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Autor: Wilhelmine Heimburg
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Titel: Um fremde Schuld
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aus: Die Gartenlaube, Heft 36–52, S. 597–602, 613–618, 629–632, 649–654, 669–675, 690–695, 709–714, 725–730, 741–744, 758–760, 773–778, 789–795, 805–810, 826–828, 841–846, 857–863, 877–880
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Fortsetzungsroman in den Heften 36–52
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[597]

Um fremde Schuld.

Roman von W. Heimburg.


„Jeder Mensch hat seinen Schutzengel,“ pflegte mein Vater zu sagen. Nun stellt man sich Engel gewöhnlich als ideale Wesen vor mit blonden langen Locken, lichten Gewändern und schönen weißen Flügeln, die unsichtbar neben den ihrem Schutze anvertrauten Menschen dahinschweben und sie gelegentlich verhindern, in irgend einen Abgrund zu stürzen. Aber das glaubt man nur in der ersten Jugend; später sieht man sie ja, die Schutzengel, in ihrer wirklichen Gestalt, die mitunter gar nichts Ueberirdisches an sich hat.

Als die Frau Stadträtin Wollmeyer gestorben war und ich mit Mama an ihrem Sarge stand, den man drunten im Hausflur mit allem möglichen düsteren Pomp umgeben hatte, da ahnte ich freilich nicht, daß auch sie auf Erden ein Engel, ein Schutzengel gewesen war. Mir wäre der Gedanke damals sicher drollig vorgekommen trotz allen Ernstes der Situation. Erst später lernte ich erkennen, wie treu sie gewaltet, und sah ein, daß engelhaftes Aeußere recht nebensächlich ist für dieses Metier.

Gute Seele Du, Hannchen Wollmeyer, geborene Himmel! Nun lag sie da draußen auf dem Trinitatis-Kirchhof. Ob der Witwer, der sich an ihrem Sarge beständig vor heftiger Rührung so laut die Nase schneuzte, daß es mir vorkam, als beabsichtige er die Tote im Sarge durch solche Trompetenstöße wieder aufzuwecken, ob der Herr Stadtrat Wollmeyer eine Ahnung hatte, was er an ihr verlor, das bleibe dahingestellt. Der Base, der Base Himmel, einer Kousine der Verstorbenen, die seit langen Jahren ein bescheidenes sauer verdientes Gnadenbrot im Wollmeyerschen Hause aß, der war es klar, denn sie wischte sich die Thränen mit dem Schürzenzipfel aus den Augen und sagte. „Was soll nun aus ihm werden, sie war sein guter Geist, die Hanne!“

Es ist keine schönere Leichenrede, kein höheres Lob an ihrem Sarge geredet worden, als diese paar Worte enthalten.

Seitdem war gerade ein Jahr verflossen. Ich saß mit meiner Mutter am Fenster der Wohnstube in der Dämmerung des Herbstabends. Sie hatte die feinen fleißigen Hände ausruhend gefaltet und sah in den Schloßhof hinab; wir sprachen nichts. Ich versuchte mir die Verstorbene wieder vorzustellen, wie sie bei Lebzeiten gewesen. Frau Hannchen Wollmeyer hatte äußerlich wenig Aehnlichkeit mit der Base gehabt; letztere war eine hagere Person mit ernsten fast strengen Zügen, für gewöhnlich wortkarg und verschlossen; Hannchen war rund und allzu dick gewesen, immer zu Thränen und Reden bereit, immer in nervöser Angst vor ihrem Eheherrn. Aber die Eigentümlichkeit naiver unverdorbener Frauengemüter, das Mitgefühl mit fremdem Leid und fremder Freude, das Bestreben, das, was ihre Pflicht gebot, bis zum Aeußersten zu erfüllen, hatten beide gemeinsam, und das letztere ward ihnen nicht immer leicht gemacht! Und noch in etwas glichen sie sich: sie liebten mich beide rührend. „Das Hannchen hat Sie sehr lieb gehabt,“ pflegte die Base des öftern zu sagen.

Ach ja, das wußt’ ich wohl! Unzählige jener kleinen und doch so großen Freuden meiner Kinder- und Backfischzeit verdanke ich ihrer Güte. Sie hatte ein Kind, ein Mädchen, gehabt und es begraben müssen und liebte nun Sternbergs kleine Anneliese mit wehmütiger Zärtlichkeit. Unter Thränen holte sie mir an Winternachmittagen die Puppen und den kleinen [598] Kochherd des verstorbenen Lieblings herbei und ließ mich damit spielen; an dem kleinen Rocken der Verstorbenen lernte ich spinnen, noch heute eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Dabei lehrte sie mich die alten traurigen Volkslieder singen, die auf dem Thüringer Walde von Mund zu Mund gehen. Je mehr ich heranwuchs, um so mehr wandte sich Frau Hannchens Herz mir zu. „Ich glaub’, so groß wäre meine Kleine jetzt auch, Base,“ pflegte sie dann zu sagen.

Gutes Hannchen Wollmeyer! Sie war so gern gestorben. Das behauptete die Base, und das hatte sie selbst ein paar Tage vor ihrem Tode zu meiner Mutter gesagt, als sie zum letzten Mal in der warmen Erdensonne saß und in das Grün des alten prächtigen Gartens schaute.

„Ich gehe gern, gnädige Frau, ich hab’s so satt mit das Leben. Immer egal im Fahrstuhl sitzen, nichts mehr thun können, das ist schlimm, und ich bin ja auch abkömmlich, und wenn ich erst ein Jahr tot bin, dann kann er sich eine andere Frau heiraten, eine gebildete Frau, die besser für ihn paßt, wegen der er sich nicht zu schämen braucht. Und wenn es wahr ist, daß ich meine Kleine wiedersehe da droben, wie der Herr Superuntendente sagt, dann will ich auch weiter nichts.“

„Aber Frau Wollmeyer,“ hatte meine Mutter erwidert, „wie können Sie so sprechen! Sehr, sehr wird Ihr Mann Sie vermissen, und die Base und andere Leute auch – nicht wahr, Anneliese?“

„Nee! Nee! Er vermißt mich nicht, Frau von Sternberg, Gott bewahre! Ja damals, da oben in Langenwalde, wie wir uns geheiratet hatten und zusammen in der alten schönen Mühle saßen und arbeiteten miteinander um unser täglich Auskommen und für die Zukunft unserer Kleinen – ja, da hätt’ er mich nicht gern hergegeben, ja, das glaub’ ich wohl. Aber jetzt ist er reich geworden und vornehm und hat so feinen Umgang mit alle die Ersten hier – – nee, nu nich mehr!“

Und Hannchen war in dem Glauben gestorben, daß sie ihn von einer großen Last befreie; sie mußte es ja genau wissen, wie er über sie dachte. „Laß Dich’s gut gehen, Wollmeyer,“ hatte sie gesprochen, „ich trage Dich nichts nach!“ Und noch etwas hatte sie hinzugefügt mit fast versagender Stimme und einem so ernsten großen Blick, wie ihn Augen haben können, bevor sie sich für immer schließen, etwas, das ich erst viel später erfuhr – durch die Base, die es gehört, obgleich es nur für die Ohren des Mannes bestimmt gewesen, der sich tief zu der Sterbenden hinuntergebeugt hatte. „Vergiß nicht, was Du mir versprachst! Vergiß nicht, Wollmeyer, den Robert – seinen Vater; wenn ich Ruhe haben soll im Grabe, so mach’s gut – bald, Wollmeyer – hörst Du, bald!“

Er mußte es ihr zugesagt haben, denn sie hatte ihm die Hand gedrückt und war friedlich eingeschlafen mit einem nochmaligen „Laß Dich’s gut gehen!“

Und nun war’s just ein Jahr, daß sie Hannchen begraben hatten, und alles ging scheinbar so weiter im Hause – bis auf den heutigen Tag. Der aber fing schon ganz anders an. Erstens begegnete mir die Base, als ich mit meiner Büchermappe in die Litteraturstunde zu Doktor Steinbergs Kursus ging, auf der Treppe und trug anstatt der schwarzen Haube von Krepp eine weiße wie vor Hannchens Tod und auch eine weiße Schürze wie damals. Sie fing meinen verwunderten Blick auf und sagte: „Da innewendig ist die richtige Trauer, Fräulein Anneliese, die schwarzen Sachen thun’s nicht.“ Zweitens traf ich den Witwer in einem funkelnagelneuen hellgrauen Cylinder, gelblichen Handschuhen und dunkelblauem Herbstanzug. Er schrie über die ganze Breite der Straße zu mir herüber, indem er seine bekannte wohlwollende Handbewegung machte: „Servus, Fräulein Anneliese!“

„Was hat denn der?“ dachte ich und dankte ihm wie immer sehr hochmütig, denn ich ärgerte mich von jeher, wenn er allzu familiär that; Papa hatte das auch nicht leiden können.

Ich hatte diese Beobachtung eben meiner Mutter erzählt, ohne ihre Aufmerksamkeit damit fesseln zu können, und so blickten wir beide ziemlich einsilbig auf den im letzten Zwielicht liegenden lindenbestandenen Schloßhof hinunter und weiter hinaus durch das geöffnete Thor, wo welke Blätter einen wirbelnden Reigen auf dem schlechten Pflaster des öden Kirchplatzes tanzten. Unser ganzes Zimmer war erfüllt von Blumenduft, der einem Strauß wundervoller Herbstrosen entquoll, Gloire de Dijon, mit Tuberosen untermischt; Mama hatte kein Wort gesagt, von wem diese Blumenpracht komme. Ich sehe meine Mutter noch so deutlich vor mir an jenem Tage. Sie war bleicher als seit langer Zeit; ich meinte, sie sorge sich einmal wieder zu viel und gräme sich in diesen Herbsttagen mehr noch als sonst um Papa. Desto erstaunter war ich, als sie plötzlich sagte: „Wir werden uns nach einer anderen Wohnung umsehen müssen, Anneliese.“

Wie wenn ein Blitzschlag vor mir niedergefahren wäre, so trafen mich ihre Worte. So lange ich denken konnte, wohnten wir hier; zuerst, als Papa das Quartier mietete, gehörte das schloßartige uralte Gebäude dem Freiherrn von Serrenburg. Der war ein Freund meines unvergeßlichen lieben lustigen Papas gewesen, und als er das Anwesen ein halbes Jahr vor Vaters Tode verkaufen mußte und der Stadtrat Wollmeyer es „meistbietend“ erstand, hatte dieser den Mietvertrag meiner Eltern auf Verlangen des Verkäufers anerkannt und übernommen. Ich hatte bis jetzt nie daran gedacht, daß es je anders kommen könnte.

„Wir wohnen zu teuer, Mama?“ fragte ich betrübt. Genaue Kenntnis der Vermögenslage meiner Mutter hatte ich nicht, ich wußte nur, daß wir recht arm waren.

„Ja! Das heißt – wir wohnen ja eigentlich so lächerlich billig, Anneliese. Onkel Serrenburg hat damals Papa einen sehr kleinen Preis abgefordert. Aber dennoch – wozu diese großen Räume? Wir könnten auch von den Möbeln so manches entbehren, und dann –“

„Und wie kommen wir dazu, von Herrn Stadtrat Wollmeyer ein Geschenk in Form eines zu billigen Mietzinses anzunehmen?“ fiel ich ein, durch den Gedanken, daß wir die Wohnung nicht nach vollem Werte bezahlten, unangenehm berührt. „Da kündigst Du wohl morgen, für Januar, Mama?“

Sie nickte. „Dann wohnen wir gerade fünfzehn Jahre hier. Du warst eben zwei Jahre alt, wie Papa als Bezirkskommandeur hierher versetzt wurde.“

„Ja, ich bin schon recht alt, Mama,“ sagte ich mit einem Versuch zu scherzen. Und dann preßte ich die Stirn an die Scheiben, damit die blasse Frau drüben nicht sehen sollte, wie mich der Gedanke erschütterte, aus den liebgewordenen Räumen scheiden zu müssen, in denen ich das Beste und Schönste meines jungen Lebens besessen und verloren hatte, die Liebe eines Vaters, der mich vergötterte und den ich ebenso abgöttisch wiedergeliebt hatte, der mir stets als das Ideal eines Mannes erschienen ist und noch heute erscheint – so ritterlich, so ehrliebend, so vornehm und so zufrieden mit einem einfachen, um nicht zu sagen, kargen Leben.

Es hätte so karg nicht zu sein brauchen, wenn nicht – armer Papa! – der Bruder meiner Mutter ihm eine schwere, sehr schwere Last auf die Schultern gelegt hätte, die mein Vater aus Liebe zu seiner Frau ohne Klage trug; nicht nur ohne Klage, im Gegenteil. An jenen für unbemittelte Leute sorgenvollen Tagen, die jährlich viermal wiederkehren, am Quartalschluß, wo er rechnete und wieder rechnete und mitunter nur ein winziges Sümmchen erübrigte nach Abzug aller zu bezahlenden Posten, da war er liebenswürdiger und aufgeräumter denn je und behandelte seine traurige junge Frau mit der zartesten Aufmerksamkeit. „Helene,“ pflegte er oft zu sagen, „wenn Du ein Bissel vergnügter sein wolltest, so tauschte ich mit keinem Gott! Und ich frage Dich, was entbehren wir denn eigentlich? Ich, für meine Person, nichts, gar nichts.“

„Außer dem Nothwendigsten – alles,“ antwortete sie.

„So? Da wäre ich doch neugierig.“

„Ein Reitpferd zum Beispiel!“

Er lachte. „Ich kann ja gar nicht reiten mit meinem Rheumatismus im Arm!“

„Und eine Badereise gegen diesen Rheumatismus!“

„Geh – das ist das langweiligste Vergnügen der Welt! Die Flußbäder thun’s auch. Und wenn Du nichts Besseres weißt –“

„Dein Weinkeller, Deine Bibliothek,“ fiel sie fast weinend ein. „Neue Bücher sind seit Jahren nicht gekauft worden, volle Flaschen ebenfalls nicht –“

„Das Bier ist hier so vorzüglich, daß ich den Wein nicht vermisse, und die Bücher gebe ich zurück, wenn ich sie gelesen habe; man kann sie so bequem entlehnen.“

„Du liebtest Geselligkeit so sehr,“ beharrte sie.

„Der Herr Stadtrat Wollmeyer hat mich ja vorgestern erst zum Diner geladen!“ antwortete er, ein Lächeln verbeißend.

„Ach, nennst Du das Geselligkeit?“ fragte sie und warf den schönen Kopf zurück.

„Aber, Helene, versteh’ doch Spaß! Die paar Leute, die wir [599] gern haben, kommen auch zu einem Butterbrot und einer Tasse Thee zu uns. Ich, ich war doch nie ein Bratenjäger, oder – vermißt Du die Bälle zum Fasching in Köln?“

„O, ich? Nein! Nein!“

„Nun, Helene, dann sind wir die glücklichsten Leutchen der Welt – wenn Du willst, wenn Du die Thränen aus den Augen wischst und lachst. Oder sind wir’s nicht? Haben wir uns nicht lieb? Und haben wir nicht –“ und er machte eine Bewegung zu mir herüber mit einer komischen Grimasse, „haben wir nicht ein ganz leidliches Kind? Ich gebe ja zu, sie könnte ein wenig artiger, ein wenig hübscher sein – aber – hm!“

Und wenn ich dann jubelnd und ihn küssend in seine Arme flog, dann flüsterte er: „Geh’ zu Deiner Mutter, gieb ihr einen Kuß, sie wird sonst eifersüchtig; und nachher komm’ in den Garten, wir wollen wettlaufen.“

Ja, allen Ernstes, wir spielten da drunten miteinander wie zwei wilde Jungen, unbeschadet seiner väterlichen Würde. Von meinem Vater lernte ich Klettern und Rudern und Turnen und allerlei dumme Streiche, wie er lachend sagte. Von ihm lernte ich auch, gern und freudig der Armut geben, denn keiner, der ihn ansprach, ging unbeschenkt davon. Er gab ebenso rasch und gern seine paar Groschen, wenn er wirkliches Elend sah, wie er rasch und freudig sein ganzes kleines Vermögen geopfert hatte, um dem Onkel Herbert, dem einzigen Bruder meiner Mutter, die Fortsetzung seiner Studien zu ermöglichen, denn gerade als dieser vor dem juristischen Doktorexamen stand, starb der alte General von Plattenhausen, der Vater Mamas, und da er nichts als seine Pension besessen hatte, so wäre Onkel Herberts Laufbahn geschlossen gewesen, wenn sich sein Schwager nicht erboten hätte, die Mittel zu gewähren, deren er noch bedurfte.

