gattinnen begaben, so geht der Held des Stücks, der gleichfalls verheirathet war, mit dem Callias zum Autolykus und seinem Vater. – Weiber sind nach ihm allerdings einer gewissen Veredlung fähig, aber so wie sie sind fehlt es ihnen an überlegender Klugheit und Stärke. Jünglinge, die große Anlagen und Ruhmbegierde zeigen, haben allein Anspruch auf seine Zuneigung. Aber der Körper kommt dabey nicht weiter in Anschlag, als in so fern er zum zweckmäßigen Agenten der Seele dient.

Von der Liebe zu Jünglingen ist die Befriedigung unanständiger Begierden ganz ausgeschlossen. [169] An ihre Stelle treten Bande, welche die Seelen an einander knüpfen. Sokrates fühlt das Wesen der Liebe sehr gut, und setzt es in die Anerkennung des Werths eines Andern, und in die Beförderung seines Wohls. Diese Liebe erhält dadurch ihre größte Veredlung, daß die Liebenden sich einander das höchste Gut, Bürgertugend, mitzutheilen suchen, und in dem Genuß ihres gemeinschaftlichen Ruhms zusammentreffen. Hingegen ist die Körperliebe keine wahre Liebe, sondern ein bloßer egoistischer Trieb, der auf Herabwürdigung des Geliebten zur Büßung einer einseitigen Lust abzweckt. Alles, was hierüber gesagt wird, ist, wie mich dünkt, eben so fein und richtig gefühlt, als plan und eindringend gesagt.

Allein nun fragt es sich: ist die Liebe, die Zärtlichkeit, welche Sokrates nach dem Xenophon empfiehlt, Freundschaft oder Geschlechtsliebe? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht, und nur dadurch möglich, daß wir uns genau an die Erklärung, die von beyden Verhältnissen früher gegeben ist, halten, und die verschiedenen Modifikationen der Geschlechtssympathie nicht vergessen.

Versteht man unter Geschlechtsliebe eine Zärtlichkeit, die mit groben Symptomen der körperlichen Geschlechtssympathie, mit dem deutlichen, nicht bekämpften Bestreben nach Körperverbindung verknüpft ist; so kann man geradezu behaupten, daß Sokrates diese Geschlechtsliebe verboten und gemißbilligt habe. Er verlangt Behutsamkeit, um der Lüsternheit auszuweichen, und kräftigen Widerstand, wenn sie sich meldet. – Allein nach den näheren Bestimmungen, die wir im ersten Theile dieses Werks festgesetzt haben, [170] giebt es eine feinere Geschlechtssympathie des Körpers, wobey die Symptome der Lüsternheit nur sehr schwach sind: giebt es ferner eine Geschlechtssympathie der Seele, die sich durch einen schwärmerischen Aneignungstrieb der Geister, durch eine Art von Besessenheit, äußert. Nicht selten, und beynahe jedesmahl, wo der schwärmerisch begehrte Geist in einem Körper wohnt, der körperliche Lüsternheit erwecken kann, wirkt diese im Geheimen mit, und dient dazu, jene Geschlechtssympathie der Seele, jene Besessenheit zu erhöhen. Eine Zärtlichkeit, die auf dieser feineren Geschlechtssympathie beruht, nimmt aber immer noch einen leidenschaftlichen Charakter von besonderer Art an, die sich durch schmachtende Sehnsucht, schmelzende Hingebung, und ununterbrochene Vorstellung des Bildes des Geliebten, von den Symptomen der Freundschaft sehr unterscheidet, und die Geschlechtsliebe unwidersprechlich begründet.

Aber auch selbst in dieser feineren Geschlechtsliebe giebt es Stufen. Zuweilen melden sich die körperlichen Triebe gar nicht, bloß der Geist scheint sich den Geist aneignen zu wollen. Zuweilen äußert sich auch dieser schwärmerische Aneignungstrieb der Geister nur mit dunkeln Spuren des schmachtenden Begehrens, der schmelzenden Hingebung, und der Besessenheit von dem Bilde des Geliebten. In diesem letzten Falle kommt die Geschlechtsliebe der Freundschaft so nahe, daß nur die Verhältnisse, worin die Personen in Rücksicht auf Zartheit und Stärke zu einander stehen, die Vermuthung unterstützen kann, daß Geschlechtsliebe bey der Verbindung zum Grunde liege.

[171] Sokrates empfiehlt die Freundschaft in der Liebe aufzusuchen: er giebt dieser Liebe einen wackern, rüstigen Charakter; mithin sollte man wähnen, er habe nur Freundschaft unter Männern zugelassen. Aber warum sagt er denn nicht geradezu, daß Männer nur Freunde seyn sollten: warum spricht er von einer mit Liebe verbundenen Freundschaft, von Liebhabern, von Geliebten, von der Verbindung reiferer Männer mit Jünglingen? Freundschaft findet doch hauptsächlich unter Männern von gleichem Alter, gleichen Verhältnissen Statt; sie beruhet überhaupt auf dem Hange zum Gleichartigen, auf dem Triebe, unsere Stärke durch die Stärke eines Andern, unsere Zartheit durch seine Zartheit zu erhöhen, und uns als Individuen unsers Geschlechts zu verbessern. Wie findet dieser Hang in der Verbindung zwischen dem reiferen Manne und dem Jünglinge, der beynahe noch Knabe ist, Befriedigung? Mehr! Sokrates billigt das Verhältniß zwischen dem Callias und Autolykus, das doch offenbar das Gepräge einer zwar keuschen, aber von der Einwirkung der körperlichen Gestalt nicht befreyeten Leidenschaft an sich trägt: einer Geschlechtsliebe, die man dreist mit derjenigen vergleichen kann, die bey uns ein edler Mann zu einem schönen, aber gebundenen Frauenzimmer empfinden würde, wenn er den Ausbruch seiner Triebe zu unterdrücken suchte!

Ohne dem Sokrates, so wie ihn Xenophon darstellt, sehr genaue Distinktionen zwischen gröberer und feinerer Geschlechtssympathie beylegen zu wollen, erscheint doch so viel klar, daß er dasjenige Verhältniß, das mit Begeisterung und mit einem leidenschaftlichen [172] Zuge nach Vereinigung der Persönlichkeiten verbunden ist, von der Zärtlichkeit, die auf gegenseitiger Achtung und Gewohnheit beruht, unterschieden habe. Diese nennt er Freundschaft: jene Liebe. Es entgeht ihm nicht, daß diese Liebe entweder gröbere Begierden zum Grunde haben, oder auf den feineren Trieben beruhen könne, die das Zarte der Jugend und die Schönheit der Gestalt einflößen. Nun verwirft er diejenige Liebe, welche sich mit groben Symptomen körperlicher Geschlechtssympathie ankündigt, geradezu. Ja! er für sich selbst glaubt für seine jungen Freunde eine reine Freundschaft zu empfinden, welche ihm ihre glücklichen Anlagen, und ihre edle Ruhmbegierde einflößen. Sie hat bey ihm einen rüstigen wackern Charakter, frey von aller schmelzenden Begeisterung, und von aller schmachtenden Sehnsucht. Man muß annehmen, daß die besondere Modifikation, welche das Verhältniß der Zartheit der Jugend zur Stärke seines reiferen Alters diesen Verbindungen nothwendig geben mußte, von ihm, oder vom Xenophon übersehen sey. Und wirklich liegt hierin etwas Dunkles, was nur durch Annahme eines Selbstbetrugs erklärbar wird. Inzwischen konnte es ihm nicht entgehen, und es ist ihm auch, wie man aus dem Zusammenhange des Ganzen sieht, nicht entgangen, daß seine Schüler durch die Reitze der Gestalt ihrer jüngern Freunde auf eine Art angezogen wurden, wobey der Körper eine wichtige Rolle spielte. Er mußte einsehen, und sah es ein, daß ein Zustand, worin körperliche Begierden verhalten, bekämpft, und unterjocht werden, doch ganz andere Wirkungen hervorbringt, als ein Zustand, worin dergleichen [173] Begierden sich gar nicht melden. Die keusche Liebe des Callias zum Autolykus war ja ganz etwas anders, als die Freundschaft, welche er für seine Schüler empfand: und er konnte die schmachtende Sehnsucht, die schmelzende Begeisterung, die darin lagen, nicht verkennen. Demungeachtet billigt er diese Liebe. Wie nun? Wie ist Sokrates von diesem Widerspruche mit sich selbst zu retten? Mich dünkt, auf folgende Art:

Er sah der Schwäche seiner Schüler nach, wenn diese nur durch Rücksichten auf Pflicht und Anstand geleitet wurde: er rechnete darauf, daß verhaltene Triebe, welche die körperliche Gestalt einflößte, die Begeisterung erhöhen und verstärken würden, und nutzte diese, um darauf Verbindungen zu gründen, die höhere Bürgertugend befördern, und sich endlich in bloße Freundschaft auflösen könnten.


Fünftes Kapitel.
Denkungsart des Plato über edlere und schönere Männerliebe, nach seinem Phädrus.

Wir haben vom Plato zwey Dialogen über diesen Gegenstand. Der erste ist unter dem Nahmen des Phädrus, der andere unter dem des Gastmahls bekannt. –

Der erste scheint in früheren Jahren, der letzte in der Reife des Alters geschrieben zu seyn. Ich fange meine Untersuchung mit dem Phädrus an.

[174] Phädrus liest dem Sokrates die Rede des Lysias, eines der berühmtesten Redner seiner Zeit, über den Vorzug der zärtlichen aber leidenschaftlosen Anhänglichkeit vor der leidenschaftlichen Liebe vor. Lysias scheint darin nicht sowohl gegen die körperliche Ausgelassenheit als gegen die Ausgelassenheit des Geistes, gegen die Schwärmerey und den Wahnsinn zu eifern, der den leidenschaftlichen Zustand charakterisiert. Ueberhaupt scheint die Frage: in wie fern das Leidenschaftliche und Schwärmerische in der Liebe Tugend oder Fehler sey, ein gewöhnlicher Streitpunkt zwischen den Sophisten und den Schülern des Plato gewesen zu seyn.

Sokrates macht dieser Rede den Vorwurf, daß der Begriff der Liebe darin nicht gehörig bestimmt sey. Vernunftlose Begierde nach Schönheit zur Befriedigung körperlicher Lust, wenn sie den bessern Willen in uns beherrscht, und mit siegender Macht überwältigt, wird, wie er sagt, Liebe genannt. – Man sieht, daß Sokrates hier nicht allein leidenschaftliche Geschlechtssympathie mit Liebe verwechselt, sondern auch eine tadelnde Bestimmung mit in den Begriff nimmt, die eigentlich nicht hinein gehört, nehmlich die Herrschaft der Begierde über den bessern Theil in uns. Er selbst hat in der Folge diesen Zusatz wieder bey Seite gesetzt.

Allein diese Rede des Sokrates hat auch nur die Absicht, den Phädrus zu überzeugen, daß wenn man einmahl wider die leidenschaftliche Liebe sprechen wolle, es ganz anders und viel besser geschehen müsse und könne, als Lysias es gethan hat. Aber gleichsam als hätte er sich dadurch an dem Eros, dem Gotte der [175] Liebe, versündigt, indem er ihn so allgemein verrufen hat, will er nun auch versuchen, ihm einen Lobgesang zu bringen, und ihn dadurch zu sühnen. „Wenn uns ein edler und bescheidener Liebhaber überhört hätte“, sagt er, „er würde glauben, wir wären unter dem niedrigsten Pöbel erzogen, und edle Liebe sey uns unbekannt.“

Um folglich diesen Fehler wieder gut zu machen, bemerkt er zuerst, daß es mehrere Arten von Begeisterung gebe, die an Wahnsinn und Raserey zu grenzen scheinen, und dennoch nützliche und schöne Wirkungen hervorbringen. Er erinnert an diejenige, welche die Seherinnen in Delphos, die Priesterinnen in Dodona, die Sybille, erfüllt, und diese Personen zur Weissagung fähig gemacht hat. Eine solche Begeisterung nennt er die göttliche. Dann kommt er auf die der Musen, die zu Gesängen entflammt, welche die Nachwelt unterrichten; und endlich sucht er zu zeigen, daß der gespannte und entzückte Zustand, der die leidenschaftliche Liebe begleitet, ihr nicht unbedingt zum Vorwurfe gereiche.

In dieser Absicht entwickelt er vorläufig die göttliche und sterbliche Natur des Menschen. „Jede Seele“, sagt er, „ist unsterblich, weil sie den Grund ihrer Bewegungen in sich selbst hat: nur Dasjenige ist unbelebt und seelenlos, was den Grund aller in ihm vorgehenden Veränderungen außer sich findet. Ihr übriges Wesen läßt sich am leichtesten durch Bilder erklären.“

Die Seele gleicht einem geflügelten Gespanne mit seinem Führer, deren vereinte Kraft einen Wagen bewegt. Alle Götter haben Seelen, die man sich [176] unter diesem Bilde denken muß. Allein bey ihnen ist das Gespann und der Fuhrman von unverbesserlicher Vollkommenheit. Nicht so bey den Wesen einer niedrigeren Gattung. Bey dem Menschen ist das eine Roß schön und gut, das andere aber schlecht; daher hat dasjenige, was in uns herrscht, der Wagenlenker, kein leichtes Geschäft.

„Jede Seele waltet über das Seelenlose, und umwandelt den ganzen Himmel, jedoch unter verschiedenen Gestalten, und zu verschiedenen Zeiten. Die vollkommene und geflügelte Seele hebt sich empor, und umschwebt die ganze Welt. Allein es entfällt ihr zuweilen das Gefieder, und so wird sie hingerissen, bis sie auf einer Veste Fuß faßt, wo sie einen irdischen Leib annimmt, den sie bewegt. Sie verliert aber das Gefieder durch das Schändliche und Böse, da dieß hingegen durch das Schöne, Weise und Gute wächst.

Jupiter, der große Führer und Regierer des Universums, fährt auf seinem geflügelten Wagen vor allen Andern vorauf, um die Welt, sein unermeßliches Gebiet, zu überschauen. Ihm folgt das ganze Heer von Göttern, Dämonen und Seelen. Die Götter haben verschiedene Ordnungen und Bestimmungen. Ihre Fahrt ist leicht, wegen des gleichgepaarten Gespanns ihrer Rosse. Aber die Uebrigen, deren Fuhrwerk ein träges Roß neben dem muntern führt, folgen ihnen mit Mühe.

Auf diesem Zuge schauen die Götter, was kein Dichter je besungen hat, was kein sterblicher Mund auszusprechen wagt: das Wesen der Wesen selbst, [177] die ursprüngliche Wahrheit, Gerechtigkeit, Mäßigung und Schönheit!