Ob der Verlust des kleinen Vermögens meinen Vater ernstlich schmerzte, das haben wir nie erfahren; gezeigt hat er es uns nie. „Helene,“ pflegte er zu sagen, wenn er den lächerlich kleinen Rest seines Gehalts, dessen sich ein Gymnasiast als Taschengeld geschämt haben würde, in die Börse steckte, „Helene, wenn man nur immer vier Groschen drüber hat, mehr kann schließlich kein Prinz verlangen.“

„Bist hoffentlich ausgekommen, Frau?“ neckte er manchmal, „oder hast Du den Burschen angepumpt?“

Es wurde ihm nicht schwer, das Armsein zu ertragen.

Ungemütlich wurde es ihm erst im Hause, als Herr Wollmeyer das „Schloß“ – so hieß nämlich der alte große Fachwerkbau mit dem runden Treppenturm – kaufte. „Hätte mir der Serrenburg doch nicht anthun sollen!“ äußerte er, als der Herr Stadtrat ihm brieflich anzeigte, er sei der künftige Hauswirt. „Aber freilich, Lenchen, das Messer saß ihm an der Kehle, dem armen Burschen. O das Geld, das schreckliche Geld!“

Und der Herr Stadtrat zog ein mit einem ganzen Wust von neuen stilvollen Möbeln und altem spießbürgerlichen soliden Hausrat, von dem seine Frau sich nicht hatte trennen wollen. Vorläufig wohnte er im Erdgeschoß, erzählte aber allen Leuten, wenn Herr Major von Sternberg einmal versetzt werde, würde er den ersten Stock beziehen. Wir hatten übrigens, beiläufig gesagt, nur die Hälfte dieses Stockwerks inne, und zwar die kleinere Hälfte, der Tanz- und Ahnensaal und die Waffenhalle waren überflüssige Räume für uns, und hier hätte Herr Wollmeyer schon wohnen können. Dennoch richtete er sich also vorläufig im unteren Geschoß ein; Hannchen wollte durchaus nichts von Treppensteigen wissen, und ihr Arzt unterstützte sie darin. In den Ruf eines rücksichtslosen Gatten wollte er sich nicht bringen lassen, er sprach vielmehr immer sehr liebevoll mitleidig von seiner „guten“ Frau, und so paradierten denn die mit geblümtem Wollmusselin bezogenen Birkenmöbel im Erdgeschoß des „Schlosses“ wie zuvor im Hause auf der Wasserstraße, und der Herr Stadtrat begnügte sich, seine Besuche in dem stilvoll ausgestatteten Herrenzimmer zu empfangen und mit einem Verständnis heischenden Augenblinzeln zu betonen, daß Hannchen, die gute Seele, so sehr an ihren Gewohnheiten hänge – er wolle sie nicht betrüben.

Das Verhältnis zwischen Wirt und Wirtsleuten war recht wunderlich; der Herr Stadtrat machte „Majors“ förmlich den Hof so lange es ihn nichts kostete, selbstverständlich. Auf baufällige Oefen oder sonstige dringend gewünschte Ausbesserungen ließ er sich nicht ein, dagegen sah er sehr gern die stattliche Gestalt meines Vaters durch seine Hausthür schreiten und noch lieber an seiner Tafel sitzen, wenn er die Honoratioren der Stadt zum Mittagessen bei sich hatte; und ebenso ward der Adjutant meines Vaters sehr gut behandelt. Geradezu ausgesucht aufmerksam aber war des Stadtrats Benehmen meiner Mutter gegenüber, die im ganzen Städtchen als das Muster einer vornehmen Dame verehrt und bewundert wurde.

Mein Vater vergalt das alles mit einer eisigen bis zur Grenze des Möglichen gehenden Zurückhaltung. „Von der alten Frau ist mir der kleine Finger lieber als ihr ganzer Herr Gemahl,“ pflegte er zu sagen, und ihr gegenüber war er der ritterliche liebenswürdige Mann, genau so, als sei sie eine wirkliche Dame.

Meine Mutter war gegen beide freundlich, das heißt von einer Freundlichkeit, die zwischen sich und der Person, der sie gilt, einen breiten Strich zieht, der von dem Stadtrat freilich nicht beachtet, von seinem Hannchen und der Base aber sorgfältig respektiert wurde.

Vor der Base empfand sogar mein Vater Hochachtung. „Siehst Du, Lenchen, das ist ein Frauenzimmer von echtem Schrot und Korn das ist eine, resolut wie ein Grenadier und weich wie eine rechte Frau. Wo die das Regiment führt, da ist gut sein, da geht’s ordentlich her, da ist die Wäsche schneeweiß und das Essen wohlschmeckend, da bekommt Gesind’ und Vieh sein Recht und da findet man ein gutes Wort in Sorg’ und Kümmernis. Ich weiß schon, Lenchen, warum Du lachst, aber ich sage Dir, ihr schauderhaftes Deutsch ist mir lieber als die schönste Salonsprache. Der alte Wrangel sprach auch nicht richtig. Fürs prakkische Leben giebt’s keine Bessere! Die und die Komtesse – alle Achtung, das ist ein gutes Gespann, Lenchen!“

Ich habe vielleicht nie mehr an diese Worte gedacht, nie mehr ihre Wahrheit erkannt als in jenen schweren Tagen, da für mich und meine Mutter jählings das Licht unseres Lebens erlosch und plötzlich die finstere Nacht hereinbrach, da mein Vater starb nach kaum zweitägigem Krankenlager. Damals war es, wo ich zum ersten Mal inneward, daß auch die alte unscheinbare Base ein Engel, ein Schutzengel und zwar der meinige sei. Als sich mein Kopf an ihre mühsam atmende Brust legte und ihre vom unterdrückten Weinen heisere Stimme in dem oft belächelten schlechten Deutsch sagte: „Hast viel verloren, Annelieseken, wein’ Dich aus, sonst stößt es Dich das Herz ab. Als mein Hannchen gestorben war, ging’s mich auch so, und erst nach dem Weinen kam ich zu mich selbsten“ – da meinte ich zu fühlen, wie die unsichtbaren Engelsschwingen sich um mich legten, lind und weich und tröstlich, so daß mein wilder Schmerz in Thränen sich auflöste.

Und wie eine Mutter, so sanft und liebevoll nahm sie sich der Witwe an. Meine Mutter war noch jung damals, eben zweiunddreißig Jahre, und ihr verstörter armer Kopf vermochte es nicht zu fassen, daß ihres Lebens Halt und Stab, ihres Lebens große Liebe dahingegangen sei. Nächtelang saß die Base am Bett der fiebernden verzweifelnden Frau, die immer nur von Gott forderte, daß er auch sie fortnehmen solle, denn sie könne nicht leben ohne den Gatten. Geduldig hörte die alte treue Seele das an. Als aber die Ausbrüche der Verzweiflung einem starren Schweigen wichen, als völlige Teilnahmlosigkeit eintrat, da hielt mein Schutzengel eine lange Rede und brachte Licht und Willenskraft zurück in den armen kranken Kopf der jungen Witwe.

„Da steht auch das Annelieseken, gnädige Frau, sieht aus wie vom Wind zerzaust, so unordentlich. Es hat sie, glaub’ ich, auch seit ein stückener acht Tagen keiner die Haare mehr gekämmt. Wäre sie man ein paar Jahr’ älter, dann könnt’s schon gehen mit ihr, wenn Sie sich unter die Erde gebracht haben mit Ihrem Kummer, aber sie ist man erst dreizehn, und ich denke, das ist ein bißchen zu jung ohne Mutter. – Annelieseken, komm’ ’mal her, mein’ Tochter, zeig’ Dich ’mal der gnädigen Frau! Du bist ja ganz naß! Bist wieder im Regen auf Deines Vaters Grab gewesen? Na, denn erkälte Dich nur, ich kann’s nicht ändern, wenn Du zuletzt die Lungenentzündung bekommst und stirbst.“

Meine Mutter hatte sich aufgerichtet und mich mit so verwunderten bestürzten Augen angesehen, als erblickte sie mich zum ersten Mal auf dieser Welt; dann streckte sie heftig die Arme nach mir aus. „Ach Du,“ schluchzte sie, „Du armes armes Ding, was soll werden aus Dir ohne ihn, ohne ihn!“

Mein Schutzengel ging leise hinweg, und wir weinten zusammen in dem Bewußtsein, daß, wenn uns auch viel genommen war, doch in unserem gegenseitigen Besitz uns noch viel geblieben sei.

[602] Damals schon tauchte der Gedanke in meiner Mntter auf, die Wohnung zu wechseln; aber da war der Schutzengel gekommen und hatte gesagt, die Gnädige möge verzeihen, der Vertrag laufe noch drei und ein halb Jahre.

So blieben wir denn in der Wohnung, die von Rechts wegen trotz ihrer Billigkeit viel zu teuer für uns war. Aber uns beiden schien es ein Trost, in den lieben Räumen weiter zu leben, und meine Mutter schränkte sich aufs äußerste ein, so daß es ihr gelang, alle Vierteljahre den bescheidenen Zins pünktlich zu entrichten.

Für sich brauchte die Mutter beinahe nichts; all ihre kleinen Ersparnisse wurden für mich verwendet, für meine Studien, für bescheidene Freuden, für kräftige Kost. Ich ahnte nicht, daß sie für Geld flickte, indes ich lernte; ich sah die Opfer gar nicht, verstand sie nicht. Als Kind ist man so selbstherrlich in seinem Denken – dies alles ist mir unterthänig, es muß so sein, glaubt man.

So war es mir eine schmerzliche Ueberraschung, als heute die Mutter davon sprach, kündigen zu wollen.

Nach langem Schweigen wandte sich Mama endlich wieder an mich mit irgend einer darauf bezüglichen Frage. Wir überlegten, ob wir hier in Westenberg bleiben oder in eine größere Stadt übersiedeln sallten, weil dort gewiß eine bessere Gelegenheit sei, für mich eine Lebensstellung zu finden, und kamen dann doch zu dem Entschluß, nicht fortzugehen von hier, wo wir gute Freunde hatten und – Papas Grab.

„Ich werde morgen an Wollmeyer schreiben,“ sagte meine Mutter, „Papa verhandelte immer nur schriftlich mit ihm und ich finde es überhaupt besser.“

Mit diesem Entschluß suchten wir unser Schlafzimmer auf. In der Nacht geschah es mehreremal, daß Mama mich fragte, ob ich weinte, und daß ich ihr keine Antwort gab und mein Schluchzen in den Kissen zu ersticken suchte, und dann umgekehrt hörte ich die Mutter leise seufzen.

Am folgenden Morgen wurde der Brief verfaßt, und unsere Aufwärterin – ein Mädchen hatten wir nicht, aus Sparsamkeitsrücksichten – trug das Schreiben zu Herrn Stadtrat Wollmeyer hinunter.

Und am Nachmittag, während ich Konversationsstunde bei einer alten verwitterten Französin hatte, die durch irgend einen Zufall nach Westenberg verschlagen worden war und wahrhaft klassisch altmodisch ihre schöne Sprache redete, machte sich Mama auf, um mit ihrer mütterlichen Freundin, einer alten Komtesse Degenberg, den Fall unseres Wohnungswechsels zu besprechen.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 37, S. 613–618

[613] Adele Komtesse Degenberg war das Haupt unseres kleinen Umgangskreises, der sich höchst exklusiv hielt. Nur Adel und zwar armen und ärmsten Adel vereinigte er; ein paar pensionierte Offiziere, darunter den Major von Tollen, der dann so schnell am Hochzeitstage seiner Tochter, der schönen Lore, starb; den Postdirektor von Blessow, einen ehemalige Hauptmann; einen Rittergutsbesitzer von Burwitz, der gänzlich abgewirtschaftet hatte und eine Hagelversicherungsgesellschaft vertrat, und einen adligen Pastor, der als Reiteroffizier umgesattelt hatte. Als einziges bürgerliches Element duldete man die übrigen drei Pastoren Westenbergs und den Sanitätsrat, der die Ehre genoß, unser aller Hausarzt zu sein, und gelegentlich auch Herrn Wollmeyer, wohlverstanden, erst seitdem er Witwer geworden.

Das waren die Erlesensten von Westenberg, und man muß sagen, sie hielten zusammen wie Kitt. Sie machten es sich gemütlich untereinander, sie halfen einander, soviel sie konnten, und wenn es einmal einen Zusammenstoß gab, so – noblesse oblige – wurde die Sache in höchster Diskretion in der Stille ausgeglichen; selten kam etwas in die Klatschmäuler der „zweiten“ Gesellschaft.

Komtesse Degenberg bildete, wie gesagt, die Spitze der „ersten“ Gesellschaft. Sie war verwandt mit einigen der vornehmsten erbangesessenen Adelsfamilien der Landschaft, war klug und wohlthätig, ein Schimmer von Wohlhabenheit umgab sie. Sie lebte – man denke – von ihren Renten und besaß ein kleines Haus in Westenberg, ausstaffiert mit dem Hausrat ihrer Eltern. Sie zehrte von der glanzvollen Erinnerung ihrer Jugendzeit, wo sie, die Tochter eines herzogliche Ministers, der Schimmer des Hoflebens [614] umgab. Die alte Dame war eine unbestechliche Richteriu in Sachen der Ehrenhaftigkeit und des guten Tones, leutselig gegen Untergeordnete, stolz gegen die „zweite“ Gesellschaft und immer bereit, Freunden ihren Rat zu erteilen, die Vertraute der jungen und alten Frauen in Ehestandsgeschichten. Einem derben Witz nicht abhold in gesetztem Kreise, besonders nicht beim Whist, war sie von naserümpfender Empfindlichkeit bei dem kleinsten Verstoß, den eine jugendliche Person gegen die Etikette machte. Nebenbei konnte sie als lebendes Adelslexikon gelteu und als Chronik sämtlicher interessanter Familiengeschichten. Eine alte Bekannte der Eltern meiner Mutter, duzte sie diese und sprach von mir immer herablassend als dem „Kücken“. Sie hielt gleich mir das Andenken meines Vaters als das eines vollendeten Kavaliers hoch in Ehren und deshalb liebte ich sie ehrfürchtig. Meine Mutter aber war ihr anerkanntes Schoßkind, ihr ganzer Verzug.