Die besten unter den übrigen Seelen folgen einem unter den Göttern, werden ihm ähnlich, und erheben auf überhimmlischer Stäte ihr Haupt, um die Urschönheit zu erblicken. Aber verwirrt durch die Widerspenstigkeit der Rosse können sie nur einen flüchtigen Blick von dem Wesen der Wesen nehmen. Andere sind nicht einmahl so glücklich: Unvermögend, zu folgen, werden sie auf der Kreisbahn des Himmels wild umhergeschleudert, tauchen bald unter, bald wieder in die Höhe, verwickeln sich im Gedränge des Voreilens, hindern und stampfen sich unter einander.

In diesem Getümmel verlieren Viele ihr Gefieder, und fallen, ohne etwas gesehen zu haben, auf die Erde. Und zwar droht diese Gefahr bey jedem neuen Kreislaufe der Götter den Seelen aufs Neue. Darauf beruht die Abtheilung der Seelen in verschiedene Grade und Classen. Diejenigen, die bey einem Kreislaufe im Gefolge eines Gottes etwas von dem Wahren gesehen haben, bleiben in der Wohnung der Seeligen bis zur nächsten Umkreisung, und dieß bleibt ihr Loos, so lange sie bey den jedesmahligen folgenden Processionen eben so glücklich sind. Sind sie aber einmahl so unglücklich, nichts zu schauen, so sinken sie zur Erde herab, und beseelen hier, je nachdem sie mehr oder weniger bey vorigen Kreisläufen von dem Wesen der Wesen gesehen haben, verschiedene Classen von Menschenkörpern.“ (Die Zahl dieser Classen wird auf Neune angegeben. Die erste besteht aus Philosophen, Liebhabern des Schönen, solchen, die Freunde der Harmonie, und der Liebe kundig sind. Die letzte machen die Tyrannen aus.)

[178] „Jede von diesen wird, wenn sie rechtschaffen gelebt hat, eines bessern; hat sie aber Unrecht gethan, eines schlechtern Looses theilhaftig: doch können die Seelen vor Ablauf von Zehntausend Jahren nicht wieder zum Sitze der Götter gelangen. In kürzerer Zeit wächset das Gefieder der Seele nicht, außer bey Philosophen und solchen, die Jünglinge mit Weisheit geliebt haben. Diese kehren, wenn sie ihrer Bestimmung dreymahl binnen Dreytausend Jahren treu geblieben sind, zum Himmel zurück. Die andern werden nach Vollendung des ersten Lebens gerichtet, und auf tausend Jahre in unterirdische Oerter eingekerkert, und gezüchtigt, oder zu einer Stäte des Himmels empor gehoben, wo ihr Zustand mit dem Leben, welches sie in menschlicher Gestalt geführt haben, im Verhältnisse steht. Beyde Arten kommen nach Tausend Jahren zur Bestimmung und Wahl eines zweyten Lebens zurück. Die Wahl steht jeder Seele frey. Einige gehen in ein thierisches Leben über, andere werden Menschen: doch kann dieß letzte Loos nur denjenigen wiederfahren, welche die Wahrheit wirklich geschauet haben. Denn der Mensch muß viele einzelne Wahrnehmungen in einen allgemeinen Begriff durch Vernunft zusammenfassen können. Diese allgemeinen Begriffe sind Erinnerungen jener Wahrheiten, die unsere Seele im Gefolge Gottes geschauet hat, als sie von ihrer Höhe herab auf Dinge sah, die wir Menschen für Wesen halten, und diese dann beym Blick in die Höhe mit demjenigen verglich, was das Wesen der Wesen ist.

Der Mann, der diese Erinnerungen recht anwendet, entreißt sich menschlichen Bestrebungen, versenkt sich in das Göttliche, und wird leicht von der Menge [179] des Wahnsinns beschuldigt. In diese Art von Begeisterung gerathen wir hiernieden beym Anblick des Schönen, das uns an die obere Wahrheit erinnert. Die Seele wird dann wieder befiedert, und strebt empor. Aber unvermögend dazu, zieht sie sich durch Vernachläßigung dessen, was sie umgiebt, und durch das Hinaufschauen nach dem, was dem Blicke anderer entzogen ist, sehr leicht den Verdacht des Wahnsinns zu. Inzwischen ist diese Entzückung die schönste und heilsamste von allen, und derjenige, der Liebe zum Schönen damit verbindet, ist ein Liebhaber.

Des Auges Wahrnehmung ist die schärfste von allen, die uns durch die Sinne zu Theil werden. Freylich sind wir unfähig, die Weisheit so wie die übrigen liebenswürdigen Vollkommenheiten, die wir oben erschauet haben, dadurch zu sehen. Wer diese im Bilde erblicken könnte, zu welcher gewaltigen Liebe würde der entflammt werden! Aber die Schönheit, welche das Auge erblickt, ist doch die auffallendste und die holdeste Erinnerung an jene Urschönheit.

Diejenigen, welche nur wenig Erinnerungen davon übrig behalten haben, erblicken ihr Abbild hiernieden ohne Ehrfurcht, geben dem Reitze zur Wollust Raum, und überlassen sich frech thierischen Ausschweifungen.

Hingegen derjenige, bey dem jene Erinnerung lebhaft ist, geräth beym Anblick eines götterähnlichen Antlitzes, des treuen Nachbildes der Urschönheit, in ein ehrfurchtvolles Staunen, wie bey der Annäherung an die Gottheit selbst: und wenn er nicht den Vorwurf eines offenbaren Wahnsinns scheute; er würde dem Geliebten als wie dem Bildnisse eines Gottes opfern.

[180] Der Zustand seiner Seele gleicht dem eines körperlichen Fiebers: auf den kalten Schauer folgt Hitze, folgt Schweiß. Die Schönheit, deren Ausströmungen er durch die Augen aufnimmt, durchwärmt ihn: die Stockung, welche den Aufschuß des Gefieders verhinderte, löset sich auf, und der Wachsthum der Flügel wird durch die feuchte Ausdünstung befördert. Nun ist Alles in Gährung bey der Seele: Alles brauset in ihr auf. So wie zähnenden Kindern das Zahnfleisch schmerzt und juckt, so leidet die Seele von dem peinigenden und kitzelnden Sprossen des Gefieders. In diesem Zustande findet sie Erleichterung beym Anblick der Schönheit, die durch die Ausströmung der Theilchen, welche Liebreitz heißen, das Hervortreiben der Fittige befördern. Entfernt sie sich aber von dem geliebten Gegenstande, so ziehen sich die Mündungen, durch welche das Gefieder treiben soll, zusammen. Der vorher mit eingesogene Liebreitz vermehrt noch die Qual und das innere Brennen und Stechen. Bald bringt der marternde Schmerz die Seele an den Rand der Verzweiflung, bald wird sie durch Erinnerungen an das Schöne gelabt. Zagend über diesen seltsamen Zustand von gemischten Empfindungen steigt ihre Angst bis zur Wuth. Sie findet keine Ruhe bey Tage und bey Nacht. Sehnsuchtsvoll stürzt sie zu dem Schönen hin, sieht ihn, und findet auf eine Zeitlang Erleichterung und Entzücken. Und für diesen Gegenstand ihrer Bewunderung und ihrer Rettung verläßt sie nun Eltern und Geschwister, und verachtet Vermögen und Größe! Ja! sie verachtet den Ruf und Alles, worauf sie sonst stolz war, um dem Geliebten zu dienen, und in seiner Nähe zu übernachten. Das ist der Zustand, den die Menschen Liebe nennen!“

[181] Woher aber rührt es, daß nicht jede Schönheit die nehmliche Wirkung auf alle Menschen macht: woher die Verschiedenheit des Geschmacks? – Plato begegnet diesem Einwurfe auf folgende Art: „Eine jede Seele verehrt denjenigen Gott, ahmt demjenigen Anführer nach, in dessen Gefolge sie den Kreislauf vorhin gemacht hat. Sie nimmt seine Natur an, und Eros wirkt ganz anders auf den ehemahligen Genossen des Zevs, als des Mars oder eines andern Gottes. Dieß hat zugleich den größten Einfluß auf die Art, wie der Geliebte behandelt wird. Denn je nachdem die Seele des Liebhabers diesen oder jenen Gott zum Anführer hatte, wird sie in dem Geliebten andere Vorzüge achten, und ihn nach einem verschiedenen Ideale auszubilden suchen. [16] Bey dieser Bemühung wird sie aufmerksamer auf sich selbst, ruft die vorigen Erinnerungen deutlicher zurück, und indem sie den Gott, dem sie vorher gefolgt war, unverwandt ins Auge faßt, wird sie ihm in seinen Sitten und Neigungen immer ähnlicher. So schreibt sie dem Geliebten den Grund ihrer eigenen Veredlung zu, und dieser wird ihr dadurch immer theurer.“

„Die edlere Seele sucht folglich den Geliebten zur vollkommensten Aehnlichkeit mit sich selbst und mit ihrem Gotte zu bringen. Dieß ist der schöne Zweck der Vollendung, dem sie nachstrebt, und der auch den Geliebten beglückt, wenn er von dem leidenschaftlich Liebenden gefangen wird.

Nun folgt eine schöne Beschreibung von der Art, wie der Wagenführer in der Seele das eine trotzige, [182] übermüthige und widerspenstige Roß seines Gespanns zu zügeln sucht. „Das gutgeartete Roß wird beym Anblick des Geliebten von Bescheidenheit und Scham zurückgehalten. Aber das bösgeartete reißt es oft zur Begierde nach sinnlicher Lust mit sich fort, und zwingt selbst den Führer, seinem Willen nachzugeben, und sich dem Anblicke des Geliebten zu nähern. Aber das strahlende Angesicht des letzten weckt die Erinnerungen der Urschönheit wieder in der Seele des Liebhabers auf. Ach! er sieht diese wieder, und an ihrer Seite die Bescheidenheit auf heiliger Stäte. Ein heerer Schauer überfällt den Wagenführer, er sinkt zurück, und zieht dabey die Zügel so stark an sich, daß die beyden Rosse sich auf die Schenkel setzen. Er lenkt sie wieder ab. Das gute Roß folgt willig: – Das böse geräth in Wuth, lästert den Genossen und den Führer, wirft ihm Feigheit und Bundbrüchigkeit vor, und sucht ihn wieder zu dem Geliebten hinzuziehen. Nur mit Mühe erhalten der Führer und das bessere Roß einen Aufschub auf kurze Zeit. Kaum ist diese abgelaufen, so reißt das wilde Roß den Wagen wieder mit schamlosem Ungestüm in die Nähe des Geliebten. Der Führer zieht es mit eben der Gewalt zurück, wie das vorige Mahl, und dieß geschieht so oft, bis es endlich gebändigt wird, dem Führer willig folgt, und sogar beym Anblick des Geliebten vor Schrecken verzagt.“

„Der Liebhaber wird nun so bescheiden, daß er dem Geliebten nicht anders als mit einer Art von göttlicher Verehrung aufwartet. Die Wahrheit seiner Gesinnungen rührt endlich diesen, wenn er gleich anfangs den Liebhaber aus Furcht, sich bey seinen Gespielen lächerlich zu machen, zurückgewiesen hat. Es ist unmöglich, [183] daß der gutgesinnte Mensch nicht mit der Zeit der Freund des Mannes werde, der es wohl mit ihm meint. Der Geliebte erstaunt über die Inbrunst der Liebe, mit der der begeisterte Jüngling sich ihm hingiebt, und die alles Wohlwollen übertrifft, was Freunde und Verwandte ihm bis jetzt bezeuget haben.

Nach und nach nähern sie sich einander immer mehr und mehr, und wenn der Liebhaber anhaltend in seinen Bemühungen ist, den Geliebten in Gymnasien und bey andern Gelegenheiten oft berührt, dann wird der letzte ihm mit Liebreitz begegnen, und selbst mit ähnlichen Empfindungen angesteckt werden. Die Wirkung seiner eigenen Schönheit prallt durch das Auge auf ihn zurück. Allein er ahnet mehr als er fühlt. Er weiß nicht was ihm fehlt. Es sind unbestimmte Bilder der Liebe, die er Freundschaft nennt. Er sehnt sich gleichfalls nach der Gegenwart des Liebhabers. Er will, so wie dieser, anblicken, berühren, küssen, neben ihm ruhen, nur mit minderer Lebhaftigkeit. Bald thut er das Alles, und der Führer des Seelengespanns des Liebhabers hat dann viel mit dem brünstigen Rosse zu schaffen, das kurzen Genuß für viel Beschwerden fordert. Das bösartige Roß des Geliebten wird gleichfalls lüstern, obgleich unbestimmt in seinen Wünschen, und weiß dem Geliebten nichts zu verweigern, was dieser fordern wird. Sein besseres Roß und der Führer halten ihn mit Scham und Vernunft zurück. Trägt der bessere Theil den Sieg davon, bleiben sie der Ordnung und der Philosophie getreu, so kommen sie nach und nach auf den rechten Weg, und genießen bereits hier ein glückliches Leben in ihrer Vereinigung. Sie beherrschen sich selbst, und befreyen ihren edleren Theil von dem Einflusse des [184] niedrigen. Nach ihrem Tode aber erheben sie sich auf dem erlangten Gefieder, und haben den Kampf der ersten Probezeit von den Dreyen, die sie durchlaufen müssen, um wieder zum Olymp zu gelangen, glücklich bestanden. Ein größeres Glück kann weder menschliche Weisheit noch göttliche Begeisterung gewähren.