„Vornehm ist sie, die Helene, bis in die Fingerspitzen,“ sagte sie einmal zu mir, „Du hast nicht viel von ihr, Anneliese, leider! Sahst Du je ein so edles Profil, eine so aristokratische Hand? Und schon der Gang – diese Ruhe in ihren Bewegungen, in ihren Aeußerungen! Das ist ihr angeboren, das ist Rasse, mein Kücken. Sie hätte eine süperbe Hofdame abgegeben. Und wie sie alles trägt! Wenn ich nicht wüßte, daß es ihr knapp geht, ich hielte sie für eine Millionärin. Comme il faut, sehr comme il faut ist Deine Mutter, Anneliese.“

Zu ihr war Mama gegangen. Sie blieb sehr lange aus. Meine Lehrerin hatte sich längst entfernt, ich aber stand wie auf Kohlen und wartete, denn erstlich hatte die Base nach ihr gefragt und zweitens war der Geldbriefträger mit einem Schreiben dagewesen und dieses Schreiben hatte fünf große Siegel gehabt und durfte nur an Mama persönlich abgegeben werden – jedenfalls etwas noch nicht Erlebtes seit Papas Tode.

Ich hielt es endlich nicht mehr aus, nahm Jacke und Mantel und suchte Mama bei der Komtesse auf. Die alte Dienerin öffnete mir und flüsterte – bei der Komtesse gehörte das Leisesprechen zu den Erfordernissen des guten Tones, nur sich selbst gestattete sie eine Ausnahme; sie hatte ein Organ wie ein Wachtmeister und machte den ergiebigsten Gebrauch davon – Frau von Sternberg sei noch anwesend, ich möchte doch im Gartensaal warten, derweil sie mich melden gehe. Ich stand gleich darauf dem Spiegel gegenüber in dem recht kühlen Zimmer, das einen Saal zu nennen nur eine sehr kühne Phantasie sich erlauben konnte, und studierte meine Persönlichkeit, einen Spiegel, in dem man sich ganz sehen konnte, gab’s zu Hause nicht.

Komtesse hatte recht, so schön wie Mama sah ich nicht aus – ach, du lieber Himmel, es fehlte dazu sehr viel! Das kastanienbraune seidige Haar, das in üppiger Fülle Mamas zartes längliches Gesicht umrahmte, vertraten bei mir kurze krause dunkle Locken, der Teint war etwas gelb, das Gesicht nicht länglich, sondern rund. Dunkle gerade Brauen zogen sich über einem Paar Augen, die etwas allzu weit aufgeschnitten waren – wie die Komtesse meinte, beinahe so groß wie die der Mutter. Ein zu kurzes Näschen und leidliche Zähne vervollständigten das Gesicht; dazu mager wie ein junges Kätzchen und klein, sehr klein, während Mama gewachsen war wie eine Juno.

Mit einem Achselzucken wandte ich mich ab und der Nebenthür zu, die von einem geblümten Kattunvorhang verhüllt wurde; von dort scholl plötzlich die Stimme der Komtesse herüber.

„Also, meine liebe Lene, wenn ich das Quartier für achtzig Thaler bekomme, so mache ich die Sache fest.“

„Ich wäre Ihnen sehr dankbar, liebste Komtesse.“

„Es ist zu dumm, Lene, daß es wieder nichts wurde mit der Stiftsstelle für die Anneliese, es giebt halt zu viele arme adlige Mädel, zu viele, man könnte rein auf den Jahrmarkt damit ziehen. Na, verzage nicht, Len’, ’s ist manchmal wunderlich im Leben, irgend etwas findet sich, und Hungers stirbt heutzutage niemand. Es wird sich schon, wenn alle Stricke reißen, ein gutes Haus aufthun, in dem man eine Erzieherin als Dame respektiert, möglicherweise findet sich auch eine Partie für sie. Halt ihr nur den Daumen aufs Auge, daß sie dereinst nicht anfängt wie die Lore Tollen, die sich da von dem Raubautz, dem Becker, anhimmeln läßt! Ich werd’ der alten Tollen aber ’mal gründlich den Star stechen,“ setzte sie grimmig hinzu. „Du weißt, Len’, ich bin nicht hochwütig, und nimmt sich das Mädel den Doktor Schönberg – in Gottes Namen, wenn’s einmal durchaus geheiratet sein muß! Aber diesen – diesen –“

„Anneliese ist ja noch ein Kind, Komtesse,“ unterbrach meine Mutter die Eifernde, „und sie muß noch lernen, viel lernen, um dereinst auf eigenen Füßen stehen zu können. Armes Ding!“ schloß sie mit einem Seufzer.

„Lene, die alte Geschichte mit Deiner Selbstanklage, daß Dir der Bruder lieber war als das eigene Kind! Das laß unterwegs und fang’ nicht an zu flennen; die paar Thaler hätten sie wahrlich auch nicht auf eigene Füße gestellt. Du hast Dir das Leben damit verbittert und Deinem Manne dazu; mach’ nicht so weiter, es ist unrecht!“

„Komtesse, ich weiß nicht, was ich vor Freude thäte, könnte ich das kleine Kapital wieder ersetzen, das ich ihr für meinen Bruder stahl – jawohl, gestohlen hab’ ich es. Oder ist es kein Stehlen,“ fuhr sie mit erhobener Stimme fort und machte damit den Einwand der alten Dame verstummen, „wenn ich in meiner Sorge um den Bruder das Kind in der Wiege vergesse und immer vor den Augen meines Mannes umhergehe in meiner Verzweiflung und meiner Angst um Herbert und was aus ihm werden solle? Und als er nun so traurig und still dasaß und überlegte, ob er mir helfen dürfe oder nicht, da habe ich – – aber das können Sie nicht verstehen, Komtesse,“ schaltete sie ein mit jener drolligen Ueberlegenheit, die verheiratete Frauen den unverheirateten gegenüber unwillkürlich an den Tag legen. „Ich will nur sagen, daß er mich unvernünftig lieb hatte, daß er mir keinen, selbst nicht den nur geahnten Wunsch abschlagen konnte, wenn ich wollte, und in diesem Falle wollte ich, daß er mich verstand, daß er das erste Wort spreche, wollte, daß er ebenfalls die Zukunft seines Kindes vergesse. Und ich erreichte es – leise, als ob ihm die Sprache schwer werde, sagte er: ‚Nimm doch das kleine Kapital, Helene, nimm, aber werd’ ruhiger! Und weine nicht mehr, ich kann’s nicht sehen.‘ Und ich pflichtvergessenes Menschenkind, ich schlang den Arm um seinen Hals und nahm das Opfer an! Als das Geld abgesanbt war, ich hatte es selbst zur Post getragen, da kam ich mit leichtem Herzen nach Hause und wollte zu ihm, ihm danken. Ich fand ihn nicht in seiner Stube, und als ich ihn suchte, da saß er an der Wiege und hatte das Kind herausgenommen und herzte und küßte es. ,Du armer Wurm!‘ sagte er, mit einem Tone, Komteß – ach da begriff ich erst, was ich gethan und – –“

„Lene,“ unterbrach ae die Komtesse, „die Geschichte kenn’ ich auswendig, sie wird zur fixen Idee bei Dir! Laß das Grübeln darüber! Ihr habt beide nicht recht und doch recht gethan! Du lieber Himmel, macht denn das bissel blöder Mammon allen Segen aus? Nebenbei ändert Dein Heulen nicht das Geringste mehr an Eurer Thorheit – das Kind muß eben ohne die dreitausend Thaler durchs Leben. Und jetzt hörst Du auf zu weinen, Len’! Was ist los?“ unterbrach sie sich, zu jemand anders sprechend. „Wie? Anneliese ist da, Len’ – und das sagt das alte Kamel mir erat jetzt! Nicht finden konnten Sie mich? Herr des Himmels, ich bin doch keine Stecknadel! Wo ist sie denn? Na, das fehlte noch, Len’, daß das Kücken Deine Bußlitanei mit angehört hätte!“

„Anneliese! Anneliese!“ scholl ihr Ruf hinter mir her, die ich schleunigst in den Garten geflüchtet war und mich dort bemühte, mit möglichst unbefangener Miene die großen roten Weinranken der Laube zu betrachten. Um die Welt hätte ich Mama nicht sehen lassen mögen, daß ich nun wußte, weshalb sie sich so grämte, und nur um – lächerlich – um dreitausend Thaler! Mama hatte doch ihre Witwenpension!

„Da steht ja das Gör’, Len’. – Also ich geh’ zu Schulzen und miete die Wohnung, er wird sie schon lassen für achtzig Thaler.“

Ich kam artig herbei und küßte der Komtesse die Hand.

„Siehst blaß aus, Du Taternkind! He, Lene, wo hast Du dieses Kücken eigentlich den Zigeunern abgejagt? Weiß Gott, sie ist wie geradeswegs aus Spanien verschrieben – und Dein Mann war so ein urdeutscher Blonder.“

Meine Mutter zog mich lächelnd an sich und strich mir zärtlich über das Gesicht. „Wie lieb von Dir, Anneliese, daß Du mich abholst,“ sagte sie weich.

Auf dem Heimwege berichtete ich Mama von dem Briefe. Sie sah mich nicht an, sie nickte nur leise und beschleunigte ihren Schritt. Zu Hause angelangt, fanden wir den Briefträger, der eben die Treppe wieder herabkam, nachdem er vergeblich an unserer Thür geklingelt hatte. Mama öffnete das Schreiben und las es im Stehen, ohne Hut und Mantel abgelegt zu haben. Natürlich hing ich mit brennender Neugier an ihrem Gesicht.

„Mama, hast Du schlechte Nachrichten?“ fragte ich ängstlich, [615] denn sie war plötzlich von einer fahlen Blässe und die Augen schienen wie eingesunken. Sie schüttelte den Kopf, ließ das Blatt sinken, besah ein paar Kassenscheine – von welchem Wert konnte ich nicht erkennen – las wieder den Brief und ging dann rasch der Thür zu, die in ihr Zimmer führte.

„Mama!“ rief ich verzweiflungsvoll, denn ich war gewöhnt, daß sie mir alles rückhaltlos mitteilte.

Sie wandte sich und sagte: „Von Onkel Herbert ein Brief.“

„Von Onkel Herbert? Gute Nachrichten? Er schrieb ja ewig nicht, Mama!“

„Gute Nachrichten, Anneliese, es geht ihm nach Wunsch, er hat sich verheiratet, und –“

„Und das schreibt er erst jetzt?“

Aber sie antwortete nicht, sie ging. Erst viel später habe ich jenen Brief gelesen, der mir damals ein Geheimnis blieb. Ich besitze ihn noch, er lautet:

  „Liebe Schwester!

Es thut mir wahrhaft leid, daß Du Dich in einer so bedrängten Lage befindest, und schwer, sehr schwer wird es mir, Dir die Hilfe, die Du von mir heischst, nicht in vollem Umfange gewähren zu können. Ich habe zwar augenblicklich eine Stellung gefunden mit leidlichem Einkommen, aber – auf wie lange? Man muß doch auch an die Zukunft denken, denn, liebe Helene, ich – ich hätte es Dir längst mitteilen sollen – ich habe mich verheiratet vor drei Jahren, und schon sind zwei Kinder unser. Meine Frau, sie ist die Tochter des hiesigen Oberinspektors, ist sehr praktisch und führt genau Buch über unsere Einnahmen. Sie hat den Plan, unsere Buben sollen dereinst auf eigenem Grund und Boden sitzen, und legt jeden Pfennig für die Kerlchen zurück. Ich hoffe, ich kann Dir öfter unter der Hand eine Kleinigkeit schicken wie heute, und später auch wohl eine größere Summe, ich habe es nicht vergessen, daß ich Dir viel schulde. Wer helfen könnte! Du hast ja aber nur ein Kind und dazu eine Witwenpension, vor wirklicher Not bist Du also geschützt. Leb’ wohl, liebe Helene, grüße Dein Kind und sei versichert, daß wenn ich in bessere Lage komme, ich an Dich

denken werde. Jetzt – man ist eben nicht Alleinherr seiner Handlungen – leb’ wohl!
Dein treuer Bruder Herbert.“ 

Unten war vermerkt: „Anbei zwei Fünfzigmarkscheine.“

Das schrieb der Mann, dem sie einst den Sparpfennig geopfert, der sie und ihr Kind vor äußerster Not schützen sollte!

Wie gesagt, damals kannte ich den Inhalt dieses Briefes nicht und ebenso wenig die wirkliche Notlage, in der sich Mama befand. Ich hatte sie nie klagen hören, ich dachte zwar, wir wären arm, aber doch vor dem Aeußersten geschützt, und glaubte, Onkel Herbert, von dem wir so lange nichts gehört hatten, sei in guter Stellung und Lage, besaß ich doch keine Ahnung, daß er noch als Assessor umgesattelt hatte und Oekonom geworden war, nicht gerade aus Lust und Liebe zur Landwirtschaft, sondern um sich vor seinen Gläubigern zu retten; er hatte in Berlin etwas zu viel Geld verausgabt und war dann nach Ungarn gegangen, und der Brief meiner Mutter mußte ihn dort gefunden haben.

Von alledem wußte ich nichts, ich wunderte mich nur, daß Mama so verstört gewesen war und so lange in ihrem Zimmer blieb. Wir nannten es den „Salon“; Mamas Schreibtisch stand darin, ihr Nähtischchen, eine Chaiselongue und ein paar nette Rokokomöbel, die noch von Mamas Großmutter herstammten. Das Zimmer hatte durch die ganze Anordnung, durch Blattpflanzen, die Mama zärtlich liebte, und durch einige nachgedunkelte alte Familienbilder ein behagliches, fast elegantes Aussehen, und wir wetteiferten beide, es noch durch allerhand kleine Spielereien zu verschönern. Dort empfing Mama ihre Besuche, dort hielt sie ihre Whistkränze und dort schloß sie sich ein, wenn sie weinen wollte.

Ich mußte noch lange pochen, ehe sie öffnete und ich den alten Freund unseres Hauses, den Sanitätsrat, anmelden konnte. Sie war sogleich bereit, ihn zu empfangen, und ich hörte nur noch, wie er sagte: „Ei, ei! Was ist’s denn wieder einmal, Frau von Sternberg? Sie weinen ja!“ Dann schloß sich die Thür hinter ihm, und ich stand allein am Fenster unserer Wohnstube und sah in dem sinkenden Oktoberabend auf den todeseinsamen Hof hinab, der recht herrschaftlich mit einem großen von eisernem Kettenwerk eingefriedigtem Rasenplatz geschmückt war. In der Mitte erhob sich ein schön gemeißelter Sandsteinbrunnen, dessen wasserspeiender Löwe das Wappenschild derer von Serrenburg noch immer in den Pranken hielt, sicher zur besonderen Freude des Herrn Wollmeyer, dessen drittes Wort war: „Feudal!“

Merkwürdigerweise war Wollmeyer bei allen Leuten im Städtchen beliebt, ich wenigstens fand es sehr merkwürdig, denn ich mochte ihn nicht leiden. Warum? Ich hätte es nicht zu erklären gewußt, hätte auch nichts Greifbares gegen ihn vorbringen können und hütete wich daher, mit meiner Meinung herauszurücken, denn in diesem Falle hätte ich sogar Tante Komtesse gegen mich gehabt. Der Herr Stadtrat legte ja alljährlich um Weihnachten herum eine große Summe in die Hände der alten Dame, ohne die ihre „Armekinderbescherung“ höchst mangelhaft hätte ausfallen müssen. Der Herr Stadtrat that überhaupt unendlich viel Gutes. Er hatte ein Asyl gebaut für alte erwerbsunfähige Frauen, das er zu Ehren seiner Gattin „Johannen-Heim“ nannte; er hatte der Stadt ein Siegesdenkmal geschenkt und ein kunstreiches schmiedeeisernes Gitter um die Luther-Eiche; auf einem Dutzend Ruhebänken in den städtischen Promenaden waren die stolzen Worte zu lesen: „Gestiftet von Herrn Stadtrat Wollmeyer, seinen Mitbürgern zur Erholung“, sein Name stand obenan bei allen Sammlungen. Er vertrat die konservative Partei der Stadt im Landtage; er fehlte Sonntags niemals in der Kirche, gab ausgesuchte Diners und lud Jagdfreunde zu seinen Feldjagden ein, deren großes Revier er den Bauern teuer genug abgepachtet hatte. Er schickte der Reihe nach in die Häuser der Honoratioren Hasen oder ein paar Rebhühner, je nachdem, beschenkte die Kinder seiner Bekannten zu Weihnachten mit den leckersten Süßigkeiten und zu Ostern mit bunten Eiern, kurz, Männer, Frauen und Kinder Westenbergs fanden keinen Tadel an ihm, dahingegen sehr viel zu loben. Schade nur, daß er Hannchens wegen doch von der eigentlichen Gesellschaft ausgeschlossen geblieben war, daß er nie einen Platz am Stammtisch der alten verabschiedeten Offiziere behaupten konnte, daß der Landrat bei seinen offiziellen Herrendiners zu Ehren des Präsidenten der Provinz stets vergaß, für Herrn Wollmeyer decken zu lassen, und daß das Knopfloch seines Fracks bis jetzt gänzlich ungeschmückt geblieben war. Ich wußte aus feinem Benehmen, daß er diese Mißerfolge seinem Hannchen zur Last gelegt und sie in solcher Stimmung abscheulich behandelt hatte. Kinder haben ein scharfes Auge für Ungerechtigkeiten. Das war’s wohl auch, weshalb ich den Herrn Stadtrat nicht leiden mochte; ich war empört über die absichtlich nachsichtige mitleidige Art, mit der er vor andern von seiner Frau sprach und auch von der Base, die übrigens nie in Gesellschaft erschien. Ich wußte ja, wer regierte, wußte, daß er eine Taktlosigkeit über die andere begangen haben würde ohne diese einfache Frau.