Ergaben sie sich aber einer unweisen Lebensart: wurden vielleicht ihre Seelen beym Trunk, oder durch Sorglosigkeit von den unbändigen Rossen zu einer Lust hingerissen, die nur augenblicklich und dem Scheine nach befriedigt: wiederhohlten sie diesen Genuß aber selten und nicht mit Zustimmung ihres ganzen Willens; so leben sie zwar gleichfalls während der Zeit ihrer Liebe und nachher vereinigt, aber minder eng als jene, und im Tode verlassen sie ihre Leiber zwar mit wachsendem Gefieder, aber nicht beflügelt. Sie tragen also gleichfalls einen nicht geringen Kampfpreis aus ihrer leidenschaftlichen Liebe davon. Sie werden nicht in die Finsterniß der Unterwelt hinabfahren, sondern es wartet ihrer ein glänzendes Leben, in dem sie seelig mit einander wallen. – Dieß sind die Vortheile, welche die leidenschaftliche Liebe mit sich führt. Die Verbindung mit dem leidenschaftlosen Freunde hingegen erkennt nur sterbliche Weisheit als Führerin an, und streut nur sterbliche Vortheile mit kärglicher Hand über das Leben aus. Die Gesinnungen, die sie der Seele des Freundes einflößt, sind unedel, und obwohl sie das Volk als Tugend preist, so werden sie doch den Umlauf, den die gefallene Seele neuntausend Jahre hindurch auf und unter der Erde zu machen hat, nicht abkürzen.“

So weit Plato’s Ideen über die Liebe im Phädrus. Man würde von einem ganz falschen Standorte ausgehen, [185] wenn man hier ein bündiges philosophisches Räsonnement über diesen Gegenstand aufsuchen wollte. Man sieht auf den ersten Blick, daß nicht einmahl der Begriff der Liebe gefaßt, sondern mit leidenschaftlicher Geschlechtssympathie des Körpers und der Seele, mit Begeisterung und Lüsternheit, verwechselt ist. Die Entwickelung der Gründe, warum die Schönheit uns begeistert, hält eben so wenig die Prüfung der Wahrheit aus, und die ganze Schilderung der Seelen, die schon vor ihrem Falle auf die Erde, man weiß nicht warum, mit einem bösen[WS 3] Rosse fahren, folglich ohne ihre Schuld niederfallen, und des Anblicks des Wesens der Wesen entbehren, ist eben so unzusammenhängend, als es nur irgend eine Mythe vom Ufer des Ganges her seyn kann.

Aber der ganze Zweck des Gesprächs ist nicht sowohl, eine Abhandlung über die Liebe zu schreiben, als eine Redeübung über diese Materie zu liefern, aus der die Grundsätze der Beredtsamkeit entwickelt werden können. Man muß daher diese Rede, die Plato dem Sokrates in den Mund legt, wie ein schönes Kunstwerk betrachten, das die Bestimmung hat, ein gewöhnliches Verhältniß, die atheniensische Cicisbeatura, zu vertheidigen, und die Schutzrede, welche ihre Anhänger ihr halten könnten, dem Herzen und Beschauungssinne gleich interessant zu machen. Hierzu wird nicht bloß die ästhetische Einkleidung, sondern zugleich der Kunstgriff genutzt, der Entstehung und dem Zwecke solcher Verbindungen etwas Uebersinnliches beyzulegen, das mächtig auf die Imagination wirkt.

In dieser Rücksicht, (und wenn man heut zu Tage an die Stelle der Liebe zum Jünglinge die Liebe zu einem [186] gebundenen Frauenzimmer setzt,) wird man dieser Darstellung ihren hohen Werth nicht absprechen. Kenntniß des Menschen, und besonders des Ganges, den die Leidenschaft bey dem bessern nimmt, leuchtet überall hervor. Das Genialische der Erfindung, der Reichthum der Allegorie, die so manches Bild liefert, das auf den Kampf der Vernunft und der bessern Triebe in uns wider die schlechtern Begierden angewandt werden kann, die Wahrheit und die Schönheit der Schilderung eines leidenschaftlichen Zustandes, haben den größten Anspruch auf unsere Sympathie und unsere Bewunderung. Aber wenn wir dieß reitzende Gewand abziehen, so bleibt die Denkungsart der guten Gesellschaft in Athen über die Liebe zu den Lieblingen nackt stehen. Plato läugnet die Mitwirkung der körperlichen Begierden bey diesen Verbindungen nicht ab: er verkennt nicht ihre Gefahren; allein er rechnet darauf, daß sie unterjocht werden können, und daß sie sodann die Begeisterung für das Edle und Schöne verstärken werden. Ja! er zeigt sich sogar nachsichtsvoll gegen diejenigen, die in einem unwehrhaften Zustande von ihren Begierden überrascht und besiegt werden!

[187]
Sechstes Kapitel.
Denkungsart des Plato über edlere und schönere Liebe zu den Lieblingen nach seinem Gastmahle.

Plato hat in seinem Gastmahle, eben so wie Xenophon in dem seinigen, die Absicht gehabt, seinen Lehrer von dem Vorwurfe einer gemeinen Schwäche zu retten, und zugleich seine Ideen über Liebe und den Werth der körperlichen Gestalt zu entwickeln.

Ich habe schon bemerkt, daß höchst wahrscheinlich eine wirkliche Begebenheit bey dem Stoffe, den beyde Schriftsteller behandelt haben, zum Grunde liegt. Höchst wahrscheinlich haben aber auch beyde die Darstellung durch Zusätze von ihrer Erfindung gehoben. Xenophon scheint jedoch dabey mehr nach den Regeln des pragmatischen Historikers, Plato nach denen des dramatischen Dichters verfahren zu seyn. Xenophon hat so erzählt, daß seine Composition nach den Gesetzen der Wahrheit geprüft werden kann: Plato kann nur nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit beurtheilt werden. Von dem Ersten sind die Ideen des Sokrates so entwickelt, wie er sie verstanden zu haben glaubte: Plato hingegen scheint dem Sokrates seine eigenen Ideen wohlwissend untergelegt, und dafür nur einen fremden Nahmen zur bessern Einkleidung seiner Lehren geborgt zu haben.

Das Gastmahl des Plato ist ein philosophisches Drama, und hat zu einer Classe von Mimen gehört, die nach dem Aristoteles den Alten nicht unbekannt waren. Der Plan ist kürzlich dieser. Agathon hat eine Gesellschaft guter Freunde zu einem Schmause eingeladen, den er zu Ehren eines in dem Wettstreite der dramatischen [188] Dichter erhaltenen Sieges giebt. Sokrates ist unter den Gästen. Als die Tafel aufgehoben wird, beschließt man, sich die Zeit mit Gesprächen von interessanterem Inhalte zu verkürzen. Zum Gegenstande wird Amor vorgeschlagen, und jedes Mitleid der Gesellschaft macht sich anheischig, ihm eine Lobrede zu halten. Phädrus tritt zuerst auf. Er entwickelt ungefehr die nehmlichen Grundsätze, die Xenophon dem Pausanias beylegt, und womit die Thebaner und einige andere griechische Völker, welche die Ausschweifungen der Sinnlichkeit für erlaubt hielten, ihre Sitten und Gesetze zu rechtfertigen suchten. Die Liebe wird als Beförderin der Kriegstugenden[WS 4] gepriesen. „Sie führt, sagt Phädrus, zu allen großen und schönen Handlungen. Sie allein erzeugt ein richtiges Gefühl von Scham vor dem Schändlichen, und ein lebendiges Streben nach jenen göttlichen Eigenschaften, ohne welche weder der einzelne Mensch, noch ganze Nationen je etwas Edles und Schönes vollbracht haben. Ein Liebender, der etwas Schändliches begangen, oder aus Feigherzigkeit eine Schmach erduldet hätte, wird weit weniger vor dem Anblicke seines Vaters oder seiner Freunde, oder irgend eines andern Menschen sich scheuen, als vor dem Anblicke seines Geliebten. Eben so scheuet sich vor dem Liebenden der Geliebte, wenn er sich des Vorwurfs einer schändlichen Handlung bewußt ist. Wie könnte ein Staat oder eine Armee besser zusammengesetzt seyn, als aus lauter Liebenden und Geliebten, aus Menschen, die vor jeder unedlen Handlung zurückbeben, und im Guten mit einander wetteifern. Wenn ihre Anzahl auch noch so klein wäre, so würden sie dennoch vermöge der engen Vereinigung ihrer Kräfte Alles überwinden. [189] Eher vor den Augen der ganzen Welt als vor den Augen seines Geliebten würde der Liebhaber sein Glied verlassen, oder seinen Schild von sich werfen: Lieber würde er einen dreyfachen Tod sterben, und sogar seinen Geliebten selbst verlassen, als einem Andern in Gefahr nicht beystehen. Keiner ist so feig, den nicht Amor zur Tapferkeit entflammen sollte, und so wie Homer von seinen Helden sagt:

Ihre Brust erfüllten mit hohem Muthe die Götter,

so wirkt bey Liebenden die Kraft der Liebe. Für einander zu sterben sind nur Liebende fähig, nicht bloß Männer, sondern auch Weiber. Wer kennt nicht Alcesten und ihre Heldenthat? Sie allein war bereit für ihren Gatten zu sterben. Er hatte noch Vater und Mutter; aber ihre Liebe übertraf an Stärke die Zärtlichkeit der Eltern. Ihre That gefiel nicht bloß den Menschen; die Götter selbst, die sonst nur Wenigen aus der großen Zahl der Vortrefflichen die Rückkehr aus dem Orkus erlaubten, machten, von dieser herrlichen That gerührt, mit Alcesten eine Ausnahme. Sie kehrte ins Leben zurück zu ihrem Admet. So wird Tugend aus Liebe selbst von den Göttern geehrt! Orpheus hingegen mußte, ohne seinen Zweck erreicht zu haben, aus der Unterwelt zurück kehren. Sie zeigten ihm bloß ein Schattenbild derjenigen, um derentwillen er hinabgestiegen war; die Gattin selbst gaben sie ihm nicht zurück. Denn der Weichling hatte nicht gewagt, wie Alceste, aus Liebe zu sterben, sondern war bloß mit Hülfe seines Saitenspiels in den Orkus hinabgestiegen. Eben deßwegen ließen sie ihn auch durch Weiberhände sterben. Ganz anders ehrten sie den Achilles. Ihn versetzten [190] sie in die Inseln der Seligen. Aber groß war auch, was er that. Er hatte die Wahl, den Hektor zu tödten, und zu sterben, oder ihn zu verschonen und beym väterlichen Heerde ein hohes Alter zu erreichen. Sein Heldenherz erwählte das Erstere. Um seinen Liebhaber, Patroklus, zu rächen, wollte er nicht bloß für ihn sterben, sondern, da er ihn nicht mehr retten konnte, als sein Rächer ihm folgen. Darum haben auch die Götter, über eine solche Treue gegen den Liebenden entzückt, ihn so auszeichnend geehrt. Und in der That ist auch den Göttern nichts so achtungswürdig, als ein solcher Heldenmuth in der Liebe. Noch mehr aber trifft ihre Bewunderung, ihr Beyfall, ihre Belohnung, die Zärtlichkeit des Geliebten gegen den Liebhaber, als die des Liebhabers gegen den Geliebten. Denn jener hat an sich schon mehr Göttliches, weil er begeistert ist. Deßwegen haben sie auch den Achilles ganz anders belohnt als die Alceste, und ihn auf die Inseln der Seligen versetzt!“ –

In dieser Rede des Phädrus werden die vortheilhaften Wirkungen gepriesen, welche die Leidenschaft der Liebe, sie mag an sich edel und anständig seyn, oder nicht, für den Menschen und den Staat haben kann. Sie erhöht seine Kräfte und seinen Muth: sie lehrt ihn den Tod verachten: sie flößt ihm die Begeisterung ein, auf welche die Griechen als Beförderin der Bürgertugend so großen Werth legten. So finden wir bey mehrern unkultivierten Völkern, besonders im Mittelalter, die Frauenliebe veredelt, bey denen die Schöne nicht bloß der Preis, sondern auch der Antrieb zur Tapferkeit war. Daß hier nicht ausschließend von der Liebe zur Seele die Rede sey, beweisen die Stellen, worin der Freund [191] von dem Liebhaber unterschieden, und worin auch Weibern diese Liebe beygelegt wird. Noch mehr erhellet dieß aus dem Ende der Rede, welche den Geliebten dem Liebhaber entgegenstellt, und ersterem zwar ein höheres Verdienst beylegt, weil seine Liebe nicht so wie die des Liebhabers durch gröbere Triebe unterstützt wird, diesem aber doch nicht allen Werth abspricht. Es folgt aber hieraus zugleich, daß Phädrus allerdings einen höhern Werth auf diejenige Liebe legt, die frey von der Ausgelassenheit der Sinne ist. [17]

[192] Auf den Phädrus folgt Pausanias. Wir kennen ihn schon aus dem Gastmahle des Xenophon als den Liebhaber des Agathon, und als denjenigen, der die gemeine Liebe in Schutz nahm. Plato läßt ihn inzwischen hier eine etwas edlere Rolle übernehmen. Er unterscheidet nehmlich die Sitten der übrigen Griechen von denen der Athenienser, und preiset die Liebe nach den Ideen, welche seine Landsleute darüber hatten. Seine Rede scheint also einer der sichersten Belege über die Denkungsart des größern Haufens von Athen, und besonders der guten Gesellschaft an diesem Orte, in Ansehung der Männerliebe zu seyn.

Pausanias unterscheidet zuerst die himmlische Venus von der gemeinen, und legt Beyden einen Amor bey, der ihre Natur theilt. [18] „Unbedingt, fährt er fort, [193] läßt sich Amor nicht loben. Denn so wie es mit allen übrigen menschlichen Handlungen geht, geht es auch mit der Liebe. An und für sich ist sie weder schön noch häßlich, eben so wie das Trinken, Singen, Reden u. s. w. Keines dieser Dinge ist an sich schön oder häßlich, sondern es wird es durch die Art und Weise, wie es geschieht. Es ist schön, wenn es auf eine edle Art geschieht; häßlich, wenn es auf eine unedle Art geschieht. Eben so verhält es sich auch mit dem Amor. Der Amor der gemeinen Venus ist gemein, und handelt blindlings bey Allem, was er thut. Ihm huldigt die gemeine Classe der Menschen. Diesen dünkt es nicht unedler, ein Weib als einen Jüngling zu lieben. Erhebt sich auch ihre Neigung zu diesen, so ist es der Körper mehr als die Seele, was sie anzieht, und ihre niedrige Leidenschaft erlaubt sich die schändlichsten Ausbrüche. Auf Genuß ist ihr Absehn gerichtet, unbekümmert, ob sie auf eine edle oder unedle Art ihr Ziel erreichen. Daher kommt es auch, daß sie handeln, wie es der Zufall ihnen räth, bald gut, bald böse. Dieser Amor ist aber auch der Gehülfe der jüngern Venus, die selbst ihr Daseyn einer Vermischung der beyden Geschlechter zu danken hat. Der andere Amor hingegen ist der Gehülfe der himmlischen Venus, welche theils ihr Daseyn dem männlichen Geschlechte verdankt, theils viel älter, folglich [194] frey von aller Ausgelassenheit ist. Wen dieser Amor begeistert, der liebt nur das männliche Geschlecht als dasjenige, das von Natur mehr Kraft und Geist besitzt. Aber nicht alle Liebe zu diesem Geschlechte ist dieses Gottes Werk. Wer kleine Knaben liebt, ist nicht von ihm begeistert. Wen er beseelt, der wird nur Jünglinge lieben, bey denen sich Spuren der Mannheit und des sich entfaltenden Geistes zeigen. Eine feste dauernde Verbindung läßt sich nur bey einem Geliebten von solchem Alter erwarten. Verbindungen mit einem Geliebten von früheren Jahren können kaum einen andern Zweck haben, als den Geliebten zu hintergehen, in unreiferen Alter ihn anzulocken, um ihn als Jüngling zu verlassen, und einem andern nachzulaufen. Wer kann wissen, wie die Anlagen eines noch unerwachsenen Knaben sich entwickeln werden? Ob nicht alle Mühe, die er an ihn wendet, umsonst sey? Billig sollte durch ein Gesetz verboten seyn, kleine Knaben zu lieben. Edle Liebende schreiben sich zwar selbst dieß Gesetz vor; aber jenen gemeinen Liebhabern einen solchen Zaum anzulegen, würde eben so wenig überflüssig seyn, als man es dafür gehalten hat, ihren Angriffen auf freygeborne Weiber solche heilsame Schranken zu setzen. Denn diese Nichtswürdigen haben die Liebe allein in einen so übeln Ruf gebracht. Ihr ausschweifendes und treuloses Betragen hat die Meinung erzeugt, daß es schändlich sey, dem Liebhaber zu willfahren. Aber kein Tadel müsse Handlungen treffen, die mit der Sittsamkeit und den Gesetzen bestehen. In allen Staaten ist in Rücksicht der Liebe etwas festgesetzt, was als Gesetz gilt. In allen andern Staaten, außer Sparta und Athen, ist dieß Gesetz sehr einfach, und leicht verständlich: Bey uns [195] liegen feinere Bestimmungen unter. In Elis und Böotien, wo man sich durch Geist und gebildeten Ausdruck eben nicht auszeichnet, ist es ohne Einschränkung erlaubt, den Liebhabern zu willfahren: weder Jung noch Alt nimmt dort ein Aergerniß daran. Man hat sich der Verlegenheit, das Herz der Jünglinge durch Worte zu gewinnen, überheben wollen. In Ionien hingegen, und bey allen andern Völkern außer Griechenland, wird es eben so ohne Einschränkung für unerlaubt gehalten. Ganz begreiflich! Da, wo der Wille des Despoten Gesetz ist, da muß dieß noch weit mehr, als selbst Philosophie und Gymnastik, verboten seyn. Denn was ist dem Interesse der Tyrannen gefährlicher, als große Gesinnungen und enge Freundschaftsbündnisse ihrer Unterthanen? Und was erzeugt sicherer als Liebe diese edlen Früchte? – – Waren es nicht Harmodius und Aristogiton, welche die Herrschaft der Pisistratiden stürzten? –

„Jenes einfache Gesetz in Rücksicht der Liebe scheint also allerdings verdächtig. Wo die Willfahrung der Liebenden schlechthin verboten ist, da darf man immer den Verfall der Nation, eine despotische Herrschsucht der Regenten, und sclavische Feigheit der Unterthanen; wo sie schlechthin erlaubt ist, Stumpfheit des Geistes bey dem Volke, das einem solchen Gesetze unbedingt huldigt, vermuthen. Richtiger denkt man darüber in Athen. Aber, wie schon gesagt, unser Gesetz ist nicht so leicht zu fassen. Bey uns hört man oft: edler sey es, offenbar zu lieben als im Verborgenen; man müsse edle und vornehme Jünglinge wählen, und sich durch diese Vorzüge in [196] seiner Wahl bestimmen lassen. Bey uns wird der Liebhaber nicht gewarnt, wie einer, der in Gefahr steht, etwas Schändliches zu unternehmen; er wird vielmehr von allen Seiten ermuntert. Es gereicht ihm zur Ehre, den Geliebten gewonnen zu haben, und zur Schande, wenn der nachgestrebte Besitz ihm fehlschlägt. Bey uns hat ein Liebender Beyfall zu erwarten, wenn er zu seinem Zwecke sich Mittel wählt, die ihm die strengste Rüge der Philosophie in jeder andern Rücksicht zuziehen würden. Denn gesetzt, Jemand wollte, um Vermögen und Ansehn zu erlangen, wie der Liebhaber den Geliebten bitten, flehen, beschwören, ganze Nächte vor seiner Thüre zubringen, Dienste versehen, die man kaum den Sclaven auflegt; so würden seine Feinde ihn als einen niederträchtigen Schmeichler verachten, und seine Freunde sich seiner schämen. Mit Ehren hingegen kann Alles dieß der Liebende thun. Das Gesetz selbst sichert ihn vor allem Tadel. Bey ihm wird es wie die lobenswürdigste Handlung betrachtet. Ja, noch mehr! Bey uns hört man sogar nicht selten äußern: der Einzige, dem die Götter selbst einen falschen Eid verziehen, sey der Liebende, denn des Liebenden Eid sey weniger bindend. – So denkt man bey uns in Rücksicht der Liebe; Götter und Menschen gestatten hier dem Liebenden völlige Freyheit. Wer sollte daher nicht denken, daß Lieben, und dem Liebhaber willfahren ohne Einschränkung für edel in unserm Staate gehalten werde? Wenn man aber auf der andern Seite sieht, wie ängstlich die Väter in der Wahl der Erzieher für ihre Knaben sind, wie [197] ernstlich sie dabey verbieten, mit den Liebhabern zu sprechen, wie angelegentlich sie dem Hofmeister die Sorge, es zu verhüten, anempfehlen; wenn man weiter sieht, daß die Gespielen und andere junge Leute einen Geliebten verspotten, und daß kein Aelterer diesen Spöttern wehrt, keiner es ihnen als ein unverständiges Betragen verweiset; sollte man dann nicht wieder denken, die Liebe werde in unserm Staate durchaus für entehrend gehalten? Doch es läßt sich Beydes vereinigen. Man kann, wie gesagt, im Allgemeinen behaupten, daß es weder edel noch unedel sey, dem Liebhaber zu willfahren. Es ist edel, wenn es edel geschieht; unedel, wenn es unedel geschieht. Unedel aber ist es, dem schlechten Liebhaber auf eine schlechte Art zu willfahren; edel hingegen, einen braven Liebhaber auf eine ehrbringende Weise zu belohnen. Der schlechte Liebende aber ist jener gemeine. Ihm ist es mehr um den Körper als um die Seele zu thun. Seine Liebe kann eben darum auch nicht beständig seyn, weil der Gegenstand selbst, den sie sucht, so vergänglich ist. Ist die Blüthe des Körpers, die ihn reitzte, dahin gewelkt, so entflieht er spottend, und verlacht denjenigen, der seinen glatten Worten und oft wiederhohlten Versprechungen trauete. Der edlere Liebende hingegen dauert treu sein ganzes Leben hindurch aus; denn was ihn fesselt, ist dauernd. Daher verlangt das Gesetz bey uns: Man solle die Liebenden erst aufmerksam prüfen, dann sey es erlaubt, sich dem Edeln zu ergeben, und Pflicht, den Unedlen sogleich abzuweisen. Daher wird es bey uns dem Geliebten zur Schande gerechnet, wenn er entweder [198] ohne vorgängige Prüfung den Liebhaber zu bald erhört, – oder wenn er durch Geld oder äußeres Ansehn des Liebhabers sich zur Gunst bestimmen läßt. Denn keines dieser Dinge kann echte Liebe erzeugen, oder von dauerndem Bestande seyn. Es ist folglich dem Geliebten unter gewissen Umständen nach unsern Sitten allerdings erlaubt, dem Liebhaber zu willfahren. So wie wir es nehmlich weder für niederträchtig noch für entehrend halten, wenn der Liebende sich zu jeder Unterwürfigkeit unter den Willen des Geliebten versteht; so giebt es auch eine Unterwürfigkeit des Geliebten, die wir für tadellos erkennen, – diejenige, welche Tugend zum Zweck hat. Nach einem bey uns ganz allgemeinen Urtheile ist es weder schändlich noch niederträchtig, einen Andern sich auf jede Art gefällig zu machen, durch den man an Ausbildung des Geistes oder des Herzens zu gewinnen hofft. Gründen zwey Liebende ihre Verbindung auf das wechselseitige Gesetz: daß die Gegenliebe des Geliebten jede Gefälligkeit verdiene, und daß der Eifer des Liebenden, ihn zum weisen und tugendhaften Manne zu machen, jede Ergebung fordere; und hat der eine das Vermögen, Weisheit und Tugend zu befördern, der andere aber das Bedürfniß, Geisteskultur und Lebensweisheit zu erwerben; dann, und sonst nie, tritt der Fall ein, worin die Willfahrung des Geliebten schön ist. Dann ist es auch nicht schimpflich, sich betrogen zu haben. Jede Willfahrung aus andern Gründen bringt dem Geliebten Schande, er mag getäuscht werden oder nicht. Erwiedert ein Jüngling die Liebe eines Mannes, den er für reich hält, um seines Geldes willen, so wird er dadurch keinesweges [199] von der Verachtung befreyet, wenn es sich am Ende zeigt, daß der Liebhaber arm sey, und nichts geben könne: er hat schon verrathen, daß er fähig sey, jedem Menschen zu jeder Absicht für Geld die Hand zu bieten, und dieß ist nicht edel gedacht. Wird hingegen ein Jüngling von einem Manne geliebt, den er für rechtschaffen hält, und erwiedert seine Liebe, um durch den Umgang mit ihm besser zu werden; so bringt ihm die Täuschung durchaus keine Schande, wenn es sich auch am Ende entdeckt, daß sein Liebhaber ein schlechter Mensch sey, und keine Tugend besitze: er hat doch bewiesen, daß er um der Tugend und um seiner Vervollkommung willen für Jeden, der ihm darin weiter helfen kann, Alles zu thun entschlossen sey: und dieß ist höchst edel gedacht. Um der Tugend willen einem Andern zu willfahren ist also allerdings lobenswürdig und edel. Diese Liebe allein ist von der himmlischen Göttin entsprungen, und selbst himmlisch. Hohen Werths ist sie für den Staat und den einzelnen Bürger! Ein mächtiger Antrieb für den Liebenden, sich selbst und den Geliebten zur Tugend zu bilden. Jede andere Liebe gehört der gemeinen Venus!“ –

Laßt uns dieser Rede des Pausanias einige Betrachtungen schenken! Der Redner würdigt die Liebe nicht bloß nach den Folgen, die sie zufällig haben kann, wie Phädrus es gethan hatte, sondern nach dem Zwecke, den die Liebenden sich dabey vor Augen setzen. Er verdammt diejenige Verbindung, welche die Befriedigung der Sinnlichkeit geradezu zum Zweck hat. Er hält es mit seinen Landsleuten für unedel, wenn Knaben bey unentwickelten Geistesanlagen bloß zu Büßung unreiner Lüste aufgesucht, durch Geld und andere Verführungskünste [200] gewonnen, und nachher verlassen werden. Er hält es für unedel, wenn die Geliebten sich aus Gewinnsucht oder Eitelkeit unwürdigen Reichen oder Vornehmen ergeben, oder ihre Liebhaber nicht vorher hinreichend prüfen. Aber er hält es für erlaubt, wenn bey einer dauernden Verbindung, die auf Veredlung des Geistes abzweckt, der Liebhaber Gunstbezeugungen einer gewissen Art als Belohnung für seine Bemühungen um das wahre Wohl des Geliebten zu gewinnen sucht; und er hält es für eine schickliche Dankbarkeit des Geliebten, wenn dieser einem so edeln Liebhaber willfahrt.

Ganz die Denkungsart der guten Sitte von Athen, der auch diejenige ziemlich nahe kommt, die Plato in seinem Phädrus entwickelt hat! Sonderbar genug hat man die Mitwirkung körperlicher Triebe und ihre Befriedigung von der Liebe, nach der Darstellung des Pausanias, ausschließen wollen. Allein dieß widerspricht dem Charakter des Redners, dem ganzen Zusammenhange, und den einzelnen Ausdrücken. Es ist wahre Geschlechtssympathie, die er schildert, aber auf einen edeln Zweck geleitet.

Plato läßt hierauf den Arzt Eryximachus auftreten, der die Liebe als die allgemeine Harmonie und Anziehungskraft in der lebenden und leblosen Natur betrachtet, und in seinem mystischen Räsonnement ungefehr mit demjenigen zusammentrifft, was Hemsterhuys und Herder, jener in dem Aufsatze über das Verlangen, dieser in der meisterhaften Schrift: Liebe und Selbstheit, viel schöner und verständlicher ausgeführt haben.

Diese Rede bringt den Begriff der Männerliebe um nichts weiter, und gehört mehr in die Oekonomie des Stücks, als schönes dramatisches Kunstwerk betrachtet, [201] als in den Gang derjenigen Untersuchung, die ich hier unternehme.

Aristophanes, der nach dem Eryximachus redet, nimmt wieder einen andern Gesichtspunkt an. Er verwechselt Liebe mit Geschlechtssympathie: er will die Verschiedenheit ihrer Aeußerungen erklären, und besonders zeigen, daß sie der Natur gemäß, (secundum naturam) sind. Aber der launige Mann verläugnet auch hier seinen Charakter nicht. Seine Absicht geht mit dahin, die Gesellschaft zu erheitern. Seine Rede macht einen vortrefflichen Theil in der Oeconomie des philosophischen Drama’s aus.