Eben sah ich ihn über den Hof kommen, neben ihm schritt die Base, sie kehrten wohl vom Kirchhof zurück, wohin sie einen Kranz zum Gedächtnis getragen hatten. Ja richtig, die Base hatte ja mit meiner Mutter sprechen wollen, wohl wegen der Wohnung! Ach, diese Wohnung! Es würde doch sehr schwer sein, sie zu verlassen und in so ein kleinbürgerliches Haus zu ziehen, fort aus diesen Räumen, die trotz aller Mängel der Tapeten und Oefen, trotz der Mäuse und der altersschwachen ungenügend schließenden Fenster so vornehm waren.

Wie lange der Sanitätsrat heute blieb und wie leise sie sprachen!

Da klopfte es – ein ganz ungewohntes lautes unverschämtes Klopfen, das ich noch nie gehört. Wer mochte es sein? Der Base Himmel ihr schüchternes tapp, tapp! war es nicht.

„Herein!“ sagte ich zögernd.

„Störe ich, gnädige Frau?“ fragte eine Männerstimme. „Ah, Sie sind da, Fräulein Anneliese? Würde ich die Frau Mama sprechen können, einen einzigen Augenblick nur?“

Der Stadtrat selbst! Wunderbar, daß er jetzt heraufkam! Er war nie wieder dagewesen, seit er, noch zu Papas Zeiten, bei seinen wiederholten freundschaftlichen Besuchen die „Herrschaft“ merkwürdigerweise niemals zu Hause getroffen, selbst wenn er sie kurz vorher hatte die Treppe hinaufgehen sehen.

„Mama?“ fragte ich verwundert. „Mama hat Besuch vom Herrn Doktor.“

„Erlauben Sie, daß ich etwas warte, Fräulein Anneliese, da ich nun doch einmal hier bin.“

Er könnte auch „Gnädiges Fräulein“ sagen, dachte ich ärgerlich, mir war eben nichts recht an dem guten Mann.

„Ihre Frau Mutter hat mich sehr betrübt,“ begann er wehleidig, seinen funkelneuen grauen Cylinder behutsam neben seinen [618] Stuhl auf die Diele legend. „Sie schreibt mir da vom Ausziehen. Warum denn? Weshalb denn? Wieso denn? Ich würde außer mir sein, wollte Ihre verehrte Frau Mutter die Wohnung wechseln! Wissen Sie nicht, Fräulein Anneliese, was der Grund ist für diesen Entschluß? Ich kann wohl sagen, die Sache hat mich schmerzlich berührt, gerade jetzt – ich bin noch so weich, so ergriffen – –“

In diesem Augenblick trat meine Mutter ein, die Wangen leicht gerötet, die Augen noch feucht, in Thränen schimmernd, bildschön in ihrem einfachen schwarzen Wollkleide, wie sie es seit Papas Tod zu tragen pflegte. Sie stutzte, als sie den Herrn Stadtrat sah, der den Klemmer am schwarzseidenen Bande ebenso rasch abnahm, wie er ihn bei ihrem Eintritt aufgesetzt hatte.

„Aber, meine Gnädige,“ hub er weinerlich an, „aber meine liebe gnädige Frau, das ist doch unrecht, das ist doch eine traurige Idee, daß Sie mein Haus verlassen wollen. Ich bin gekommen –“ er hatte Mamas Hand erfaßt und zog sie unbehilflich an die Lippen, „bin gekommen, Sie zu bitte, mir erklären zu wollen was Ihnen mißfällt an der Wohnung. Bitte, bitte, sagen Sie mir’s, ich bin zu allem erbötig, ich – –“

„Die Wohnung ist mir zu groß,“ antwortete meine Mutter ruhig.

„Sie würden mir einen Gefallen thun, wollten Sie mir noch eins Ihrer Zimmer abtreten,“ antwortete er; „ich überlasse Ihrem Ermessen, gnädige Frau, welches ^Ilme am entbehrlichen ist.“

„Es thut mir leid, ich habe bereits – ich glaube wenigstens – eine andere Wohnung gemietet.“

„Schon gemietet? Wo denn, wenn ich fragen darf?“ erscholl in diesem Augenblick die Stimme des Arztes, dessen Gestalt auf der Schwelle des Zimmers erschien, „wo denn, meine Gnädige?“

„In der Zimmergasse, beim Oekonom Schulze,“ erwiderte ich statt ihrer, „Tante Komteß will sie mieten.“

„Da soll sie, mit Respekt zu sagen, doch gleich –“ er unterdrückte eine kräftige Redensart. „Wollen Sie dort eine Fisch- oder Entenzucht anlegen? Die Keller stehen einen halben Meter hoch voll Wasser und die Nässe tropft von den Wänden das ganze Jahr hindurch. Kennen Sie denn die Wohnung? Es wäre ja gerade so gut wie Selbstmord, wollten Sie –“

Meine Mutter sah erschreckt aus. „Die Komteß meinte doch –“ stammelte sie.

„Die Komteß hat keine Ahnung von hygieinischen Verhältnissen, das müßten Sie doch wissen, meine liebe gnädige Frau, die Komteß pfuscht an sich und leider auch an anderen mit den wunderbarsten Mitteln herum, und ihre Autorität ist der Böddenstädter Schäfer; es giebt eben nichts, was der Schäfer nicht kurieren könnte. Alle Achtung vor ihr in sämtlichen anderen Beziehungen, aber in dieser Hinsicht mache ich drei Kreuze vor ihr! Aus der Wohnungsmieterei wird nichts!“

„Bravo! Bravo!“ rief der Stadtrat behaglich lachend. „Sie sehen, meine Gnädige, Sie können hier nicht fort. Ueber die Bedingungen, wenn Sie noch eine Stube abtreten, redet meine Kousine mit Ihnen.“ Er sagte nicht: „Base“, das war nicht fein genug. „Und nun kein Wort mehr! Ihr getreuer Hauswirt empfiehlt sich zu Gnaden, meine Damen.“

Er schenkte sich diesmal den Handkuß, schwenkte seinen Hut im Halbkreise gegen uns und dienerte rückwärts zur Thür hinaus, als habe er Eile, fortzukommen. Ich wandte mich um, damit er mein Lachen nicht sehe. Er kam mir nun einmal halb verächtlich, halb lächerlich vor, dieser mittelgroße beleibte Herr mit dem blühenden Gesicht, das an einen Borsdorfer Apfel gemahnte, und dem vergeblichen Bemühen, elegant sein zu wollen.

„Aber, meine Gnädige,“ begann der Arzt, „wie kommen Sie denn darauf, ausziehen zu wollen? Danken Sie doch Gott, daß Sie eins der wenigen gesund und gut gebauten Häuser in ganz Westenberg bewohnen können!“

„Lieber Doktor, Sie wissen doch, es ist mir zu teuer. Und da der Vertrag abläuft, so wollte ich auch einer Kündigung Wollmeyers zuvorkommen –“

„ Warum sollte er denn kündigen?“

Mama ward verlegen. „Ach, ich glaubte es bestimmt, ich nahm es an, und in der That muß er erst seit kurzem seine Ansicht geändert haben, denn vor einigen Wochen erzählte er mir noch, daß er später den oberen Stock beziehen wolle.“

„Na, wie Sie sehen, will er Sie aber nicht verlieren, und so bleiben Sie, ich rate Ihnen dringend. Abgemacht? – Nun, mein Fräulein, husten wir noch sehr viel?“ wandte er sich an mich und betrachtete mich mit forschendem Doktorauge.

„Ach, es geht – nicht mehr so oft,“ antwortete ich.

„Nicht zu viel sitzen, mehr Bewegung in freier Luft!“

„Ja, bester Herr Doktor“ – Mama sprach es erregt und nervös – „wie soll sie das machen?“ Und ihr Gesicht sah plötzlich wieder ganz verändert aus. Ich erkannte sofort, daß jener tiefe Leidenszug sich um ihren Mund legte, der sich stets zeigte, sobald von meiner Zukunft die Rede war. „Denken Sie doch, sie arbeitet für ihr Examen! Es wird so viel verlangt heutzutage, sie muß immer die späten Abendstunden zu Hilfe nehmen –“

„Um sich gesundheitlich zu ruinieren! Nachher hat sie den Kopf voll gelehrten Krams, und es wird sie nur eins hindern, besagten Kram praktisch zu verwerten – ihr elender Körper. Aber das habe ich des öftern schon zur Genüge erörtert, Sie kennen meine Ansicht, gnädige Frau. Guten Abend!“

Er hatte ärgerlich gesprochen und verließ uns rasch. Ich hatte ihn noch nie so erblickt.


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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 38, S. 629–632

[629] Es blieb sehr still im Zimmer, nachdem der Sanitätsrat gegangen. Meine Mutter hatte sich in der tiefen Fensternische niedergelassen und blickte hinaus. Ich wartete auf ein Wort von ihr, ebenfalls in das verglimmende blasse Gold des Horizontes starrend, von dem sich die Häuser des Dorfes jenseit der weitgestreckten Wiesen in harten Umrissen abzeichneten.

Kein Wort kam aus der Fensternische herüber, endlich ein leises Stöhnen.

„Mama!“ Ich war gleich bei ihr; sie ließ mir die Hand und wandte das Gesicht ab. „Mama, Du wärst lieber hier ausgezogen? So laß es uns doch thun, wir haben keinem Menschen Rechenschaft zu geben. Ich gehe hinunter zur Base und sag’ ihr: wir ziehen doch!“

„Nein!“ antwortete sie fest.

„Wir bleiben hier?“

„Ja. Es wird ja wohl so sein sollen,“ antwortete sie mit einem kurzen Auflachen. Es war ein überaus harter Klang darin. Ich erinnere mich noch ganz deutlich dieses Abends, der so bedrückenden Stimmung, welche mich beherrschte wie vor einem Gewitter. Die Ahnung drohenden Unheils überkam mich, der Anfang von etwas unsagbar Traurigem kündigte sich an.

Mama zündete endlich Licht an, schrieb der Komtesse, daß wir blieben, und sandte mich zur Base, ihr zu sagen, wenn wir dieselben Räume behalten könnten wie bisher, und zwar zu dem nämlichen Preise, so wollten wir alles unverändert lassen.

Ich fand das alte Fräulein in der Küche im Erdgeschoß, einer so blanken, von Messing und Kupfer strahlenden Küche, wie man sie nur dort sieht, wo die Hausfrau selbst noch gern kocht und ihren Stolz darein setzt, die weißesten Tische und die glänzendsten Kessel zu haben. Die Base selbst, in ihrem schwarzen Kleid, die blendend weiße faltige Schürze darüber, sah aus wie aus dem Ei geschält und war so geräuschlos und so flink bei ihrem Thun, als hätte sie achtzehn und nicht vierundsechzig Jahre auf dem Rücken. Dabei zeigte ihr mageres Gesicht mit den tiefen Sorgenfalten und dem schmalen festgeschlossenen wortkargen Munde stets den gewohnten herben Ausdruck, ganz gleich, ob sie süße Aprikosen oder Essiggurken kostete.

Heute besonders fiel mir ihr Gesicht auf, sie sah ja immer aus, als habe sie sehr viel Leid getragen, stillschweigend getragen, sehr viel Ungerechtigkeiten gesehen, stillschweigend gesehen, als betrachte sie das Leben überhaupt nur als eine notwendige Arbeit, welche noch vor Schlafengehen gethan werden müsse, ordentlich und richtig, damit man gut ruhen könne. Heute aber war noch etwas ganz anderes darin, etwas so Aengstliches.

Sie richtete eben dem Hausherrn das Abendessen an – es bestand aus Krammetsvögeln, jeder auf einem Schnittchen [630] gerösteter Semmel liegend, so appetitlich wie die Base Himmel selbst, aber gottlob nicht so mager, dachte ich in meinem unartigen Mädchenkopf.

„Guteu Abend, Base,“ sagte ich, und als sie den Teller mit den Gerichten dem hübschen Stubenmädchen zum Servieren übergeben hatte, rückte ich mit meiner Bestellung heraus.

Ueber das alte runzelvolle Gesicht unter der schneeweißen Mullhaube zog ein flüchtiger roter Schimmer. „Ist recht, Fräulein Anneliese,“ sagte sie ruhig, „werd’s bestellen.“ Und dann schickte sie sich an, dem Herrn Stadtrat Gesellschaft zu leisten bei seinem „Souper“, indem sie die Schüssel Hafergrütze, die sie an jedem Abend ihres Lebens zu essen pflegte, ergriff und der Küchenthür zusteuerte. Bis in den großen Flur gingen wir miteinander, dann sagte sie noch einmal. „Ist recht, werd’s bestellen“ und verschwand in dem Eßzimmer, zu dem ihr das Mädchen die Thür öffnete. Ich konnte, mit dem Blicke folgend, den Herrn Stadtrat am Tische sitzen sehen, wie er bereits so einen unglücklichen Krammetsvogel zerbiß. Jedenfalls hatten ihm seine Gedanken und Beschlüsse den Appetit nicht verdorben.

Kaum war ich wieder oben in unserer Wohnung, da hastete das Stubenmädchen hinter mir her. Eine schöne Empfehlung, und der Herr Stadtrat freue sich sehr und wäre einverstanden, und seiner Zeit werde er den erneuerten Vertrag zur Unterschrift heraufsenden.

Meine Mutter, die hinter der Lampe am Tische saß, noch immer mit dem nämlichen blassen Gesicht, antwortete nur: „Ich lasse danken.“

Dann versank sie wieder in ihr Brüten. Ich holte meine Bücher herbei, das Schreibzeug und schickte mich an, ein Gedicht von Beranger in deutsche Verse zu übersetzen. Da schlug sie mit einer rascheu Handbewegung das Buch zu.

„Laß das!“

„Aber – Mama!“

„Laß das! Du siehst blaß aus – – es wird – es muß auch so gehen.“

„Aber diese Arbeit soll ich –“

„Nein! Nein!“ rief sie heftig, „Du sollst nicht! Es ist ja eine Thorheit von mir,“ setzte sie, sich fassend, hinzu. „Als ob’s durchaus nötig wäre, daß Du das Examen bestehst! Du kannst ja auch irgend etwas anderes – vielleicht später, Anneliese – aber erst erhole Dich – – wir machen Ferien, Anneliese, lange Ferien.“

Ich war noch so unbefangen, noch so jung, kannte damals das Leben noch so wenig, daß ich thatsächlich eine große Erleichterung fühlte nach ihren Worten. Meiner ganzen Natur widersprach es, Lehrerin zu werden; ich hatte Lust am Lernen, aber das Drillen zum Lehrerinnenberuf war mir verhaßt, und mein Kopf hatte längst nachgegrübelt, ob es denn gar nichts anderes in der Welt für ein Mädchen geben könne, als Lehrerin zu werden – der einzige Beruf, von dem Tante Komteß meinte, daß er einigermaßen standesgemäß sei.

Der Seufzer der Erleichterung mochte wohl sehr laut und ehrlich geklungen haben, denn über das Gesicht meiner Mutter flog ein liebes Lächeln und sie reichte mir die Hand über den Tisch. „Werde gesund, Anneliese, dazu kann ich Dir vielleicht helfen – ob Du glücklich wirst, weiß Gott allein.“

Ach, in der nächsten Zeit war ich sehr glücklich! Mit dem Aufhören der fortwährenden Anspannung aller Geisteskräfte durch meine so unglaublich viele Unterrichtsstunden kam zwar eine ungeheure Mattigkeit, ein völliges Erschlaffen über mich. Ich konnte stundenlang schlafen am Tage oder müßig am Fenster sitzen. Dann aber regten sich die Kräfte, und nun trieb es mich fort; ich ließ Mama keine Ruhe, bis sie mit mir hinaus in die Schneelandschaft wanderte, wer weiß wie weit auf der einsamen Landstraße, wo höchstens ein Torf fahrendes Bäuerlein mit seinem Ochsengespann uns begegnete, ein Schwarm Krähen mit heiserem Geschrei aufflatterte, so weit, daß wir den Schloßturm von Uetze nahe vor uns sahen und umwendend die abendlichen Lichter Westenbergs kaum noch zu erkennen vermochten, daß meine Mutter seufzte, sie könne nicht mehr fort und ich übertreibe eben alles, früher das Lernen und jetzt die sogenannte Erholung. Der Sanitätsrat aber lächelte und beschwichtigte Mamas Klagen mit dem Bemerken: „Es war die höchste Zeit, daß es so kam, lassen Sie sie, die unterdrückte Jugend will ihr Recht.“

Mama hatte plötzlich eine erwachsene Tochter. Mit vollen Zügen genoß ich die höchst primitiven Vergnügungen Westenbergs, die Kaffee- oder Theeabende und die Mondscheinbälle, die viel weniger romantisch waren als ihr Titel, denn es handelte sich bei diesem einfach um die Erleuchtung der Landstraße für die Herrschaften vom Lande, die in rabenfinsterer Nacht nicht gern die Beine ihrer Pferde oder gar die eigenen Hälse riskieren wollten und deshalb nur bei Mondschein kamen.

Das Tanzen hatte mir, zu meinem unsagbaren Kummer, der Doktor verboten; nebenbei mangelte es auch gewaltig an Tänzern, mit Ausnahme von Weihnachten, wo meistens etliche Brüder und Vettern auf Urlaub anwesend waren. Der Herr Stadtrat pflegte bei diesen Festlichkeiten, in Ermangelung eines Sohnes, einen jungen Mann einzuführen, den er stets mit den Worten vorstellte: „Mein Neffe, von Brankwitz.“ Dieser Neffe mit der Berliner Aussprache, von dem man nie erfuhr, welchen Beruf er ausübe und der, wie man sich zuraunte, viel Geld hatte, imponierte uns zwar spottwenig, war jedoch schließlich als Tänzer willkommen. Er wurde auch Mama und mir zugeführt, nahm aber wenig oder gar keine Notiz von mir, wahrscheinlich weil ich nicht tanzte oder weil ich über ihn hinwegsah. Nun, jedenfalls störte er mich nicht in meinem Vergnügen; ich amüsierte mich und war es auch nur über die Toiletten der Damen, die Riekchen Wobser, die Schneiderin der Honoratiorenwelt, mit rührender Konsequenz sämtlich nach dem nämlichen Schnitt verfertigte, wobei sie nur die Farben verschiedentlich wählte, so daß wir aussahen wie eine Flaggensammlung: schwarz-weiß, rot-weiß, grün-weiß, blan-weiß etc.

Die schönste Erscheinung war und blieb unbestritten meine Mutter, trotz ihres einfachen schwarzen mit Spitzen garnierten Seidenkleides, das sie einmal wie allemal trug. Der wundervolle Hals hob sich daraus so schwanenweiß hervor und ließ ihre schlanke Gestalt nur noch ebenmäßiger erscheinen. Ich bewunderte sie über die Maßen und nahm es nicht im geringste übel, als der alte Major von Tollen in seiner soldatischen Derbheit sagte. „Ja, ja, kleines Fräulein, die Mutter erreichen wir nicht, die ist noch in zehn Jahre schöner, als wir heutzutage sind, ja, ja!“

Ich hatte gar nicht die Absicht, für schön zu gelten, ich war so neidlos – wie hätte ich meine Mutter beneiden können! Und ich war so glücklich über meine Freiheit – mit achtzehn Jahren hat man ein Recht auf Jugendfreiheit. In unserem Mädchenkreise war ich die Uebermütigste von allen ich lebte in den Tag hinein wie ein losgelassenes Füllen und fand das Dasein trotz aller Kargheit bezaubernd – diesen einen Winter lang.

Zum Frühjahr aber kam die Mattigkeit wieder stärker über mich, ich fühlte meine Glieder wie Blei, ich konnte die Treppen nicht ersteigen ohne atemloses Herzklopfen, und so sehr ich mich auch bemühte, den Husten zu unterdrücken, ich ward seiner nicht Herr.

„Anneliese, aber Anneliese!“ klagte dann meine Mutter, das blasse Entsetzen auf den zitternden Lippen.

Doch ich lachte sie aus. „Was bildest Du Dir ein, Mama! Ich habe jedes Frühjahr gehustet, im Sommer geht’s wieder vorüber.“

Die Base kam und brachte Eingemachtes und frische Eier und tröstete mich mit allerlei kleinen Aufmerksamkeiten und ermunternden Worten, und der Herr Stadtrat hielt es für nötig, sich alle Augenblicke höchstselbst nach meinem Befinden zu erkundigen oder sich zu Mama und mir in den Garten zu setzen, wenn wir die Frühjahrssonne aufsuchten. Ich antwortete ihm kaum, mischte mich nie in ein Gespräch und behandelte ihn, wie Papa ihn behandelt hatte. Aber Mama unterhielt sich mit ihm viel mehr als sonst. Er erzählte oft von seiner Besitzung im Thüringer Wald und der herrlichen Gegend, in der sie liege.

„Sie meinen wohl die Mühle?“ fragte ich einmal.

„Die Mühle,“ gab er zurück, „und das Rittergut nicht weit davon, mit seinem reizenden Schlößchen. Die Luft sollten Sie atmen, Fräuleiu Anneliese!“

„Anneliese ist die feuchte Luft hier sehr angenehm, und der Garten ist ja so schön,“ antwortete Mama ablenkend. Und sie nahm das Buch empor, aus dem sie mir vorlas, jedenfalls in der Hoffnung, der Herr Stadtrat werde sich empfehlen. Aber er empfahl sich nicht, er blieb stundenlang da bei uns sitzen und unsre Bekannten, die sich in treuer Gewohnheit nach Mamas und meinem [631] Befinden erkundigen wollten, trafen beständig die rührende Gruppe unter der Linde an, Mama auf der Bank, mich im bequemen Lehnstuhl, mit Decken eingehüllt, und den Herrn Wollmeyer, im grauen Hausjackett und großen Panamahut mit schwarzem Bande, uns gegenüber.

Man nahm das so hin, wie es hingenommen werden mußte, es war ja sein Garten; man sprach auch mit ihm und ließ sich die ersten Rosen und ungeheure Fliedersträuße von ihm schenken man pries uns glücklich, einen so liebenswürdigen Hauswirt zu haben.

Mama allein schien unruhig und ihre Augen hingen mit einem so fragenden gespannten Ausdruck an den Gesichtern unserer Freunde, als wollte sie ausrufen. „Was denkt Ihr denn? Ihr glaubt doch nicht – um Gotteswillen!“

Mir ist gar vieles erst später klar geworden, damals war ich zu matt zum Denken, zu Folgerungen aus all den kleinen Vorkommnissen; ich ärgerte mich nur immer wieder über die Vertraulichkeit des redseligen Mannes, dessen Aufmerksamkeite so grob waren wie Kanonenschläge. Ich wunderte mich, daß Mama dieselben in einer hilflosen Ergebenheit über sich ergehen ließ, ohne sie zurückzuweisen, und sah sie groß und verständnislos an. Sie wich dann meinen Augen aus, und eine feine Röte stieg in ihr blasses Gesicht. Ach, wenn ich geahnt hätte, weshalb!

Sie war so gut gegen mich, zu gut und aufmerksam. Alle meine Lieblingswünsche erfüllte sie – man kennt ja die tausenderlei kleinen Launen, die ein leidender Mensch hat. Alles geschah für mich, alles, und ich fragte nicht: Mama, womit bestreitest Du eigentlich die vermehrten Ausgaben? Und als ich endlich einmal etwas Aehnliches sagte, da antwortete sie: „Du weißt doch, Onkel Herbert schickte Geld, und außerdem – denke, was wir ersparen an all Deinen teuren Unterrichtsstunden.“

Ich hatte sehr wenig finanziellen Ueberblick. Die Ersparnisse an dem höchst billigen Unterricht, von dem die teuersten, die Klavier-Stunden, zwei Mark kosteten – Englisch gab mir Mama – diese Ersparnisse beruhigten mich, so daß ich mit größtem Behagen alles genoß, was Mama mir bot.

Der Sanitätsrat kam jetzt täglich zu uns, ich begriff nicht, warum.

„Sie thun, Herr Doktor, als wäre ich schwer krank,“ bemerkte ich eines Tages ärgerlich. „Wir freuen uns ja sehr, wenn Sie kommen, aber Mama wird sich schließlich einbilden, ich sei am Sterben, und sich schrecklich ängstigen.“

„Gott bewahre, Fräulein Anneliese! Ich kann aber auch fortbleiben,“ antwortete er scheinbar gekränkt. „Ich komme übriges so wie so ins Haus, da drängt’s mich denn, nach Ihnen zu schauen.“

„So? Wer ist denn krank bei Wollmeyer?“

„I, der Herr Stadtrat höchstselbst, aber nichts von Bedeutung; ein bissel Rheuma, ein bissel Gicht – das ist alles!“ Damit ging er.

Es war ein regnerischer Junitag, an dem dies Gespräch stattfand, und wir mußten natürlich im Zimmer bleiben. Ich weiß nicht mehr, ob mich das Wetter so unruhig machte oder was eigentlich auf meine Stimmung drückte – ich fühlte, wie mir alle Nerven zitterten, und konnte nur mit Mühe meine Thränen zurückhalten. Im Nebenzimmer saß die Komtesse bei meiner Mutter; ihre laute Stimme klang wie eine Trompete bis zu mir herüber.

„Du wirst Dich krank sorgen, Len’, sei doch vernünftig!“ sagte sie. „Wie kannst Du Dir Vorwürfe darüber machen, daß Du noch einmal an Deinen Bruder geschrieben hast! Was hat er das übel zu nehmen! Kranksein ist ein kostspielig Ding, das wird er auch wissen, und – es kann ja alles wieder besser werden.“

Was meine Mutter antwortete, konnte ich nicht verstehen.

„Wie? Ja, das weiß Gott, Len’, Du fragst zu viel. Lasse den Kopf nicht sinken, hörst Du – der alte Gott lebt noch, er hat immer geholfen, er hilft auch diesmal.“

Da lachte Mama. Es war ein schneidendes höhnisches Lachen, wie mit Messerspitzen fuhr es mir in die wehe Brust.

„Ich will versuchen, es zu glauben, Komteß,“ sagte sie laut, „ich will hintreten und ihn bitten, mit gefalteten Händen will ich schreien Lieber Gott, hörst Du, ich hab’ ein krankes Kind, ein Kind, das alles ist, was Du mir gelassen hast, und dies Kind soll Luftveränderung haben zu seiner Rettung – gieb mir das Geld dazu, denn ich habe keins, nicht ein paar Dreier hab’ ich, und keine Seele, die mir helfen könnte! Hörst Du, gieb mir das Geld, oder thu’ ein Wunder!‘ – Vielleicht hilft’s, Komteß!“

Ich fühlte während dieses höhnischen verzweifelten Ausbruchs, wie mir eine Eiseskälte zum Herzen emporstieg, dann eine glühende Hitze – rote Lichter und Funken tanzten vor meinen Augen. Ich wollte aufstehen und rufen, aber ich war nicht Herr meiner schweren Glieder, meiner Stimme. Ich hörte nicht mehr, was scheltend die Komteß sprach, ich weiß auch nicht mehr, was ich dachte in jener fürchterlichen Stunde, die ich allein und halb ohnmächtig zubrachte, nur daß es entsetzlich war, weiß ich noch. Als meine Mutter endlich mit mühsam beherrschter Miene zu mir trat, fand sie mich fiebernd und verwirrt, unfähig, ihr Antwort zu geben auf irgend etwas, und schwerkrank.

Ich weiß nichts von der nächsten Zeit. Als ich wieder zur Besinnung kam, saß Mama an meinem Bette, ein müdes liebes Lächeln in dem abgezehrten Antlitz. Sie bog sich zu mir herunter und küßte mich.

„Ganz still, Anneliese, ganz still – Du darfst nicht viel sprechen.“

Ich sah mühsam umher, ich mußte mich erst auf alles besinnen. „Mama, wie lange war ich krank?“ Mit Entsetzen überkam mich plötzlich die Erinnerung an ihre bedrängte Lage. Ob sie wohl Hilfe gefunden hatte?

„Drei Wochen, Anneliese, aber frage nicht – werde nur wieder gesund!“

„Mama, wer half Dir denn?“

„Wieso?“

„O, Mama, wer gab Dir Geld?“

„Ich verstehe nicht, Kind, ängstige Dich nicht! Nimm an, Onkel Herbert schickte mir wieder; wir sind außer Sorge, Anneliese, ganz außer Sorge.“

Ich konnte nicht klar genug denken, um die Unwahrheit dieser Worte zu erkennen.

„Schlafe wieder ein, schlafe! Wenn Du wohl genug bist, reisen wir, Anneliese.“

„Wohin?“

„Irgendwohin, wo Du gesund werden sollst. Schlafe, Kind!“

Und ich schlief, ich schlief zuweilen tagelang, ich schlief mich zu Kräften und aß mich zu Kräften. Die Genesung kam mit Macht unter der treuen Pflege der Mutter. Sie war so durchsichtig bleich, sie ging so müde, und das eigentümliche wehe Lächeln wollte gar nicht mehr von ihrem Gesicht weichen. Sie sah aus wie eine Märtyrerin.

„Mama, hast Du Kummer?“

„Nein, mein Herz. Du wirst gesund – weiter braucht es nichts!“

„Du hast Dich bei meiner Pflege zu sehr angestrengt,“ klagte ich.