Die beyden ersten Redner haben den Gegenstand von der politischen und moralischen Seite betrachtet: der dritte hat ihn als Physiker angesehen: alle Dreye haben ihn mit Ernst behandelt: nun tritt Aristophanes mit seinem Witze dazwischen. Aber freylich mit einem Witze, der auch dem Vernünftigsten ein erlaubtes Lächeln abzwingen kann, weil er mit den Gesetzen der Vernunft in der engsten Verbindung steht. Der Redner stellt einen Mythos auf. Es waren ehemahls drey Geschlechter auf der Erde. Außer den zweyen noch jetzt bekannten war ein drittes, aus diesen beyden zusammengesetztes, vorhanden, welches das Androgynische [19] hieß. Aber die Gestalt eines jeden dieser drey Geschlechter war von der gegenwärtigen sehr verschieden. Der Mann bestand aus einem doppelten Manne, mit zwey Gesichtern, vier Armen, doppelten Geschlechtstheilen, u. s. w. Eben so das Weib, eben so der Androgyn. Sie waren [202] aber jedes für sich viel stärker, wie jetzt, und in ihrem Uebermuthe empörten sie sich gegen die Götter. Zevs strafte sie, indem er sie spaltete. So entstanden aus jedem einzelnen Manne zwey Männer, aus jeder einzelnen Frau zwey Frauen, und aus jedem Androgyn zwey Androgynen. Nachdem dieser Durchschnitt unsers Wesens glücklich vollbracht war, fingen die getrennten Hälften an, sich nach einander zu sehnen, umschlossen sich mit ihren Armen so fest, und hingen so innig an einander, als wollten sie wieder in ein Wesen zusammenfließen. Keine wollte ohne die andere etwas verrichten, und so starben sie endlich mit einander aus Hunger und Unthätigkeit. Jupiter ließ sich endlich der armen Sterblichen erbarmen. Er traf die Einrichtung, daß die Menschen durch vollständige Begattung, oder wenigstens durch Befriedigung der Lüsternheit, auf eine Zeitlang ihre Leidenschaft gemildert sähen, Zeit und Ruhe erhielten, auf nützliche Geschäfte zu denken, und für ihren Unterhalt zu sorgen. Seitdem ist die Liebe ein Naturtrieb der Menschen: Ein Drang, die ursprüngliche Beschaffenheit wieder herzustellen, zwey Wesen in Eins zu verbinden, und die Verstümmelung der menschlichen Natur wieder aufzuheben. Jeder von uns ist nur ein Fragment von einem Menschen, und Jeder sucht seine von ihm getrennte Hälfte. Nun sind aber einige Hälften der eigentlichen Zwitter, die zweyerley Geschlecht hatten. Der männliche Theil von diesen liebt die Weiber, und diese Classe hat uns die meisten Buhler geliefert, so wie der weibliche Theil von ihnen, der die Männer liebt, die meisten Buhlerinnen. Die Hälften der ehemahligen Doppelweiber sind gleichgültig gegen die Männer, und lieben nur ihr eigenes Geschlecht; [203] die Hälften der vorigen Doppelmänner aber fühlen eine Neigung zum Männergeschlechte.“

Nachdem nun Aristophanes auf solche Art die drey verschiedenen Modificationen der Geschlechtssympathie erklärt hat, (wobey es sehr merkwürdig bleibt, daß er sie alle drey für natürlich hält, und sie keinesweges einer Verderbtheit der Sitten zuschreibt, oder sie als Ausartungen der Sinnlichkeit ansieht,) so geht er nun zum Lobe der Männerliebe über.

„So lange die Jugend der vorigen Doppelmänner dauert, sagt er, lieben sie als Theilchen von einem Manne nur Männer, und finden Vergnügen in ihrem Umgange und in ihrer Umarmung. Dieß sind die edelsten Knaben und Jünglinge, weil sie von Natur die männlichsten sind. Mit Unrecht hat man sie der Unverschämtheit beschuldigt; denn nicht diese, sondern inneres Gefühl ihrer männlichen Kraft und männlicher Geist sind der Grund ihrer Neigung zu ihrem Geschlechte. Dieß zeigt sich offenbar dadurch, daß nur solche Jünglinge im reiferen Alter sich öffentlichen Geschäften widmen. Zu Männern gereift, lieben sie selbst wieder Jünglinge, heirathen zwar, und zeugen Kinder, aber nicht aus Neigung, sondern gezwungen durch das Gesetz: zufriedener, wenn sie unverheirathet im Umgange mit ihres Gleichen leben können. Die Liebe zu Jünglingen und die Gegenliebe von diesen haben also offenbar keinen andern Grund, als weil Jeder nach Vereinigung mit seiner Hälfte strebt. Hat der eine oder der andere seine eigentliche Hälfte gefunden; unaussprechlich ist dann das Wonnegefühl ihrer Zärtlichkeit, ihrer Vertraulichkeit, ihrer Liebe, und – was kann man mehr sagen – auch nicht einen Augenblick sind sie zu trennen. Wenn [204] sie nun aber auch Lebenslang in unzertrennlicher Vereinigung gestanden haben, so wissen sie doch am Ende nicht zu sagen, was sie eigentlich von einander wünschen und verlangen. Befriedigung einer unreinen Lust kann es nicht seyn, was sie so innig vereinigt, und ihren Umgang zu einer Quelle so unerschöpflicher Freuden macht; sondern etwas Anders ist es, wornach Beyder Seele sich sehnt, was sie aber nicht sagen, nur ahnen, nur im dunkeln Vorgefühle errathen kann. Träte nun zu solchen Menschen, wenn sie so beysammen sind, Vulcan mit seinen Werkzeugen, und fragte: Was wollt ihr doch, ihr Menschen, einer von dem andern? und keiner wüßte es zu sagen, und er spräche nun: Wollt ihr vielleicht so ganz vereinigt seyn, daß Tag und Nacht sich keiner vom andern trenne? Wünschet ihr dieß, so will ich euch zusammenfügen und zusammenschmelzen, daß ihr aus zweyen Eins werdet: daß ihr, so lange euer Leben dauert, als ein Wesen zusammen lebt, und bey eurem Tode gemeinschaftlich in die Unterwelt wandert, und auch dort nicht Zwey seyd, sondern Eins! Besinnt euch, ob dieß euer Wunsch sey? – Keiner, daß weiß ich, würde dann Nein sagen: keiner einen andern Wunsch äußern: Jeder nur seinen eigenen längst gefühlten Wunsch zu hören glauben: zusammengeschmolzen und verbunden mit seinem Geliebten aus zweyen Eins zu werden. Liebe ist also nichts anders, als das Verlangen und Streben nach Ergänzung unsers Wesens. – Wenn wir Freunde der Gottheit sind, so haben wir Hoffnung, unsre wahren Hälften zu finden – ein Glück, das Wenigen zu Theil wird! Ich spreche ganz im Allgemeinen von Männern und Weibern, indem ich behaupte, daß wir nur dann die höchste Stufe des [205] Glücks erreichen, wenn uns die wahre Liebe zu Theil wird: wenn Jeder seine eigenthümliche geliebte Hälfte wieder findet, und vereinigt mit ihr in sein ursprüngliches Wesen gleichsam wieder verwandelt wird. Ist dieß der höchste Grad des Glücks, den wir erreichen können: so muß unter den gegenwärtigen Umständen das, was diesem am nächsten kommt, nehmlich einen Liebling zu finden, der unserm Herzen entspricht, der höchste seyn.“

Man würde sehr übereilt schließen, wenn man aus einigen Stellen dieser Rede die Folge zöge, als wenn Aristophanes den Vereinigungstrieb der beyden Hälften bloß auf eine geistige Vereinigung deutete. Der Zusammenhang mit dem Anfange der Rede läßt keinen Zweifel übrig, daß der Sinn jener Stellen: Mit Unrecht beschuldigt man sie der Unverschämtheit: Befriedigung unreiner Lust kann es nicht seyn, was sie so innig vereinigt etc. weiter nichts sagen will, als dieß: Triebe, welche auf der ursprünglichen Anlage und Bildung unsers Wesens beruhen, verdienen keinen Tadel, und ihr Streben nach Vereinigung, kann nicht dem Zwecke der Befriedigung einer unreinen Lust zugeschrieben werden; es liegt etwas Weiterliegendes dabey unter, nehmlich: die Wiedererlangung des verlornen Zustandes.

Aristophanes aber erklärt hier nicht sowohl die Liebe, als vielmehr die Sympathie zum Gleichartigen und zum Geschlechtsverschiedenen unter den Menschen, und zwar sowohl diejenige Sympathie, die den Körpern, als diejenige, die den Seelen eigen ist. Er erweitert die Rede des Eryximachus. Dieser hatte die Liebe als die allgemeine Anziehungskraft der Natur geschildert. Aristophanes sucht zugleich den Grund zu erklären, warum einige Menschen sich vor andern anziehen, und warum [206] einige mehr der Neigung zu Personen von anerkannter Geschlechtsverschiedenheit, andere dem Hange zu Personen von dem nehmlichen Geschlechte folgen.

Die darauf folgende Rede des Agathon kündigt sich anfangs als eine methodische Behandlung dieser Materie an, löset sich aber bald in eine dichterische Personificierung des Amors auf, dem jede Vollkommenheit beygelegt wird. Sie ist in ihrer Art ein Meisterstück von Declamation, und ein vortrefflicher Theil des dramatischen Ganzen. Allein für die Kenntniß dessen, was wir suchen, von geringem Nutzen.

Nunmehr kommt Socrates an die Reihe, und seine Ideen tragen den unverkennbaren Stempel des Zusatzes an sich, welchen der dichterische Schüler seinem Lehrer, dem praktischen Menschenkenner, beylegt.

Socrates nimmt alle Ideen der vorherigen Redner auf, und sucht sie zu berichtigen, zu vereinigen, und auf höhere Triebe zurückzuführen. Zeugnungstrieb, Trieb nach Fortdauer, nach Unsterblichkeit, nach der Urschönheit oder Vollkommenheit: das sind die verschiedenen Stufen, auf welche die immer weiter veredelte Liebe hinaufgehoben wird. Der größte Fehler, den Plato hierbey zu begehen scheint, ist dieser, daß er feineren Egoismus und die Beschauungswonne mit Liebe verwechselt. Es wird mir erlaubt seyn, die Rede, welche dem Socrates in den Mund gelegt wird, mit meinen Anmerkungen zu begleiten.

Zuerst erklärt er die Liebe für das Verlangen nach dem immerwährenden Besitz des Guten. Eine Erklärung, die an sich auf höchst unbestimmten Begriffen von Verlangen, Besitz, und Gut beruht. Denn es giebt ein Verlangen, das auf Bedürfniß beruht, ein [207] anderes, das mit einem wonnevollen Bestreben verknüpft ist; dieß, nicht jenes, gehört der Liebe. Wieder giebt es einen Besitz, der das Verlangen stillt, endigt: einen andern, der immer viel zu verlangen übrig läßt; dieser, nicht jener, ist besonders der glücklichen, leidenschaftlichen Liebe eigen. Endlich giebt es ein Gut, das bloß in Beziehung auf unsere Selbstheit dafür gelten kann, weil es unsern Zustand verbessert, uns beglückt; dieß Gut gehört der Liebe nicht. Sie empfindet ihr Glück und ihr Gut vermöge der Sympathie unmittelbar in dem Wohl des Andern, und ohne vorgängige Beziehung auf ihr eigenes Wohl.

Socrates selbst sieht ein, daß die angegebene Benennung des Gattungsbegriffs der Liebe noch eine nähere Bestimmung verdiene, und daß es eine gewisse Art des Verlangens gebe, die mit dem Nahmen Liebe besonders bezeichnet werde. Er führt eine Seherin, [20] Diotima, redend ein, und läßt von ihr die Liebe für das besondere Verlangen nach dem Zeugen und Empfangen durch das Schöne erklären. „Alle Menschen, sagt sie, empfinden sowohl dem Körper als der Seele nach einen Zeugungstrieb, wenn sie in ein gewisses Alter kommen. Der Trieb zur Unsterblichkeit liegt dabey zum Grunde. Wir können nicht immer die nehmlichen bleiben; aber wir [208] suchen bey dem unaufhörlichen Wechsel des Vergehens und Entstehens immer etwas Neues von derselben Art an die Stelle des Alten zu setzen. Diese Zeugung, wodurch wir das Gute, das wir haben, unser Leben, unsern Leib, unsere Sitten, Gewohnheiten, Meinungen, Begierden, ja, sogar unser Wissen immerwährend zu erhalten suchen, geschieht nicht durch das Häßliche, sondern durch das Schöne. Denn von dem Häßlichen wenden wir uns mit Widerwillen und Mißmuth weg, schrumpfen in uns selbst zusammen, und behalten, anstatt zu zeugen, den Bildungsstoff unter sehr quälenden Empfindungen bey uns. Hingegen, wenn wir uns mit einem schönen Gegenstande gatten, so werden wir in Wonne und Entzückung aufgelöset, und es erfolgt Zeugung und Befruchtung. Nicht das Schöne ist folglich der Gegenstand des Verlangens der Liebe; sondern sie begehrt des Schönen, um zu erzeugen und zu gebähren.“ –

Der Gang der platonischen Ideen ist hier ziemlich deutlich. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf das Unterscheidende des Begattungstriebes, den er mit der Liebe verwechselt. Dieser zeichnet sich durch eine Sehnsucht aus, die gemeiniglich von der Schönheit der physischen Gestalt erweckt wird, und die Folgen seiner Befriedigung sind Zeugung, Befruchtung, Fortpflanzung, vermöge dieser aber Unsterblichkeit der Gattung. Diese zufälligen Charaktere des unnennbaren Triebes werden für dessen unterscheidende Merkmahle angenommen, und der Trieb selbst mit Liebe verwechselt. Es fällt aber in die Augen, daß Beyde sehr verschieden sind. Nicht einmahl der unnennbare Trieb, und der Trieb, zu zeugen, dürfen mit einander verwechselt werden. Keine [209] Kreatur, und selbst nicht der Mensch, paart sich, der Regel nach, mit einem andern Wesen seiner Art, um zu zeugen, fortzupflanzen, und seine Gattung unsterblich zu machen. Was immer die Zwecke der Natur gewesen seyn mögen, als sie uns den unnennbaren Trieb einpflanzte; wir empfinden ihn als Begierde nach unmittelbarer Wollust, oder als Drang eines physischen Bedürfnisses. Er gehört ganz oder größtentheils dem Körper zu, dahingegen der Trieb, zu zeugen, offenbar nur der Seele allein angehören kann. Diese Rücksicht auf Zeugung tritt entweder zufällig, oder erst dann zu jenem Triebe hinzu, wenn besondere Verhältnisse, die keinesweges allgemein sind, uns dazu auffordern. Der Trieb, zu zeugen, als solcher, ist daher wahrscheinlich nicht in unserer ursprünglichen Natur gegründet, und wenn er es auch seyn sollte, gewiß nicht derjenige, der bey den Wirkungen des unnennbaren Triebes zunächst zum Grunde liegt. Alles dieses ist im dritten Buche dieses Werks weiter ausgeführt. Der Satz, daß das Schöne aufgesucht werde, um zu zeugen, ist eben so unerwiesen, als der, daß die Zeugung nur in der Verbindung mit dem Schönen gelinge. Der Zweck, etwas hervorzubringen, und besonders etwas darum hervorzubringen, damit wir in unsern Werken reproduciert würden, liegt gewiß höchst selten bey unserm Streben nach dem Besitze des Schönen und Guten unter. Plato hat daher dasjenige als Grund des Vereinigungstriebes angenommen, was nur Wirkung, und noch dazu zufällige Wirkung desselben ist. Auf jeden Fall würde ein solcher Zeugungstrieb in der Absicht, sich unsterblich zu machen, nicht Liebe, sondern ein feiner egoistischer Trieb seyn. Wer das Schöne aufsucht, weil [210] er nur mittelst des Schönen zeugen kann, liebt nicht dieß selbständige schöne Wesen, das ihm dazu behülflich ist: er liebt nur sich selbst, und bezieht jenes auf seine Fortdauer als ein bloßes Werkzeug. –

Der Platonische Socrates läßt die Diotima nun weiter sagen: „Ohne einen Trieb nach Fortdauer anzunehmen, müßte dir die Ehrbegierde des Menschen, als etwas ganz Vernunftwidriges, unbegreiflich vorkommen. Bedenke nur, in was für einen leidenschaftlichen Zustand diese Begierde, sich einen Nahmen zu machen, und sich unsterblichen Ruhm zu erwerben, die Menschen versetzt. Was sie selbst für ihre Kinder nicht thun würden, sind sie im Stande, für diese Idee zu wagen. Keine Gefahr, kein Opfer, keine Mühseligkeit ist so groß, die sie nicht übernähmen. Bereit dem Tode selbst entgegen zu gehen, wenn es darauf ankommt, dieß Gut zu erreichen. Würde wohl Alceste für Admet gestorben, Achilles dem Patroclus im Rächertode gefolgt, Kodrus der Herrschaft seiner Söhne vorangegangen seyn; hätte nicht sie Alle die Hoffnung geleitet, in dem unsterblichen Andenken an ihre große That, das ihnen nun auch wirklich gefolgt ist, sich selbst zu überleben? Gewiß nicht! Ich bin vielmehr überhaupt überzeugt, daß nichts anders, als die Unsterblichkeit großer Handlungen und die Begierde nach dem Ruhme, sie gethan zu haben, die allgemeine Triebfeder sey, die bey Allen Alles wirkt: und zwar am stärksten bey den Edelsten; denn es ist edel, nach Unsterblichkeit zu ringen!“ –

Man glaubt in dieser Stelle einen Helvetius reden zu hören, der jede Aufopferung für Andere aus Egoismus herleitet. Offenbar wird Plato durch den Charakter [211] der Aufopferung, der jeder Leidenschaft eigen ist, verleitet, Ehrbegierde mit Liebe zu verwechseln.