„Nein, Herz! Die Base, siehst Du, die Base hat Dich fast ganz allein gepflegt, Du mußt Dich sehr bei ihr bedanken – und auch bei Herrn Wollmeyer; sie habe beide viel gethan. Ja, ja, Anneliese, Du hast seine teuersten Weine getrunken, und schau’, die herrliche Blumen!“

„Ich werde mich bedanken, Mama, die Blumen soll er mir jedoch nicht mehr schicken, ich mag sie nicht riechen. Aber die Base soll mich besuchen.“ Und so beruhigte ich mich und merkte nicht, was Mama gethan, und ging unvorbereitet einer furchtbaren Entdeckung entgegen.


Es war an einem warmen Juliabend, kurz vor dem Tage, der für unsere Abreise nach St. Moritz bestimmt war, dessen Luft der Sanitätsrat mir verordnet hatte. Die Schneiderin hatte mich den ganzen Tag mit Anprobieren gepeinigt, Mama war darauf bedacht gewesen, für sich und mich eine einfache aber sehr nette Reisegarderobe anfertigen zu lassen, auch sonst waren alle Vorbereitungen getroffen worden, und was noch fehlte an jenen kleinen praktischen Dingen, die das Reisen so sehr erleichtern, sollte in Frankfurt am Main erstanden werden. In Westenberg hätte man vielleicht eine Botanisiertrommel zu kaufen bekommen, aber keine Umhängetasche, und eine solche gehörte notwendig dazu, das fand auch Mama. Und sie konnte ja kaufen, Onkel Herbert hatte ihr allem Anscheine nach reichlich Geld geschickt; er sollte, wie Mama mir erzählte, eine sehr vermögende Frau geheiratet haben.

[632] Trotz des ärztlichen Verbotes konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, an diesem letzten Abend noch gegen neun Uhr den Garten aufzusuchen; in den Stuben brütete eine so dumpfe schwere Luft. Mama war nicht daheim, sie war vor kurzem mit Hut und Umhang durch das Zimmer gegangen und hatte von einem Besuch bei Fräulein Melitta von Tollen gesprochen, der sie Lebewohl sagen wolle. Ich hatte ihr einen Gruß an das Puppenfräulein aufgetragen, und sie solle doch ja fragen, ob das Unerhörte wahr sei, daß Adalbert Becker sich um Lore von Tollen bewerbe. Nun suchte ich ebenfalls ein leichtes Tuch und schlich die Treppe hinunter.

Im Hausflur brannte die Lampe, die Base saß dort neben der Köchin und schnitt Bohnen zum Einlegen. Mit einem flüchtigen: „Guten Abend!“ ging ich vorüber und zur Thür hinaus. Die Uhr der Marienkirche drüben schlug Neun. Ein blasser Mondenschein, der nur mühsam durch Gewitterwolken drang, lag über dem stillen Hof; die Pforte der Gartenmauer stand weit geöffnet und in der Gärtnerwohnung brannte Licht. Die kleinen Kinder des Mannes hockten noch in Nachtjäckchen auf der Schwelle der Hausthür und riefen ihr „Guten Abend, gnä’ Fräulein!“ hinter mir her.

In dem großen parkähnlichen Garten atmete ich auf; von dem Weiher, der die Grenze nach den Wiesen zu bildete, kam eine feuchte dufterfüllte Luft herüber. In der Ferne, hinter dem Dorfe, wetterleuchtete es unaufhörlich. Langsam schritt ich dem am Wasser gelegenen Teil der Anlagen zu. Dort stand ein kleines Mooshüttchen, da wollte ich sitzen und träumen. Es war ja ein Sommerabend wie im Märchen, so schön, so stimmungsvoll weich, und ich war achtzehn Jahre alt, und wiederkehrende Gesundheit und lichte Hoffnungen klopften in meinem Herzen, die Erwartung von irgend etwas Wundervollem, Herrlichem, das Verlangen nach Glück.

Der Schatten der Bäume, unter denen das Hüttchen lag, war sehr tief; desto lichter hob sich die mattglänzende Wasserfläche ab, in der sich das Zucken der Blitze spiegelte. Fast lautlos war ich herangekommen, da stockte mein Fuß – aus der Mooshütte, an deren Seitenwand ich eben stand, im Begriff, im nächsten Augenblick den Eingang zu erreichen hörte ich die halblaute flötende Stimme des Herrn Wollweyer: „O, sei doch nicht so eilig, bleib’ doch noch, ich darf Dich ja wochenlang nicht sehen!“

Halb hatte ich mich schon gewandt, da blieb ich wie angewurzelt stehen, ein Schrei des Entsetzens wollte sich mir entringen und erstarb doch in der Kehle in einem krampfhaften Schluchzen. Meine Mutter, meine Mutter hatte geantwortet! Ich weiß noch jedes dieser Worte, die mich so unglücklich gemacht haben wie nichts mehr im Leben, denn sie vernichteten das Vertrauen, die Liebe, die anbetungsvolle Achtung eines Kindes für seine Mutter in einem einzigen Augenblick, wie ein gewaltiger roher Hammerschlag ein Götterbild zertrümmern mag.

„Wochenlang nicht, aber ich komme ja wieder und dann –“ hörte ich meine Mutter sagen.

„Dann?“ fragte er halberstickt.

„Dann löse ich mein Wort und werde die Ihre.“

„Helene!“ hörte ich ihn leidenschaftlich rufen, „Helene!“

Ich aber flüchtete über den nächsten Rasenplatz, und weit drüben kniete ich am Fuß einer großen Linde nieder, schlang die Arme um den alten Stamm, stieß den Kopf gegen die Rinde und wand mich wie in körperlichen Schmerzen. ,O, Papa! Papa!‘ Weiter konnte ich nichts sagen, aber ich wiederholte es mechanisch immerzu. „Wäre ich mit Dir gestorben, wäre ich bei Dir, Papa!“

Endlich raffte ich mich auf, zur rechten Zeit, um mich zu verbergen, denn sie schritten dicht an mir vorüber auf dem Kies, diese schlanke königliche Gestalt und neben ihr der verhaßte gewöhnliche Mensch, der entweihend den Arm um ihre Hüften gelegt hatte. Und dann blieben sie stehen, er brach eine Rose, die leuchtend weiß aus dem Dunkel schimmerte, und überreichte sie ihr mit einer süßlichen Redensart, die mir das Blut in die Wangen trieb – und sie nahm sie, meine Mutter nahm sie! Sie warf sie ihm nicht ins Gesicht, sie stieß ihn nicht zurück, sie dachte nicht an den Mann, dem sie einst gehörte, sie dachte nicht an ihr Kind!

„O, Papa, Papa!“

Mit einer Entschlossenheit, die schier über meine körperlichen Kräfte ging, folgte ich ihnen. Am Gartenthor trennten sie sich; er schritt zurück einen andern Weg. Mama ging ins Haus; fast unmittelbar hinter ihr trat ich in die Stube.

„Du bist noch aus?“ fragte sie und kam durch die Dunkelheit zu mir herüber, „willst Du Dich nicht legen, Herz?“ Und sie streckte die Hand aus, um mir kosend über die Wange zu streichen. Und da – da packte es mich wie Wahnsinn, ich schleuderte diese Hand zurück.

„Laß mich!“ schrie ich, „rühr’ mich nicht an!“

Einen Augenblick hörte ich nur das Keuchen meiner eigenen Brust.

„Anneliese?“ fragte sie leise und erschreckt.

„Laß mich fort von hier, ich will nicht bei Dir bleiben!“ Und unfähig, meine Erregung zu bemeistern, griff ich nach der weißen Rose, die sie in der Hand hielt, warf sie auf den Boden und trat mit den Füßen darauf.

„Ah!“ sagte sie leise, als gehe ihr ein Verständnis auf, und sie wandte sich rasch. An der Thür blieb sie stehen, aber sie redete kein Wort, als habe sie die Sprache verloren in der Scham vor ihrem Kinde. Dann ging die Thür und ich war allein. Ich hockte mich auf das Fensterbrett und nahm meinen Kopf in beide Hände. Ich kam zu keinem andern Ergebnis als zu dem: du hast keine Mutter mehr! Ich wollle fort von ihr, sie brauchte mich nicht, sie hatte ja den Bräutigam, bald einen Gatten, einen reichen Gatten, ich konnte mir allein meinen Weg suchen Ich fühlte Riesenkräfte in diesem Augenblick. Nur nicht hier bleiben, nur nicht mit ansehen müssen, wie das Geliebteste auf Erden, zu dem man aufgeschaut hat wie zu einem Heiligenbild, hinabsteigt in den gemeinen Staub des Lebens! Wenn ich nur hätte weinen können! Aber ich konnte nicht. Mein Kopf, mein noch immer so angegriffener Kopf – – lieber Gott, hilf mir, daß ich nicht wahnsinnig werde!

Stundenlang saß ich so, dann traf ein Lichtschimmer meine Augen.

„Du findest nicht den Weg zu mir, Anneliese?“ fragte Mama.

Ich rührte mich nicht.

„Du wirst Dich wieder krank machen,“ fuhr sie fort und setzte die Lampe auf den Tisch. Dann kam sie zu mir herüber und kniete neben mir nieder. „Anneliese, versprich mir, jetzt nicht darüber nachzudenken; wenn wir von der Reise zurückgekehrt sind, wollen wir alles bereden – nicht wie Mutter und Kind, nein wie zwei Freundinnen. Komm, sei gut, laß mich noch diese einzigen paar Tage genießen, wo ich – – noch frei bin.“ Sie hatte das letzte halb erstickt gesprochen.

„O, ich will nicht, daß Du das thust, ich will nicht reisen – ich – ich schreibe an Onkel Herbert, er soll kommen, er soll –“

Ein kurzes schrilles Auflachen von ihr unterbrach mich. „Onkel Herbert!“

„Er hat sich doch brüderlich gegen Dich benommen, er schickt Dir ja so oft Geld, wie Du selbst sagst!“

,Onkel Herbert! Ja, ja freilich!“

„O, ich wollt’, ich wäre tot! Ich wollt’, ich wäre bei meinem lieben Papa!“

Ihr schmales schönes Antlitz sah fast verzerrt aus in diesem Augenblick, aber sie schwieg und blickte starren Auges auf die Diele.

„Du darfst es nicht thun!“ schrie ich aufspringend, „Du kannst es nicht thun, Du kannst Papa nicht vergessen, sein Andenken nicht beschimpfen wollen, indem Du diesen – diesen – –“

„Schweig’!“ gebot sie, indem sie sich aufrichtete. „Ich kann nicht anders handeln – frage nicht mehr! Vergiß nicht, daß Du das Kind bist, dem es nicht ziemt, die Handlungen der Eltern zu beurteilen. Denke, daß ich diesen Schritt thun muß, daß ich ihn reiflich überlegt habe und daß er mir, Gott weiß, nicht leicht geworden ist. Denke nach und versuche, Dich darein zu finden – es ist unabänderlich!“

Sie hatte die Lampe wieder ergriffen und hielt mir die Hand hin. „Komm, laß uns schlafen gehen, Anneliese; wenn Du mich auch jetzt noch nicht begreifst, später, meine liebe –“

Das Kosewort erstarb ihr auf den Lippen, ich hatte mich hastig umgewandt, ohne die Hand zu ergreifen. Sie stand noch ein Weilchen; endlich ging sie.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 39, S. 649–654

[649] Es war eine schreckliche Nacht, die ich auf dem Sofa zubrachte unter Papas großer Photographie. In der ersten Morgenfrühe schon ging ich, ohne meine Mutter gesehen zu haben, zur Komtesse. Sie allein werde mir helfen können, meinte ich, denn sie hatte Papa auch geliebt. Daß ich im Begriff stand, eine grobe Indiskretion zu begehen, darüber dachte ich nicht nach; ich hatte nur das eine Gefühl brennender Scham für meine Mutter und das machte mir das Geständnis schwer, aber ich sagte mir, ich müsse sie retten.

Es war ein schwüler Morgen, wie er auf eine Nacht folgt, in der kein Tau gefallen, die Straßen noch erfüllt von der gestrigen [650] Glut der Sonne, schon belebt von Bauernfuhrwerken und Landweibern, die zum Markte gekommen waren. Vor dem spitzgiebligen hohen Rathause stauten sich hoch aufgetürmte Heuwagen, die einer nach dem andern auf die Stadtwage gefahren wurden, und längs des Bürgersteiges standen die Butterweiber, die Kiepen mit der appetitlichen Ware vor sich, eifrig schwatzend, hier und da auch schon Käufer bedienend. Dies alles erschwerte mein eiliges Gehen, und ich strebte doch so sehr vorwärts. Wie eine Irrsinnige mag ich ausgesehen haben, als ich mich durch die Menge schob, rasch atmend, ohne Hut, und nur ein Tuch flüchtig umgeschlagen; die Haare zerwühlt und verwirrt, die Augen heiß und verschwollen.

Die Fenster der Komtesse waren mit den Läden verschlossen; ich überlegte keine Sekunde, ob die alte Dame etwa noch schlafe, und riß die Klingel, als gelte es, Feuer anzumelden.

Im nächsten Augenblick wurde die Sicherheitskette drinnen ausgehakt, und die Komtesse rief: „Du infamer Schlingel, hab’ ich Dich endlich“ – – „Herr meines Lebens!“ schrie sie dann, und in der nächsten Sekunde hatte sie mich über die Schwelle gerissen und stand vor mir, im tiefsten Negligé – sie mochte just dem Bett entstiegen sein – in rosa geblümter Nachtjacke, grauem wollenen Unterrock, ungeheure Filzschuhe an den Füßen, mit eingewickelten Löckchen, die seltsam schaukelnd unter der gekrausten Nachthaube hervorbaumelten. Sie hielt das kupferne, wie Gold glänzende Kohlenbecken, auf dem sie ihren Kaffee warm zu halten pflegte, in der Hand und sah mir starr ins Gesicht.

„Herr meines Lebens, Anneliese, ist Deine Mutter krank?“

Ich konnte auf einmal nicht sprechen, die Kehle war mir wie zugeschnürt.

„Komm! Du schaust ja aus wie das Leiden Christi! Komm hinauf!“ Und sie zog mich die Treppe empor und schob mich vor sich her in ihr Zimmerchen, in dem die Jalousien vor dem geöffneten Fenster herabgelassen waren. Dort stellte sie das Kohlenbecken auf den Tisch und ergriff mich bei beiden Schultern.

„Was hat’s gegeben, Anneliese?“

„O Tante,“ stammelte ich, und die Zähne schlugen mir zusammen, „Tante – bitte – Tante hilf mir doch – – Mama –“

„Natürlich! Sie ist nun glücklich krank geworden! Hab’s ihr gleich gesagt, hat sich ja bei Deiner Pflege reinweg übernommen! Na, mach’ doch nur kein so gottsjämmerliches Gesicht, Deine Mutter stirbt nicht gleich – wart’ – ich ziehe mich an und komme mit. Habt Ihr den Doktor schon?“

„Sie ist nicht krank – sie ist – sie hat – –“

„Herrgott, so rede doch endlich!“ rief sie ärgerlich. „Was hat sie?“

„Sie will – ach Tante, es ist so fürchterlich – sie will – der Wollmeyer – er will Mama heiraten.“

„Der Wollmeyer wi – will – Deine Mutter?“

Ich hob die thränenden Augen und starrte in ein Antlitz, das vor Ueberraschung wie versteinert schien.

„Ja! Ach, Tante, hilf mir, leide es doch nicht, sag’ es ihr doch!“ Jetzt brachen die Thränen stromweise aus meinen Augen.

Die alte Dame aber war in einen Stuhl gesunken, und ich kniete vor ihr, das Schluchzen rüttelte mich wie der Sturm einen jungen Baum. Sie hatte die große schwere Hand auf meinen Kopf gelegt und sprach kein Wort, sie ließ mich erst ausweinen.

Nach einer langen Weile räusperte sie sich. „Hm!“

„Tante?“

„Hm!“

„Liebe beste Tante, leid’ es doch nicht!“ flehte ich aufs neue.

„Josephine!“ schrie die Komtesse, „bring’ den Kaffee! Du mußt ’was genießen, Kind, dann reden wir!“ Und als der Tisch gar zierlich mit dem einfachen weißen Kaffeegeschirr gedeckt war, strich sie mir eine Buttersemmel und trank, starr auf einen Punkt sehend, in kleinen Schlückchen ihre ungeheure Tasse leer, offenbar ganz mit ihren Gedanken beschäftigt. Es dünkte mich eine Ewigkeit. Dann langte sie nach dem kleinen Gebetbuch, schlug es auf, wo das Zeichen lag, rief ihren Kanarienvogel, der sich eben anschickte, seinen Tageslauf mit einem Triller zu beginnen, ein energisches „Pst!“ zu und las mit gefalteten Händen laut: „Und gedenkest alles des Weges, durch den dich der Herr, dein Gott, geleitet hat, auf daß er dich demütigte und versuchte, daß kund würde, was in deinem Herzen sei, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht – Amen!“ Und nun faltete sie die Hände über dem zusammengeklappten Buche und sagte: „Du bildest Dir das wahrscheinlich alles ein, Du kleines dummes Gör. Ich bin überzeugt, die Len’ – – ich werde nachher mit Dir gehen und – –“

Da wurde die Thüre aufgerissen und meine Mutter kam herein. Als sie mich sah, faßte sie nach der Lehne des Sofas, auf dem die Komtesse saß, ihre Gestalt wankte und ein eigentümlicher Laut kam aus ihrer Kehle. „Anneliese!“ murmelte sie, „Gott sei gelobt!“

„’n Morgen, Len’!“ rief die Komtesse, aber ihr Gesicht war so hochmütig und eiskalt, als ob sie einen mißliebigen Bittsteller vor sich hätte und nicht ihren vergötterten Liebling, der sich wie gebrochen in einen Stuhl fallen ließ und das schöne Gesicht senkte wie in schwerem Schuldbewußtsein.

„Du hast mir wohl etwas zu erzählen, Len’? Geh’ in die Küche, Anneliese, zur Josephine, denk’ nach über das, was ich eben gelesen hab’!“

Meine Mutter hob den Kopf nicht, als ich vorüberschritt, aber hinter mir her flog die Stimme der alten Dame wie das Signal eines zur Attacke blasenden Trompeters: „Len’, bist Du denn ganz von Gott verlassen? Einmal zu heiraten, das ist eine Dummheit, die ich einem Frauenzimmer vergeben kann, aber das zweite Mal – da hört doch – –“

Gottlob, die Komtesse würde es zu hindern wissen!

Fröstelnd und übermüdet saß ich neben Josephinens Kochherd, starrte gedankenlos die Menge der Teller und Gläser und Töpfe an, die auf Regalen standen, welche alle sauber mit weißen Papierspitzen ausgelegt waren, und zählte die alten Zinnteller mit dem gräflichen Wappen immer noch einmal – vierundzwanzig Stück und zwei große Schüsseln. .... Wie unendlich lange blieb sie! Endlich hörte ich Schritte die Treppe herunterkommen, durch den Flur eilen und das Haus verlassen. Mama ging – sie war böse auf die Komtesse, sie beharrte auf ihrem Willen, sie – mein Gott!

„Gnädiges Fräulein möchten zur Komtesse kommen,“ sagte Josephine. Ich stürzte aus der Küche und die Treppe empor. Die alte Dame war allein im Zimmer; sie stand an ihrem Blumentisch und pflückte ein paar welke Blättchen ab.

„Na, mein altes Gör?“ fragte sie weich, ohne sich zu wenden.

„Wo ist Mama?“

„Sie ist nach Hause gegangen.“

„Tante!“

Sie wandte sich noch immer nicht um. „Anneliese, Du wirst vernünftig sein, wirst Deiner Mutter einen Schritt, den sie mit reiflicher Ueberlegung thut, der ohnehin sehr schwer ist, nicht noch schwerer machen.“

„Tante – Du – auch Du?“

„Ich sehe ein, sie hat recht von ihrem Standpunkt aus; Du kannst das nicht verstehen. Es ist sehr schwer, schutzlos zu sein im Leben – für eine Frau in der Lage Deiner Mutter. Sie – na, das, wie gesagt, Anneliese, das verstehst Du nicht.“

Also, das war das Ergebnis der Unterredung – die Komtesse völlig auf seiten Mamas! Ich stand wie gelähmt.

„Na, Anneliese?“

Sie drehte sich endlich um, da sah ich, daß die kleinen grauen Augen rot umrändert waren. Die Komtesse, die Harte, die allezeit Gelassene, hatte geweint!

„Deine Mutter,“ fuhr sie fort, „wird die Verlobung so bald als möglich veröffentlichen, sie will Rücksprache mit Herrn Wollmeyer nehmen und wird, da sie nicht wohl in dem Hause ihres künftigen Mannes wohnen kann, mein Gast sein bis zu ihrer Hochzeit. Du – natürlich ebenfalls, wenn Du nicht vorziehst, eine kleine Reise zu machen. Ich – ich habe Verwandte in Hamburg, die sich freuen würben, Dich anzunehmen bis – die Hochzeit vorüber. Falls Du – –“

„Bitte – ja, ich werde diesen fremden Leuten dankbar sein, Tante.“

„Dann freilich kehrst Du in das Haus Deiner Eltern zurück.“

„Ich werde nie mehr Eltern, sondern immer nur eine Mutter haben, Tante. Ich hatte einen Vater, Du kanntest ihn und wirst begreifen, daß er durch solchen Mann nie ersetzt werden kann, wenn überhaupt vom Ersatz eines Vaters die Rede sein darf, und ich werde nicht in das Haus meiner Mutter zurückkehren, sondern versuchen, auf eigenen Füßen durch das Leben zu gehen.“

„Aber das wird sich ja alles finden, Anneliese,“ antwortete sie, und ihre Stimme hatte gar nicht den energischen Klang wie sonst. „Also vorläufig gehst Du nach Hamburg? Wie die Sachen [651] liegen, mache ich keinerlei Versuch, Dich hier zu behalten, denn es würde keine Wohlthat sein für Deine Mutter, Dein trotziges Gesicht immer vor Augen zu haben. Jetzt aber mußt Du ihr folgen, Ihr beide habt Eure Sachen einzupacken und so Verschiedenes noch zu ordnen, auch“ – und sie wandte sich voll zu mir um „auch möchte ich Dir zu bedenken geben, daß Du Rücksichten zu nehmen hast auf Deine Mutter. Es giebt Lebenslagen, in denen man vor Schmerz und Herzeleid schreien möchte, Anneliese, und doch den Mund zum Lächeln zwingen muß, wo man um keinen Preis der Welt, den Menschen, und wären es die Nächsten, das zuckende Herz verraten darf – beiß also die Zähne zusammen, Anneliese, und lächle, wenn sie Dir Glück wünschen zu Deinem Stiefvater – um Deiner Mutter willen lächle, wenn’s auch schwer ist!“

Sie hatte mich an sich gezogen und streichelte mich, dann gab sie mir einen scherzhaften Schlag auf die Wange, räusperte sich, als habe sie etwas Unangenehmes mühsam hinuntergeschluckt, und sagte, wieder in ihren Ton gutmütiger Polterei zurückfallend: „Na, und schließlich ist es nicht zum Verzagen, dummes Gör! Die englischen Prinzessinnen haben auch unter ihrem Stande geheiratet und blieben doch, was sie waren; also brav, meine liebe Anneliese, brav sein!“

„Du denkst, ich bin unglücklich, weil er Wollmeyer heißt?“ fragte ich achselzuckend, „das wäre mir zuletzt eingefallen. Wahrhaftig, er könnte heißen wie Du, dieser Herr Stadtrat, könnte die neunzackige Krone führen wie Du, er wäre mir genau so verhaßt wie mit seinem bürgerlichen Namen. Aber habe keine Furcht, Tante, ich werde Mama nicht bloßstellen, verlaß Dich darauf, ich beiße die Zähne zusammen. Leb’ wohl, habe Dank!“


Ich ging und bereits einige Stunden später hatte ich eingesehen, daß ich meine Mutter nicht verlassen durfte. Schon als ich den Hof betrat, merkte ich an dem ungewöhnlichen Treiben, daß Mama die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Verlobung erteilt hatte, daß das große Ereignis den Hausleuten bekannt geworden war, und auch, daß Herr Wollmeyer die Verlobung auf die feinste und meiner armen Mutter sicher am wenigsten genehme Art in Scene zu setzen gedachte: keine gedruckten Anzeigen, sondern große Einladung, Knalleffekt, Kanonenschlag!

Die Hauspforte stand weit geöffnet und der Gärtner stürzte mit einem Arm voll grünen Gezweigs herein; im Flur schossen die Mägde wie Schwalben vor einem Gewitter durcheinander, die eine mit Flaschenkorb und großem Schlüsselbund in den Keller, die andere stand auf einer Leiter am Wandschrank und reichte Porzellan herunter; der Kutscher kam aus der Thür des Speisesaals, und die Stimme des Hausherrn rief ihm nach: „Um acht Uhr, Friedrich, zu einem ganz einfachen Abendessen – und mach’ Deine Sache gut!“ Friedrich nickte verschmitzt lächelnd dem Mädchen zu und ging.

Das war so die richtige Art des Herrn Stadtrats, er lud die Menschen ein, um sie zu überraschen mit seiner Verlobung. Geradezu brutal! dachte ich empört. Die Base Himmel kam mir auf der Treppe entgegen mit Tischwäsche; zum erstemal sah ich dieses sonst so unbewegliche Gesicht verändert, eine große mühsam verhaltene Aufregung zuckte darin. Als sie mich erblickte, übergoß eine jähe Röte ihre Züge. „Anneliese!“ murmelte sie.

Wir sahen uns schweigend in die Augen, und wir verstanden uns. „Wer hätt’s gedacht,“ sagte sie leise, und eilig schritt sie vorüber, denn die befehlshaberische Stimme meines zukünftigen Stiefvaters scholl durch das Haus: „Die andere Marke Sekt! Den echten – Kreuzdonnerwetter, ich werde doch heute nicht mit deutschem Schaumwein anstoßen sollen?“

Das gescholtene Mädchen flog in den Keller zurück, und ich ging nach oben. Da stand ich erst eine ganze Weile im Vorzimmer und wußte nicht, wie ich mich Mama gegenüber verhalten sollte. Endlich beschloß ich, die ganze Sache zu übersehen und die Gleichgültige zu spielen. Absichtlich betrat ich zuerst das Schlafzimmer, um meine Sachen abzulegen und mein Haar etwas zu ordnen, hauptsächlich aber, um einer Begegnung so lange als möglich auszuweichen. Da lag Mama auf ihrem Bette, die Hände an die Schläfen gepreßt, mit bläulichen Lippen und eingesunkenen Augen.

„Mama! Ach Mama!“ rief ich; und im nächsten Augenblick lag ich neben ihr auf den Knien, und mein Gesicht an das ihrige schmiegend, begann ich aufs neue zu schluchzen. Da hob sie matt die Hand und streichelte meine nassen Wangen.

„Mein Kind! Mein einziges Glück!“

„O Mama, Mama, was hast Du gethan!“ rief ich, „wir waren so glücklich zusammen!“

Sie machte eine abwehrende Handbewegung. „Hol’ mir die Tropfen, und dann – Anneliese, wenn er kommt, ich kann ihn heute früh nicht empfangen – ich – mein Kopf – – heute abend, wir werden pünktlich drunten sein, nicht wahr, Anneliese?“

In diesem Augenblick klopfte es an die Thür des Salons. Sie winkte ungeduldig, ich solle gehen, und ich ging, ihn zu empfangen.

Sein strahlendes süßes Lächeln wich bei meinem Anblick sofort und machte einer würdevollen wohlwollenden Miene Platz. „Mein liebes Kind, meine gute Anneliese,“ begann er, mir beide Hände entgegenstreckend, „es wird Ihnen nicht verborgen geblieben sein, wie teuer Sie mir und meiner lieben verstorbenen Frau immer waren; seien Sie versichert, daß ich glücklich bin, Ihnen fortan väterlich zur Seite stehen zu dürfen, seien Sie überzeugt, daß Ihr leiblicher Vater Sie nicht treuer und – und aufrichtiger –“

Er stotterte und brach ab, seine leer gebliebenen Hände legten sich auf den Rücken, er wurde sehr rot und sehr verwirrt. Was er weiter that, konnte ich nicht sehen, denn ich hatte ihm den Rücken gewandt.

„Mama ist nicht wohl, bedauert, Sie nicht empfangen zu können, Herr Stadtrat. Heute abend will sie, glaube ich, hinunterkommen.“ Damit schritt ich, echt kindisch, zum Bilde Papas hinüber, stellte mich davor und sah es an; ich wollte auf diese Weise zeigen, daß mir des Herrn Wollmeyer väterliche Gefühle und Absichten im höchsten Grade gleichgültig, ja noch mehr, unangenehm seien. Ich hörte, wie er rasch Atem holte. Er war offenbar tief beleidigt.

„Es ist nicht freundlich von Ihnen, Anneliese, mich so zu empfangen und eines Tages wird es Ihnen leid thun.“

Ich wandte den Kopf über die Schalter. „Nie, mein Herr!“

„Sie sind ein kleiner Trotzkopf,“ antwortete er mit unverkennbarer Anstrengung, so zu scheinen, als nehme er mich nicht recht ernst. „Nun, ich lasse Hel – – Ihrer Mama gute Besserung wünschen und sie bitten, heute abend schön auszusehen, sehr schön, Anneliese!“ Und er lachte sein nichtssagendes Lachen. „S’ wird eine kolossale Ueberraschung, Anneliese, ganz kolossal! Auf Wiedersehen!“

Ach, dieser Abend! Natürlich war das Gerücht dieser Angelegenheit schon ins Publikum gedrungen, keiner war verhindert zu kommen. Mama hatte sich aufgerafft und sah wunderschön aus, wie sie jetzt vor dem Spiegel in ihrer Schlafstube stand. Sie trug, wie immer, Schwarz, aber sie hatte eine purpurrote Rose im braunen Haar und einen Strauß der nämlichen Blumen im Gürtel. Ja, sie sah wunderschön aus und doch zum Verzagen elend und blaß. Schon eine Viertelstunde weilte sie da und starrte in das Glas, indes ich sie vom Wohnzimmer aus beobachtete, das schon in tiefer Dämmerung lag, während um Mamas Gestalt das rote Licht der untergehenden Sonne spielte. Von drunten scholl beständig das schrille Kling-Kling der Hausglocke, die Gäste des Herrn Stadtrats kamen heute ausnahmslos pünktlich.

Und endlich mußten auch wir gehen. Die Komtesse, die die Stelle der dame d’honneur übernommen hatte, kam herauf, uns abzuholen. Sie zog mich an das nächste Fester und besah mich vom Kopf bis zu Fuß.

„Na, das lob’ ich mir, daß Du Toilette gemacht hast, Kücken! Hättest aber immerhin noch eine rote Schleife auf das weiße Kleid stecken können. Und das Gesicht?“ Sie hob warnend den Finger. „Uebrigens hätte der gute Mann sich den Zauber heute schenken können, Lene, Du mußtest ihn zurückhalten.“

„Ich?“ fragte Mama mit sonderbarer Betonung und nahm den Arm der Komtesse, da sie schwankte wie eine, die nach langer Krankheit das Gehen wieder lernen muß. So schritten sie die Treppe hinunter. Ich folgte ihnen mit einem Gefühl, als ginge es zu Mamas Begräbnis.