Er belehrt uns nachher durch den Mund der Diotima weiter, daß es mehrere Arten gebe, nach Unsterblichkeit zu streben. „Einige Menschen, bey welchen mehr körperlicher Bildungstrieb herrscht, und die eben darum eine stärkere Neigung gegen das weibliche Geschlecht fühlen, hoffen Unsterblichkeit, Nachruhm und Glückseligkeit durch Kinderzeugen zu erlangen. Andere, bey welchen sich mehr geistiger als körperlicher Bildungstrieb zeigt, fühlen mehr einen Drang, etwas zu erzeugen, was der Natur des Geistes gemäß ist, d. h. was auf Weisheit und Tugend Beziehung hat. Zu diesen gehören nicht nur alle Dichter, die Schöpfer ihres Stoffes, sondern auch von den Künstlern alle diejenigen, die Selbsterfinder sind. Die schönsten Früchte aber, mit denen man schwanger geht, und die man gebähren kann, sind jene Weisheit und Gerechtigkeit, mit deren Hülfe man der öffentlichen Verwaltung und dem Hauswesen vorstehet. Wer nun aus diesem edleren Theile der Menschen den Keim zu einem solchen Produkte des Geistes schon von seiner Kindheit an in sich trägt, der hat etwas Göttliches in seiner Natur. Der Trieb zum Erzeugen erwacht in ihm, sobald er zu einiger Reife gedeiht. Auch in ihm entsteht dann ein Streben nach einem schönen Gegenstande, (denn ein häßlicher ist dazu gar nicht tauglich,) durch welchen der in seiner Seele vorhandene Stoff entbunden werde. Sein Zustand bringt es also mit sich, daß er auch Körper, und zwar die schönen mehr als die häßlichen, liebt. Findet er aber einen schönen Körper mit einer schönen, edlen, fähigen Seele vereint, so wird seine ganze Zuneigung von [212] diesem zwiefach schönen Gegenstande gefesselt. Sein ganzes Herz öffnet sich sogleich gegen einen solchen Menschen: er sucht ihn zu unterrichten: er schildert ihm die Eigenschaften der Tugend: er lehrt ihn, was ein rechtschaffner Mann seyn, und wie er handeln müsse. So geschieht es denn, daß dasjenige, was zuvor in seiner Seele noch unentwickelt im Keime lag, durch diese Vereinigung mit einem schönen Gegenstande gleichsam geboren wird, und diese neugebornen Ideen durch die beständige Erinnerung an den geliebten Gegenstand von ihnen gleichsam gemeinschaftlich aufgezogen werden. Deßwegen ist auch das Band, das zwey solche Wesen vereinigt, weit fester als dasjenige, welches die Gemeinschaft leiblicher Kinder knüpft: ihre wechselseitige Liebe weit dauerhafter, weil die Geisteskinder, welche aus ihrer Vereinigung hervorgehen, schöne, für die Unsterblichkeit gereifte Früchte sind. Wer sollte nun nicht lieber wünschen, solchen Kindern, als sterblichen Wesen das Daseyn gegeben zu haben! Fordern doch so glänzende Beyspiele zur Nacheiferung auf! Man sehe nur den Homer, oder Hesiod, oder andere vortreffliche Dichter, deren Geisteskinder, selbst unsterblich, ihren Urhebern unsterblichen Ruhm bey der spätesten Nachwelt sichern: oder Lykurg, dessen Kinder, seine Gesetze, die Retter von Sparta, ja, man kann sagen, von ganz Griechenland wurden: oder Solon mit seinen Gesetzen, und so viele andere in und außer Griechenland geehrte Männer, die so viele schöne Thaten erzeugt, und tugendhafte Handlungen aller Art vollführt haben, denen auch dieser ihrer Geisteskinder wegen hie und da Tempel und Altäre errichtet sind.“

Ich bleibe hier wieder etwas stehen.

[213] Liebe ist nach dem Plato jenes besondere Verlangen nach dem immerwährenden Besitze des Guten, das denjenigen auszeichnet, der mit Hülfe des Schönen etwas zu zeugen sucht, das ihn unsterblich machen könne.

Dieser Satz wird nun näher analysiert: erst auf leibliche Kinder, dann auf Früchte des Geistes, endlich auf Verbindung mit solchen Menschen angewandt, die den Zweck haben, sich wechselseitig zu vervollkommnen, und ein edleres Paar hervorzubringen.

Die Aehnlichkeit zwischen der körperlichen Lüsternheit und dem schwärmerischen Aneignungstriebe der Geister habe ich im dritten Buche dieses Werks gezeigt. Da nun nicht leicht ein Werk des Genies oder eine große That ohne Begeisterung und ohne leidenschaftliche Stimmung hervorgebracht wird: so liegt die Idee ganz nahe, daß sowohl bey der Befriedigung körperlicher Begierden, als bey der Aeußerung des Enthusiasmus, welche Beyde sehr oft Folgen für die Nachwelt hervorbringen, ein Zeugungstrieb, oder wie Plato ihn erklärt, ein Trieb nach Unsterblichkeit zum Grunde liege. Allein genau geprüft, beruht eine solche Analogie auf einer bloßen Operation des Witzes, der zufällige Folgen zweyer Zustände und Handlungen, die einige Aehnlichkeit mit einander haben, aus einer bestimmten Absicht herleitet. Offenbar hat derjenige, der leiblicher Vater wird, bey der Befriedigung seiner körperlichen Triebe eben so wenig den Zweck, Kinder zu zeugen, und sich durch diese unsterblich zu machen, als derjenige, der seine Begeisterung durch Worte und Thaten äußert, unbedingt durch die Betrachtung, daß Beyde auf die Nachwelt übergehen werden, in Enthusiasmus geräth.

[214] Die ganze Analogie findet also ihren Grund in einer Unbestimmtheit der Begriffe, besonders von demjenigen, was Schön heißt. Es ist offenbar, daß die leibliche Zeugung von Statten geht, der Körper mag an sich häßlich oder schön seyn, in dem der Keim zur Unsterblichkeit durch leibliche Kinder niedergelegt wird, ja! daß sogar dasjenige, was die Lüsternheit des Körpers erweckt, von der Schönheit noch verschieden ist. Eben so gewiß ist es aber auch, daß die Handlungen und Werke, wodurch Unsterblichkeit erlangt wird, keinesweges unbedingt das Gefühl des Schönen, ja nur einmahl des Ausgezeichneten und Hervorstechenden in demjenigen voraussetzen, der sie unternimmt.

Das Gefühl des Nützlichen, des Nothwendigen für das gegenwärtige Bedürfniß unserer Lage hat oft Heldenthaten und Unthaten hervorgebracht, über deren Größe die Nachwelt erstaunt, und deren Glanz der Unternehmer vielleicht nicht einmahl geahnet hat.

Gesetzt aber auch, der Zeugungstrieb setzte in beyden Fällen zu seiner Befriedigung etwas Schönes zum Voraus; so läßt sich doch durchaus nicht läugnen, daß das Schöne, welches die geistige Zeugung befördert, von dem Schönen, welches die leibliche befördern soll, ganz verschieden sey. Und dann erlaubt sich Plato einen Sprung, den er mit nichts ausfüllt. Denn warum soll nun derjenige, der einen Menschen aufsucht, um in der Verbindung mit ihm schöne Früchte des Geistes und des Herzens hervorzubringen, zugleich auf einen schönen Körper sehen? Ich fühle sehr wohl, daß dieß der Fall seyn wird; aber aus dem Triebe nach geistiger Zeugung und Unsterblichkeit folgt es gar nicht. Die Geburt des Geistes kann durch die schöne Seele in dem häßlichsten [215] Körper so gut und besser befördert werden, als in einem schönen, der jenen tausend Gefahren der Ableitung von seinem Zwecke aussetzt.

Gewiß bleibt es indessen, daß es privilegierte Seelen giebt, die das Bedürfniß fühlen, ihre Erfahrungen, ihre Kenntnisse, ihre Grundsätze, selbst die Stärke und die Fertigkeit, welche sie in ihrer Ausübung erworben haben, kurz! den ganzen Adel ihres Daseyns, in die Seele eines Nachkömmlings niederzulegen! Unfähig der niedrigen Neigung, ein Verlangen nach ihrem verlornen Verdienste zu hinterlassen, suchen sie zum Besten einer Wissenschaft, einer öffentlichen Anstalt des Staats oder gar der Menschheit, sich in ihren Nachfolgern zu reproducieren. Zwischen diesen Anerziehern eines geistigen Kindes und den leiblichen Vätern ist allerdings eine gewisse Aehnlichkeit, und diese hat wahrscheinlich mit dazu beygetragen, daß Plato den unnennbaren körperlichen Trieb und diesen Bildungstrieb des Geistes für Eins gehalten hat. Allein Beyde sind nicht unbedingt für Liebe zu halten; und sehr oft liegt selbst bey dem Wunsche, einen Nachfolger in unsern Vorzügen zu haben, bloß veredelte Selbstheit zum Grunde.

Ich kehre zum Plato zurück.

Diotima geht zur Entwickelung der höchsten Geheimnisse der Liebe über. Allein hier werden die Wonne der Beschauung und die Begeisterung, welche sich so leicht in jene mischt, völlig mit der Liebe verwechselt.

„Wer in dieser Art von Liebe glücklich seyn will, sagt sie, der muß als Jüngling schon an schönen Körpern Wohlgefallen finden. Wenn ihn sein guter [216] Genius richtig führt, so wird er bey einem einzigen schönen Körper den Anfang machen, der bey ihm schon Ideen über schöne Verhältnisse entwickeln wird. Bald aber wird er bemerken, daß die Schönheit eines Körpers mit der Schönheit aller andern Körper verschwistert sey. Denn wenn man einmahl den Begriff der wahren Schönheit ganz fassen will, so wäre es widersinnig, die Schönheit aller einzelnen Körper nicht für wesentlich einerley zu halten. Dann wird er anfangen, alle schönen Körper zu lieben, und die ausschließende Neigung für einzelne Körper für zu klein und unbedeutend zu halten.“ –

Diese Ideen sind zwar unbestimmt ausgedrückt; aber das Wesentliche darin ist richtig. Das Wohlgefällige der Gestalten für das Auge, (das gemeine Schöne,) ist sehr verschieden in jeder Gestalt. Aber die Gesetze des Verstandes und der Vernunft, denen dieß Wohlgefällige unterworfen werden kann, und die es zum ästhetisch Schönen, (zur Schönheit,) machen, sind unveränderlich und allgemein. Dasjenige, worauf sie angewandt werden können, ist also auch unter sich verschwistert. Da nun diese Gesetze auch auf das Unsinnliche angewandt werden können, so ist es natürlich, wenn Plato behauptet, daß der richtige Geschmack und das gebildete Gefühl für die sichtbare Schönheit eine zweckmäßige Vorbereitung zur Beurtheilung und zum Gefühl des Schönen überhaupt sey.

„Ist er einmahl dahin gekommen, fährt Diotima fort, so wird er sich noch weiter erheben, und die Schönheit der Seele höher schätzen lernen, als die Schönheit des Körpers. Findet er dann Jemanden mit den Vorzügen der Seele begabt, obgleich diese [217] nicht mit großen Reitzen des Körpers gepaart sind; so muß er gleichwohl eine Freude an ihm haben, ihn lieben, und sich für ihn interessieren. Zur Unterhaltung mit einem solchen Geliebten hingerissen, wird er genöthigt, über Gegenstände nachzudenken, die zur Bildung der Jünglinge vorzüglich geschickt sind. Dadurch wird er nun veranlaßt, auf dasjenige, was in den Handlungen und den Gesetzen schön ist, aufmerksam zu seyn. So bemerkt er, daß Schönheit mit seinem eigenen Wesen verwandt sey; so lernt er auf körperliche Schönheit einen minder großen Werth legen: so wird er hernach, durch einen höhern Schritt, Schönheit in Handlungen, und durch einen neuen Fortschritt, Schönheit in den Wissenschaften entdecken. Auf diese Art wird er einsehen, daß man Schönheit in verschiedenen Arten von Gegenständen, und nicht bloß in einer einzigen aufsuchen muß, wie etwa ein gemeiner Liebhaber an seinem einzigen Lieblinge; und daß es einen sclavisch denkenden, beschränkten Kopf verrathe, sie nur in der Gestalt eines einzigen Knaben, in einem einzelnen Menschen, oder in einer einzelnen Handlung finden zu wollen. Er wird das große Meer der Schönheit durchschwimmen, und im Beschauen so vieler mannigfaltigen schönen Gegenstände neue Ideen erzeugen, und zu einer fruchtbaren Philosophie sammeln. So gestärkt und erweitert, wird dann seinem Geiste eine einzige Wissenschaft des Schönen erscheinen. Wer in den Mysterien der Liebe es so weit gebracht hat, der ist der letzten Einweihung nahe. Er steht an dem Ziele, wohin alle vorher gegangenen Bemühungen allein abzweckten. Ihm offenbart sich nun mit einem Mahle der Anblick der ewigen Urschönheit, jenes außerordentlichen Wesens. Ewig ist diese Schönheit; [218] keinem Entstehen, keinem Vergehen, keinem Zuwachse und keiner Abnahme unterworfen. Eben darum ist sie auch nicht bloß einem ihrer Theile nach, nicht bloß in einem gewissen Verhältnisse, nicht bloß zu einer gewissen Zeit, nicht bloß an einem gewissen Orte schön: einem andern Theile nach, in einem andern Verhältnisse, zu einer andern Zeit, an einem andern Orte häßlich: folglich auch nicht bloß für den einen Menschen schön, für den andern häßlich. Sie ist kein Objekt einer Anschauung, wie eine Person, eine Hand, oder sonst ein körperlicher Gegenstand; kein Begriff, keine Idee. Sie ist kein Accidenz irgend eines Subjekts, z. B. eines lebenden Geschöpfs, weder auf der Erde noch im Himmel, noch sonst irgendwo; sondern sie ist an und für sich selbst, ohne Wechsel, und ohne Beymischung eines fremdartigen Stoffes; nur sich selbst gleich. Alles, was schön ist, ist es nur dadurch, daß es ein Theil von ihr ist; sie selbst aber leidet weder einen Zuwachs, noch eine Abnahme, noch eine andere Veränderung, jene mögen entstehen oder vergehen. Wer also, durch die Liebe für seinen Liebling richtig geleitet, sich von der Neigung zu diesem allmählig zum Anschauen dieser ewigen Schönheit erhoben hat, der hat den Grad der Vollendung beynahe erreicht. Seine Liebe richtig leiten, oder von einem andern richtig leiten lassen, heißt daher auch nichts anders, als seine Neigung für ein schönes Individuum als den Anfang gebrauchen, von welchem man, bloß um der Urschönheit, als des Endzwecks, willen, seine Betrachtung der Schönheit, von einem Gegenstande zum andern fortschreitend, erweitert, und an diesen schönen Gegenständen, gleichsam wie auf Stufen, von einem schönen Körper zu mehreren, von andern [219] nach und nach zu allen, von den schönen Körpern zu schönen Handlungen, zu schönen Wissenschaften aufsteigt, bis man endlich bey derjenigen Erkenntniß aufhört, welche nichts als das absolut Schöne zum Gegenstande hat, und nun, eingeweiht in den letzten Grad der Geheimnisse dieser Weisheit, die Urschönheit selbst erkennt. Hier wird des Menschen Leben erst ein wahres Leben. Diese Schönheit, gelingt es dir einst, sie zu schauen, wird dir in einem weit herrlicheren Lichte erscheinen, als Gold und Schmuck und Knaben und Jünglinge: – – Gegenstände, deren Anblick dich doch schon so entzückt, daß du und viele Andere, welche diese Gegenstände ihrer Neigung unaufhörlich beschauen, wünschet, wenns möglich wäre, in unaufhörlicher Anschauung verloren, mit ihnen auf immer unzertrennlich vereinigt zu werden. Was muß es erst werden, wenn einem das Glück wiederfährt, die Urschönheit selbst, echt rein, unvermischt, nicht verbunden mit körperlicher Masse oder Farben oder anderm Tand, sondern in ihrem göttlichen Glanze, in der ganzen Reinheit ihrer Form zu erblicken? Glaubst du nicht, daß ein solcher Anblick, wo der Mensch das, was er eigentlich soll, gleichsam von Angesicht zu Angesicht schaut, und sich innig mit ihm vereint, sein Leben beneidenswerth machen müsse? Glaubst du nicht, daß er dann, wenn ihm dieser, einzig auf diese Art mögliche Anblick der Urschönheit zu Theil geworden ist, große Thaten erzeugen müsse, die nicht bloß Schattenbilder von Tugenden sind, weil sie ihr Daseyn nicht einer Vereinigung mit einer Truggestalt zu danken haben, sondern wahre wirkliche Tugenden, aus der Verbindung mit der wahren Urgestalt entsprossen? Sind aber durch diesen überirdischen [220] Anblick wahre Tugenden in einem Menschen erzeugt, und von ihm zur Reife gebracht worden, dann ist er ein Liebling der Götter; und ein solcher – wenn’s irgend eines Sterblichen Loos ist, – ist der Unsterblichkeit Erbe!“

Niemand wird den dichterischen Schwung und den Scharfsinn unbewundert lassen, mit denen Plato den Trieb nach Zeugung aus dem nach Unsterblichkeit, diesen wieder aus dem nach Annäherung an die Urschönheit entwickelt, und aus allen diesen den Zug zur Schönheit jeder Art erklärt. Es läßt sich auch ein Zustand von Begeisterung denken, auf den dieses Bild wirklich zutrifft. Es ist möglich, daß wir in den schönen Verhältnissen, die uns sichtbare Gestalten zeigen, die Gesetze der allgemeinen und ewigen Harmonie ahnen, diese auf das Unsinnliche übertragen, und am Ende mittelst der Phantasie uns ein Bild der Vernunftidee, Vollkommenheit, zusammensetzen. Es ist möglich, daß wir dieß Bild personificieren, uns dasselbe schwärmerisch anzueignen, uns ihm ähnlich zu machen suchen, es zu besitzen und von ihm besessen zu werden glauben. Ein solcher begeisterter Zustand mag dann allerdings seinen großen Reitz mit sich führen, und vielleicht mehr als jeder andre beseeligen.

Aber kann man diesen Zustand Liebe nennen? Im geringsten nicht! Er beruht auf Beschauungswonne, und ist nicht selten ein bloß verfeinerter Egoismus, bey dem alle Liebe verloren geht, und der den geistigen Stolz, Verachtung Anderer, und eine Menge menschenfeindlicher Neigungen zeugt und ernährt.

Am Ende des Gastmahls tritt Alcibiades zwischen die Gäste, und hält dem Sokrates eine Lobrede. In [221] dieser erzählt er, wie er einmahl geglaubt habe, Socrates sey durch seine Schönheit gefesselt, er habe ihn gefangen, und dadurch das Recht erlangt, in des Mannes verborgenste Kenntnisse initiirt zu werden. Er habe Alles angewandt, ihn zu einer Schwäche zu verleiten. Die Erzählung der Mittel, die er dazu angewandt hat, läßt sich hier nicht wiederhohlen, und es reicht hin zu sagen, daß sie der Andringlichkeit der schamlosesten Buhlerin bey uns gleich kommt. Dieß muß ich inzwischen anführen, daß Alcibiades gerade diejenigen Grundsätze äußert, die Pausanias vorhin angenommen hatte. Er erzählt, daß er dem Sokrates folgenden Antrag gemacht habe: „ich glaube, daß ich an dir einen Liebhaber gefunden habe, und zwar den einzigen, den ich für würdig halte, es zu seyn: eine gewisse Blödigkeit scheint nur deine Erklärung zurückzuhalten. Allein, so wie ich gegen dich gesinnt bin, würde es sehr ungereimt seyn, dir nicht Alles zu überlassen, mich selbst, meine Güter, meine Freunde, wenn du willst. Mir liegt nichts so sehr am Herzen, als meine Vervollkommnung, und wer würde mich dazu sicherer leiten können, als du? Einem solchen Manne mich nicht ganz zu übergeben, müßte mir selbst mehr Schande in den Augen der Verständigen bringen, als mich ihm zu überlassen, in den Augen der Unverständigen.“

Demungeachtet widersteht Sokrates der Versuchung. – „Denkt euch mein Gefühl nach diesen Auftritten, ruft Alcibiades, wie es mich schmerzte, mich so verachtet zu sehen, und wie ich zugleich eine solche Größe, eine solche Tugend, eine solche Festigkeit anstaunte, in Verwunderung, einen Menschen von solcher [222] Weisheit und Enthaltsamkeit zu sehen, als ich nie zu finden gehofft hatte!“

Bald nach dieser Rede des Alcibiades läßt Plato die übrigen Gäste sich theils nach Hause begeben, theils einschlafen. Socrates bleibt mit den beyden Theaterdichtern, dem Tragiker Agathon und dem Komiker Aristophanes, sitzen, trinkt mit ihnen fort, und beweiset ihnen, daß der Komödienschreiber zugleich Tragödien, und der Tragödiendichter zugleich Komödien verfertigen könne. Aber seine Zuhörer schlummern ein: er allein bleibt wach, treibt den Tag über seine Geschäfte, und begiebt sich erst am Abend zur Ruhe.

Dieser letzte Zug ist offenbar darum hinzugesetzt, um den Sokrates als einen der ausgezeichnetsten Menschen, sowohl an physischer als moralischer Stärke darzustellen. Er kann sich allen Gefahren der Sinnlichkeit aussetzen; sie wird ihn nie übermannen. Er kann unversucht Nächte in den Armen der Schönheit und beym Becher zubringen; seine Vernunft verläßt ihn nie, und sein abgehärteter Körper ist der Anstrengung gewachsen.


Siebentes Kapitel.
Vereinigung des Plato mit sich selbst und mit dem Xenophon in ihren Ideen über die Liebe zu den Lieblingen.

Von den Ideen, die Plato in seinem Gastmahle über die Liebe vorträgt, können nur diejenigen als ihm eigenthümlich angesehen werden, die er dem Sokrates selbst in den Mund legt. Alles, was die übrigen Gäste [223] sagen, gehört entweder nur in die Oekonomie des Stücks als eine schöne Darstellung Alles dessen, was sich zum Lobe des Amors nach Verschiedenheit der Charaktere sagen läßt; oder enthält zugleich die Ideen der Nachbaren und der Athenienser nach der gemeinen Denkungsart.

Das eigenthümliche System des Plato in diesem Gastmahle kommt nun mit demjenigen, welches er in seinem Phädrus entwickelt hat, im Wesentlichen überein. Nach beyden ist der Trieb nach der Urschönheit der Grund, warum das Schöne uns hiernieden anzieht: nach Beyden ist der Zweck der engeren Verbindung zwischen Männern diejenige Vollendung im Edeln und Guten, die uns des Anschauens der Urschönheit würdig macht. Nach Beyden wird Begeisterung mit Liebe verwechselt, und die Erhebung über Sinnlichkeit als ein Vorzug, der uns dem endlichen Ziele unserer Wünsche näher bringt, gepriesen.

Aber darin weicht der Plato im Gastmahle von dem im Phädrus ab, daß dieser letzte die Mitwirkung gröberer Begierden vorzüglich im Anfange der Leidenschaft offenherzig eingesteht, und ausdrücklich darauf rechnet, daß der Kampf wider diese Begierden die Begeisterung erhöhen werde. Diese Darstellung ist der Natur bey einzelnen Individuen angemessen, und wenn gleich die Erklärung der Ursache und des Zwecks des leidenschaftlichen und schwärmerischen Zustandes der Liebenden die Prüfung der Wahrheit nicht aushält; so ist doch wenigstens der Gang, den die Begeisterung nimmt, sehr richtig angegeben. Dagegen ist der Liebhaber im Gastmahle ein Mensch aus einer Welt, die wir nicht kennen; ein Mensch, dem rein geistige Empfindungen beygelegt [224] werden, der einen Drang fühlt, durch das Schöne von seiner geistigen Frucht entbunden zu werden, etwas zu zeugen, das ihn unsterblich mache, und der sich deshalb zuerst an einen Jüngling von schöner Gestalt hängt. Hier hat sich Plato offenbar durch die Bemühung, den Sokrates als einen außerordentlichen, über alle Sinnlichkeit erhabenen Mann darzustellen, verleiten lassen, eine sehr weit hergehohlte Ursache einer sehr nahe liegenden unterzuschieben, und dadurch zu Mißverständnissen Anlaß zu geben.

Inzwischen läßt sich doch Plato in so fern mit sich selbst vereinigen, daß er im Phädrus den jungen Mann auf derjenigen Stufe von Vollkommenheit schildert, die Sokrates von seinen Schülern fordern zu können glaubte: daß er hingegen in seinem Gastmahle den reifen, vollendeten Mann auf der höchsten Stufe der Vollkommenheit darstellt. Jener ist nicht frey von den Anfällen der Sinnlichkeit, aber er weiß sie zu unterjochen: dieser braucht nicht weiter dagegen anzukämpfen: er sieht in der schönen Gestalt weiter nichts, als was wirklich darin liegt, ein schwaches Abbild der Urschönheit, das noch dazu mit demjenigen, welches ihm die Schönheit des Geistes darbietet, gar nicht verglichen werden kann.

Plato in seinem Phädrus und Gastmahle ist von dem Plato in seinen Büchern von den Gesetzen und von der Republik noch verschieden.

In dem Buche von den Gesetzen [21] nimmt er eine dreyfache Liebe an: Freundschaft, Begierde, und eigentliche Liebe. Freundschaft setzt gleiche Vorzüge des Charakters, und gleiche Verhältnisse zum Voraus. [225] Sie ist sanft, wechselseitig, dauernd, und hat die Tugend des Geliebten allein zum Grunde und zum Zweck. Die Begierde verbindet dagegen die ungleichartigsten Menschen, ist oft einseitig, und vorübergehend. Die eigentliche Liebe ist eine Mischung von Beyden, und nimmt einen leidenschaftlichen Charakter an.

Plato, der Gesetzgeber, will nun bloß die Freundschaft beybehalten, und die Begierde und die Liebe unter Personen einerley Geschlechts aus der bürgerlichen Gesellschaft verbannen. Er sucht dieß dadurch zu erreichen, daß er der Jugend früh einen Abscheu gegen diese Art von Ausgelassenheit einflößt, ihre Körper gegen Weichlichkeit durch häufige Uebungen abhärtet, und sie dadurch zugleich von unreinen Gedanken ableitet.

Wer sollte wohl glauben, daß dieser Plato hier, der die Gefahren, die aller leidenschaftlichen Liebe drohen, so richtig einsieht, diese in dem Phädrus und in dem Gastmahle in Schutz nehmen könne? Und wie läßt er sich wieder mit sich selbst vereinigen, wenn er in seiner Republik[22] alle genaueren Verbindungen zwischen den Liebhabern und Geliebten verbietet, und wieder an einer andern Stelle[23] den tapfern Kriegern jede Ausgelassenheit der frevelhaftesten Begierden zur Belohnung gestattet? – Unstreitig muß etwas von diesen verschiedenen Ansichten auf Rechnung des versatilen Geistes unsers Phantasiereichen Autors gesetzt werden; vieles läßt sich [226] aber auch daraus erklären, daß er seine Grundsätze auf verschiedene Lagen und Personen anwendet.

In dem Buche von den Gesetzen betrachtet er den ganzen Haufen der bürgerlichen Gesellschaft, wie er in der wirklichen Natur ist, und durch öffentliche allgemeine Erziehung und Gesetze geleitet werden soll. Und für diese ist es am vortheilhaftesten, um allem Mißbrauch vorzubeugen, ihr jede leidenschaftliche Liebe unter Personen von einerley Geschlecht zu verbieten. In dem Phädrus und in dem Gastmahle betrachtet er den einzelnen auserlesenen Menschen, wie er in der Schule des Philosophen ausgebildet und bewacht werden kann. In der Republik aber formt er einen idealischen Staat, in dem Alles, sogar die Sittlichkeit des einzelnen Bürgers, dem allgemeinen Besten untergeordnet werden soll. Er sucht in der größten Ausgelassenheit der Begierden ein Mittel gegen leidenschaftliche Verbindungen unter einzelnen Personen.


Ich komme nun auf die Vergleichung der Ideen des Plato mit denen des Xenophon.

Im Allgemeinen kann man von ihnen sagen: daß Xenophon den Menschen und seine Verhältnisse so ansieht, wie sie im gemeinen Leben erscheinen: daß Plato hingegen ihn so anschauet, wie er mit ausgezeichneten Anlagen unter selbst gewählten, und erst zu schaffenden Verhältnissen erscheinen könnte. Beyde haben daher auch ganz verschiedene Begriffe von Menschenwerth und Vollkommenheit. Beym Xenophon ist der edle und schöne Mann ein Athenienser, wie es [227] möglich ist, daß es der einzelne Bürger seyn kann, und wie es zu wünschen wäre, daß alle dortige Bürger es seyn möchten. Beym Plato ist er ein Kosmopolit, der nach Wiedervereinigung mit einer außer den Grenzen der Welt wohnenden Urschönheit strebt, und darum ein guter Bürger in Athen ist, weil der vollkommene Mann in allen seinen Verhältnissen den Gesetzen der ewigen Harmonie huldigt. Xenophon zeigt sich überall als einen hellen Kopf, der den Menschen im Ganzen kennt, und gesunde Vernunft mit Biederkeit des Herzens verbindet. Plato blickt viel tiefer in den einzelnen, außerordentlichen Menschen, erkennt besser, was dieser in seiner höchsten Veredlung vermöchte, und hat überhaupt viel mehr Phantasie und Abstraktionsgabe.

Unläugbar haben Beyde den Sokrates zum Muster der Nachahmung, als Ideal eines vollkommenen Mannes darstellen wollen. Plato ist darin dem Originale weniger treu geblieben als Xenophon; aber auch er hat gewisse Grundzüge in dem Charakter und einige Maximen beybehalten, die dem wahren Sokrates unstreitig eigen gewesen seyn müssen.

Dahin rechne ich in Rücksicht auf die Verbindungen mit Jünglingen seine Festigkeit gegen die Anfälle unreiner Begierden. Er scheint für seine Person völlig davon frey gewesen zu seyn. Er scheint aber auch bey seinen Schülern die Sitte der Athenienser, wornach eine engere Verbindung zwischen Jünglingen, die nicht frey von der Mitwirkung gröberer Begierden war, um mancher heilsamen Folgen für den Staat aber Nachsicht fand, zur Ausbildung [228] des Geistes, und zur Ausbreitung der Tugend genutzt und geleitet zu haben.

Diese Grundsätze hat Plato, so gut wie Xenophon beybehalten. Aber die Art, wie sie von Beyden ausgefüllt sind, weicht sehr von einander ab.

Beym Xenophon sieht Sokrates die Schönheit der Gestalt als eine gleichgültige Eigenschaft an. Der zweckmäßigste Körper, um der Seele bey der Ausübung der Bürgertugend zum Agenten zu dienen, ist der schönste. Er hat sich gegen den Reitz der schönen Gestalt so abgehärtet, daß er sie nunmehro mit eben der Gleichgültigkeit wie die häßliche betrachtet. Er hält sich an bloße reine Freundschaft. Inzwischen kann er diese Stärke von seinen Schülern noch nicht erwarten; und da er sieht, daß diese sich durch sinnliche Schönheit noch in der Wahl ihrer Verbindungen bestimmen lassen, so sucht er wenigstens der Leidenschaft, die so leicht durch die Mitwirkung körperlicher Triebe herbeygeführt wird, einen edeln, männlichen Charakter zu geben, vor groben Ausschweifungen zu warnen, und das engere Band, mit dem die sinnliche Schönheit den Liebhaber an den Geliebten knüpft, zur Verstärkung seines edeln Bestrebens zu nutzen, den Verbündeten zu jeder Bürgertugend anzuführen, und dadurch das gemeinschaftliche Wohl zu befördern.

Der Sokrates des Plato ist gegen die Schönheit der Gestalt nicht so gleichgültig: Er liebt selbst mit Enthusiasmus. Aber der geistige Genuß, den er darin sucht, erhebt ihn über das Andringen körperlicher Begierden. Und nun ist er dahin gekommen, den Abglanz der Urschönheit in einer schönen Seele [229] noch deutlicher, als in einem schönen Körper aufzuspüren. Aber diese Höhe haben seine Schüler noch nicht erreicht: sie können nur in dem einzelnen schönen Liebling eine Modification der allgemeinen Harmonie ahnen. Wohlan! Er lehrt sie nun, ihren Blick zu erweitern, und sich zu dem Unsinnlichen, und endlich zum Unsterblichen zu erheben.

Der Sokrates des Xenophon ist nüchtern in Liebe, so wie in Speise und Trank, weil er mäßig ist. Der Sokrates des Plato ist nüchtern in allen diesen Dingen, weil er stark genug ist sie zu vertragen. Jener enthält sich der Berührung schöner Gestalten, ißt und trinkt nicht mehr, als er zu seiner Erhaltung bedarf, weil er sich gewöhnt hat, es nicht zu thun, und das Uebermäßige ihn nun nicht mehr reitzen kann. Dieser bringt Nächte an der Seite schöner Gestalten zu, ohne gerührt zu werden: trinkt die Gäste unter den Tisch, und hält Strapatzen besser aus, wie jeder Andere.

Der Sokrates des Xenophon verdammt die Ausschweifungen der Knabenliebe, und ob er gleich die Befriedigung körperlicher Begierden bey Weibern gleichfalls für etwas Gemeines hält, so läßt er sie doch mit Nachsicht, und als etwas Unentbehrliches zu. Der Sokrates beym Plato aber hält die eine Art der Befriedigung körperlicher Begierden für eben so gemein und unedel, als die andere; aber er behandelt die Ausgelassenheit der Männerliebe in seinem Phädrus, in seinem Gastmahle, und in seiner Republik [24] mit einer Nachsicht, die beynahe den Verdacht erregen [230] sollte, daß er im Grunde überzeugt gewesen sey, daß selbst in der reinsten Liebe, wie er sie schildert, Vieles, was nach unsern Begriffen sehr unrein seyn würde, mit unterlaufe. [25]

Darin aber weichen Plato und Xenophon hauptsächlich von einander ab, daß Letzterer den Begriff der Liebe völlig gefaßt hat. Er setzt ihren Charakter in die Anerkennung des selbständigen Werths des Geliebten, und in das wonnevolle Bestreben, dessen Wohl zu befördern. Hingegen beym Plato ist die Liebe offenbar verfeinerter Egoismus und Beschauungswonne. Der Liebhaber nutzt den Geliebten als ein Mittel, sich zu begeistern: als eine Stufe, von der ab er sich zur Urschönheit erheben will. Daß diese ganze Darstellung der Liebe überhin in eine idealische Welt gehöre, brauche ich kaum zu sagen.


  1. Eine merkwürdige hierher gehörige Stelle beym Plato de Legg. VIII. p. 836.
  2. Petitus de Legg. atticis. Libr. VI. Tit V.
  3. Vierzehntes Buch Kap. I.
  4. Athenaeus im dreyzehnten Buche, und Cic. Tusc. Quäst. Libr. 4.
  5. Fragmenta Euripidis.
  6. Man erinnere sich an das berüchtigte Gemählde, das Parrhasius von der Atalanta verfertigte, und das Tiber kaufte. Suet. in Tiber. 44.
  7. Dergleichen noch täglich aufgefunden werden.
  8. Memorab. I. 3.
  9. S. besonders die eben citierte Stelle beym Plato de Legg. VIII. p. 836.
  10. Xenophon in den Denkwürdigk. des Sokrates. Viertes Buch, viertes Kap.
  11. Aus mehreren Gründen, die aber anzuführen der Anstand verbietet, wird es mir mehr als wahrscheinlich, daß die Gunstbezeugungen die der Liebhaber von dem Geliebten erhielt, und das, was man Ergebung des letztern nannte, nichts mit der künstlichen und grausamen Befriedigung dieser Ausgelassenheit in einigen höchst verdorbnen Hauptstädten unserer Zeit gemein hatte.
  12. Cic. Tusc. Quaest. Libr. VI. Quis est iste amor amicitiae? Cur neque deformem adolescentem quisquam amat, neque formosum senem, etc.
    Die ganze Stelle ist sehr merkwürdig.
  13. Man vergleiche die angeführte Stelle des Cicero.
  14. Hiervon zeigen sich deutliche Spuren in den Schriften des Xenophon, Plato, Aristophanes, und den Zeugnissen, welche Plutarch, Athenäus, Cicero und Andere von der Denkungsart der früheren Athenienser beybringen.
  15. Ich übergehe eine Stelle, worin der Syracusaner seine Besorgniß äußert, daß man ihm den Knaben, den er mit sich führt, verderben möge, indem man ihn zu verworfenen Lüsten mißbrauche. Ein neuer Beweis für die Allgemeinheit dieses Lasters unter dem atheniensischen Pöbel.
  16. Wahrscheinlich liegt hier die Idee von dem Einfluße der Planeten unter.
  17. Mehrere Ausleger haben sich daran gestoßen, daß Alceste gegen das Ende dieser Rede dem Achilles entgegengesetzt, und als Liebhaberin von ihm, als Geliebten, unterschieden wird. Einige haben geglaubt, die Worte: τῆς Αλκήσιδος wären ein ungeschicktes Einschiebsel, das ganz weggestrichen werden müsse. Andere haben ihnen den Nahmen Orpheus substituirt; Allein mich dünkt, der Nahme Alceste muß stehen bleiben. Sie ist offenbar eine Liebhaberin in Vergleichung mit dem Achilles, welcher der Geliebte, der Begeisterte, war. Der Liebhaber heißt bey den Griechen offenbar derjenige, qui particeps est rei venereae voluptatum: bey dessen Anhänglichkeit gröbere Triebe zum Grunde liegen; und da dieß auf die Frau sowohl als auf den Mann zutrifft, so paßt dieser Nahme auch auf die erste. (Vergl. Xenophon im Gastmahle c. VIII. Nro. 21. den Phädrus des Plato, und dasjenige, was ich oben über den höhern Werth der Bruderliebe in Vergleichung mit der Gattenliebe, selbst bey dem Frauenzimmer, gesagt habe.) Alceste wird hier nicht im Gegensatze gegen den Admet die Liebhaberin genannt, sondern im Gegensatze gegen den Achilles. Dieser theilte die körperlichen Begierden nicht; bey ihm war die Aufopferung Folge reiner Begeisterung. Bey Alcesten war dieß der Fall keinesweges: ihre Aufopferung konnte mit auf Rechnung der Sinnlichkeit gesetzt werden. Es kann seyn, daß die Stelle auch ohne diesen Zusatz verständlich bleibt; aber sie [192] erhält durch die Vergleichung des Achilles mit der Alceste unendlich mehr Nachdruck. Orpheus kann aber gar nicht der Alceste substituirt werden. Dieser war nach dem Vorhergehenden von den Göttern bestraft: folglich kann es nicht heißen: Achilles ist ganz anders belohnt als Orpheus – der gar nicht belohnt war. Hingegen Alceste war allerdings von den Göttern belohnt. Diese hatten ihr eine seltene Gnade, die Rückkehr aus dem Orkus, gewährt. Nur freylich in der Maße, wie der Achilles, war sie nicht belohnt; denn dieser ward in die Inseln der Seligen versetzt.
  18. Es ist mir nicht völlig klar, wie die Alten sich den Unterschied zwischen Venus und Amor gedacht, und warum sie jener diesen als Sohn und Begleiter beygelegt haben. Wahrscheinlich hat dabey kein bestimmter und einstimmiger Begriff zum Grunde gelegen. Ich denke mir, daß Venus das Vermögen, den Eindruck der Liebe zu empfangen; Amor hingegen die Kraft, wodurch jenes Vermögen zum Streben wird, bezeichnet. Solchemnach würde sich die Mutter zum Sohne, wie das Gefühlvermögen [193] zum Begehrungsvermögen verhalten. Oft aber heißt auch Venus so viel als dasjenige, was beym Einflößen, Amor dasjenige, was beym Empfangen zum Grunde liegt. Dann stehen sie im Verhältnisse der Ursach und Wirkung zu einander. Endlich kann auch Venus so viel als die Anlage zum Lieben, Geschlechtssympathie, Amor so viel als die wirkliche Aeußerung, Leidenschaft, bedeuten.
  19. Männweibische.
  20. Der Grund, warum er eine Seherin hier auftreten läßt, liegt darin, weil er die Liebe als einen begeisterten Zustand betrachtet, Folge des Einflusses eines Gottes. Eine Person, die nach religiösen Begriffen berechtigt war, einen ähnlichen Zustand zu empfinden, war am Besten im Stande, Aufklärung darüber zu geben, und ihn durch ihr Ansehn zu heiligen. Vergleiche den Anfang der Schutzrede für den Amor im Phädrus.
  21. Libr. VIII. p. 836 – 842.
  22. Lib. III. S. 403.
  23. Lib. V. S. 468.
  24. De Republica. Libr. III. S. 403. Libr. V. p. 468.
  25. Daher verwirft er die leidenschaftliche Liebe in dem Buche von den Gesetzen völlig. VIII. 837.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sinnlichket
  2. Vorlage: Ausdruck (siehe Verbesserungen)
  3. Vorlage: bößen (siehe Verbesserungen)
  4. Vorlage: Krigestugenden