In Hannchens guter Stube faud der Empfang statt. Sie waren alle da, unsere Bekannten, und über der ganzen Versammlung lag der Bann gespannter Erwartung. Sie gaben sich nicht harmlos wie sonst, vielleicht störte auch die Unruhe des Herrn Stadtrats, der wie ein betriebsamer Gastwirt Verbeugung über Verbeugung machte, seine Gäste zum Thee nötigte, die Herren animierte, einen kleinen „Schuß“ Rum hineinzuthun, „echten Jamaika, direkt [652] importiert, ein feudaler Tropfen.“ Oder machte es das entsetzlich gemalte Bild der verstorbenen Frau Stadträtin, die in Brautkleid und Myrtenkranz aus dem Rahmen schaute mit so erstaunten Augen und so blödem Lächeln, als wollte sie sagen: was soll denn das noch werden heute?

Die jungen Mädchen hatten sich in einer Nebenstube zusammengefunden. Die kleinste Tollen, der Backfisch, maß mich mit einem mitleidig hochmütigen Lächeln, die Lore saß wie ein Steinbild und starrte meine Mutter an. Der Sanitätsrat kam und klopfte mich auf die Schulter: „Wie steht’s? Sitzen wir stramm im Sattel? Halten wir unsere Zügel auch fest, damit die Schecke nicht durchgeht? Der Kopf da, dieser wilde kleine Kopf, der wird Ihnen noch zu schaffen machen, Kind! Na, nichts für ungut, Anneliese, wir sind ja alte Freunde.“

„Ich werde schon fertig mit meinem Kopf,“ entgegnete ich.

„Lieber Himmel! Wann wird denn eigentlich die Bombe platzen?“ fragte ein ältliches junges Madchen. „Vielleicht ist gar nichts daran!“ Und sie sah blaß aus wie der Tod; sie hielt die Hoffnung fest bis auf den letzten Augenblick. Sie hätte so gern dem Stadtrat das unvergeßliche Hannchen ersetzt und bot in dieser Minute den Anblick eines peinvoll gemarterten Menschenkindes.

Und endlich platzte sie, die Bombe. Beim Braten eröffnete der Hausherr, das Champagnerglas in der Hand, seinen lieben geehrten Gästen, daß das Glück eingekehrt sei in sein ödes Haus, schöner als er es je zu hoffen gewagt; ein edles Frauenherz habe sich ihm zugeneigt in aufrichtiger herzlicher Liebe. „Und so bitte ich Sie, meine Herrschaften, Ihre Gläser zu erheben und mit mir anzustoßen auf das Wohl meiner geliebten Verlobten, auf das Wohl der Frau Helene von Sternberg, geborene von Plettenhausen.“

Einen Augenblick blieb es so still, daß man das Wehen des Fächers vernahm, den die kleine Tollen, der Backfisch, schwang. Dann ertönte die Stimme der Komtesse, und ihr Stuhl fuhr mit energischem Ruck zurück: „Dein Wohl, liebe Helene, und tausendfaches Glück!“ Und „Hoch! Hoch! Hoch!“ riefen nun die anderen. Dann die üblichen Ausrufe des Erstaunens. Diese Glückwünsche, diese Küsse für meine Mutter, die bald blaß, bald rot wurde! Eine Völkerwanderung um die Tafel entstand, und ich gedachte, sie zu benutzen, um davonzulaufen, da erwischte mich die Komtesse und hielt mich am Kleide zurück.

Der Stadtrat kam jetzt, mit seinem Glas in der Hand, zu mir herüber, aber plötzlich schwenkte er ab, mein verzweifeltes Gesicht mochte ihm nichts Gutes weissagen, und wandte sich verlegen an Käthe Tollen, die während der ganzen Geschichte ruhig an ihrem Platz verblieben war. „Stoßen Sie denn nicht mit mir an?“ fragte er liebenswürdig. Aber leider machte er seine Verbeugung vor dem leeren Stuhl, denn das Kind stand plötzlich neben mir und streichelte mir die Wangen.

„Du dauerst mich, Anneliese, Du dauerst mich; ich an Deiner Stelle liefe davon!“

Ach, in mir sank der Mut zum Davonlaufen immer mehr; ich sah Mamas Augen so beständig nach mir suchen, sah sie mit einem so flehenden verzagten Ausdruck auf mich gerichtet, als saugte sie aus meinem Anblick allein die Kraft, sich aufrecht zu halten. Ich mußte sie immerzu ansehen, und unwillkürlich trat ich zu ihr und preßte ihren zitternden Arm, sie zu trösten.

Eben kam der selige Bräutigam wieder herüber zu ihr; der Champagner saß ihm im Kopf und der Stolz auf sein Glück dazu. Er nannte die Komtesse, die nicht von Mamas Seite wich, „Schwiegermamachen“, er nannte Mama „Schatz“ und schrie es über die ganze Tafel. Ich krampfte die Hände in mein Kleid; die Komtesse warf ihm einen Blick zu, der jeden andern erfrieren gemacht hätte. „Attention, mein Herr!“ sagte sie.

„Geh’ hinauf, Anneliese, Du bist noch zu angegriffen für solchen Trubel,“ flüsterte mir Mama zu, und ich ging; ich hätte sie nicht mehr ansehen können, es machte mich elend in tiefster Seele. Ach, und allein droben war es noch schlimmer! Ich lief umher mit gerungenen Händen, die Stuben wollten über mir zusammenstürzen. Und ich ging wieder hinunter und trat in die Küche und fragte nach der Base. Sie sei in ihrem Zimmer, antwortete mir das Mädchen.

Die Stube lag nicht weit von der Küche, nach der Gartenseite hinaus; sie hatte ein einziges Fenster und einen mit buntgeblümtem Kattun verhangenen Alkoven in dem das Bett der Base stand. Auf dem Tisch brannte eine Lampe; die alte Frau saß neben dem Ofen, die Hände in der weißen Schürze, und starrte ins Leere hinein. „Sie sind’s, Fräulein Anneliese?“ sagte sie, flüchtig aufsehend. „Ich ruh’ ein bißchen aus, bin selten so abgehetzt worden wie heute.“

„Darf ich denn ein wenig bei Ihnen bleiben, Base?“

„In Gottes Namen!“ antwortete sie und starrte von neuem vor sich hin.

Noch ehe ich einen Platz gesucht, ward die Thür aufgerissen, und eine Person stürmte herein, die ich ab und an schon im Hause gesehen hatte. Eine entfernte Verwandte von Herrn Wollmeyer sollte sie sein, eine Witwe in den dreißiger Jahren, der der Stadtrat in seinem allbekannten Edelmut eine Existenz verschafft hatte, indem er ihr einen kleinen Laden in der Hauptstraße einrichtete, wo sie mit Bändern und Knöpfen, Strickgarn und ähnlichem handelte und sich und ihr kleines Kind ernährte. Sie war eine hübsche rotwangige, ober gewöhnlich aussehende Frau, die Knopfmarthe, wie sie im Städtchen hieß. Heute schien sie ganz verwandelt, die Röte des Gesichtes war bedenklich gesteigert, die kleinen schwarzen Augen funkelten, als sei sie von Sinnen, das Schultertuch war ihr herabgeglitten und eine halbgelöste Flechte hing ihr über den Nacken.

„Bei Euch geht’s ja lustig zu!“ schrie sie und ihre bebenden Hände rissen das Tuch herab. „Das sind ja hübsche Geschichten, Base, in denen Sie Ihre Kuppelhände stecken haben –“

„Jesus, Marthe, sind Sie bei Trost!“ rief die alte Frau emporschnellend und wies auf mich. „Sehen Sie sich doch erst um, ehe Sie drauf losschimpfen! Was wollen Sie denn?“

„Nun, gratulieren will ich, zur Verlobung gratulieren!“ schrie die fassungslose Frau, „was soll ich denn weiter wollen? Das ist ja wohl das gnädige Fräulein Stieftochter?“ wandte sie sich an mich. „Gratuliere Ihnen auch, kriegen ja einen vortrefflichen Papa, einen ganz vortrefflichen und ’nen gescheiten dazu, einen sehr gescheiten. Ja, der versteht’s, zu – werben,“ und sie trat näher zu mir und hielt ihre große zitternde Hand vor sich hin und schlug mit der andern hinein. „Da fragen Sie nur Ihre Mutter, Fräuleinchen, wie er’s gemacht hat, daß sie Ja sagte, und wenn sie’s Ihnen nicht erzählen will, können Sie’s von mir erfahren. Leer ist ihre Hand gewesen, wie meine es war, und hungern thut weh, wissen Sie. Gott erspar’s Ihnen Ihr Leben lang, daß Sie jemand darben sehen, den Sie lieben. Und in solchen Augenblicken steht er da und legt Geld in die arme leere Hand und spricht von Menschen- und Christenpflicht und Hilfe um Gotteswillen. Ach, und das thut so wohl in der Erst, und dann – giebt er noch mehr, er giebt viel mehr, als man braucht, und er will nichts dafür, er will ja nur helfen, das ist seine Belohnung, sagt er. Ja, wer so dumm ist und glaubt’s – – Und wenn Sie mir das Kleid vom Leibe reißen, Base, ich red’ doch!“ schrie sie und stieß die alte verzweifelnde Frau zurück, daß sie fast taumelte. „Ja, reden thu’ ich! O, der Herr Stadtrat versteht’s, seine Schulden einzukassieren, ich hab’ auch bezahlt, bei Heller und Pfennig hab’ ich bezahlt, mit meinem Gewissen hab’ ich bezahlt, mit meiner Ehre hab’ ich bezahlt! Ihre Mutter zahlt auch, aber er macht’s besser mit ihr, er macht sie zu seiner Frau – ja – ja – –, mit solch armem Weib wie ich werden solche Umstände nicht gemacht. Aber ich neid’s ihr nicht, sagen Sie’s ihr, ich neid’s ihr nicht, denn ich bin frei und ich kann den Schurken von der Schwelle weisen, wenn er es wagt, zu kommen; aber sie, sie wird an ihn gekettet sein, sie wird dulden müssen, wie die geduldet hat, die draußen auf dem Kirchhof liegt, wie alle, die in seine Nähe kommen, wie die da!“ schrie sie und zeigte nach der Wand, an der einige Photographien hingen, „die darüber gestorben und verdorben und ins Elend gegangen sind! Drum sagen Sie es Ihrer Mutter, sagen Sie es ihr noch zur rechten Zeit, sie soll gehen, soweit sie ihre Füße tragen eh’ sie – –“

Die Stimme versagte der halb wahnsinnigen Frau, sie schlug plötzlich die Hände vor das Gesicht, in ein bitterliches Weinen ausbrechend. Im nächsten Augenblick hatte sie ihr Tuch aufgerafft, und noch immer schluchzend lief sie hinaus.

Die Base saß auf dem Bettrand wie ein Steinbild und wagte nicht, mich anzusehen. Ich stützte mich gegen die Wand, denn vor meinen Augen drehte sich alles im Kreise. Schweigen herrschte – eine Ewigkeit, dünkte mich. Endlich murmelte die alte Frau: „Sie ist ein wütendes Ding, die Marthe, sie hat“ – sie räusperte sich – „ich glaube gar, sie hat gemeint, er soll sie heiraten. O, über das leichtsinnige Weibervolk!“

[654] „Wenn er’s doch gethan hätte!“ dachte ich. „Ach meine arme Mutter!“

Und wieder Schweigen. Die Base war in sich zusammengesunken als läge eine Bergeslast auf ihrem alten Rücken; ihr Gesicht hatte einen unheimlich starren Ausdruck. Ich ging, von innerer Unruhe getrieben, im Stübchen umher, kaum wissend, was ich that, was ich sah. Vor der Kommode blieb ich stehen und heftete meine Augen auf die Bilder darüber, nach denen die Frau eben gezeigt hatte. Es waren einige verblichene, mit schlechten Apparaten gemachte Photographien, ein junges Ehepaar, das nebeneinander saß, die Hände verschlungen; dann das Bildchen eines kleinen Knaben, und unter diesem das Porträt eines jungen Menschen, vielleicht von sechzehn Jahren. Rein mechanisch nahm ich dieses Bild herunter und betrachtete es.

„Wer ist das?“ fragte ich über die Schulter zurück, nur um die Stimme der Base zu hören, denn mir graute fast, so unbeweglich verharrte sie.

„Das ist – das ist Robert Nordmann,“ scholl es leise herüber, und sie räusperte sich, als stecke etwas in ihrer Kehle.

Der Name tönte mir wie lange vertraut ins Herz, und lieb und vertraut sah mich das kluge fein geschnittene Gesicht an, lieb und vertraut, als hätte ich es von jeher gekannt. O, ganz gewiß, es giebt Ahnungen, es giebt ein geheimnisvolles Band, das oft die Seelen schon verbunden hat, lange bevor man die Menschen, mit denen es uns verknüpft, von Angesicht zu Angesicht geschaut, den Ton ihrer Stimme gehört hat.

„Wer ist er? Wo ist dieser Robert Nordmann?“ fragte ich fast heftig.

„Der Schwestersohn von Hannchen ist er,“ antwortete die alte Frau, und es klang, als schluckte sie Thränen. „Wo er ist? Gott mag es wissen – irgendwo in der Welt, seitdem – –“

Sie schwieg.

„Seitdem, Base?“

„Seitdem er die Heimat verlassen mußte.“

„Und wann war das?“

„Vor zehn Jahren. Aber fragen Sie nicht, Kind, es thut nicht gut, heut’ abend erst gar nicht – ich könnte mehr sagen, als ich darf.“

Armer Robert Nordmann! Ich hielt das kleine Bild liebkosend an meine pochende Schläfe. Armer Robert Nordmann – arme Anneliese von Sternberg! Es kam mir vor, als seien wir Unglücksgefährten. Ich hing die Photographie zurück an ihren Platz, ließ die Hände sinken und wußte nicht, was beginnen mit meinem wunden angstvollen Herzen.

„Anneliese, Fräulein Anneliese,“ begann auf einmal die alte Frau, während sie auf ihren weichen Filzschuhen unhörbaren Schrittes zu mir herüberkam und ihre müden hellblauen Greisenaugen in den meinen forschten, „ist’s wahr, Kind, was der – was Wollmeyer sagt – Sie wollen fort, Sie wollen die Mutter verlassen?“

Ich nickte.

„Thun Sie’s nicht!“ flüsterte sie, als stände jemand unsichtbar hinter mir, der es hören könnte. „Thun Sie’s nicht, sie wird Sie brauchen, sie würde es nicht überleben, Kind, wenn Sie gehen, denn, sehen Sie – sie thut ja alles nur, weil sie Sie behalten will. Verstehen Sie nicht? Sie sind so ein kluges Mädchen, Annelieseken – versprechen Sie’s mir, gehen Sie nicht fort! Und erzählen Sie ihr auch nichts von der Marthe – ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen?“

Ach, ich verstand sie, ja ich verstand alles. Meine Mutter hatte sich verkauft, und ich wußte, daß sie es nur gethan, weil kein anderer Ausweg war. Und an wen verkauft! Wie gefoltert lief ich fort, in unser gemeinschaftliches Schlafzimmer hinauf. Dort lag ich schlaflos und zitternd und lauschte dem Gesellschaftstrubel unten. Erst als der blasse Morgenschein dämmerte, gingen die Gäste, und Mama schwankte zur Thür herein, fahl und blaß. Sie glaubte mich schlafend, trat vor mein Bett mit gefalteten Händen und sah mich an.

Da richtete ich mich auf und streckte die Arme nach ihr aus. „Mama, meine Mama!“ Und als sie sich niederwarf vor meinem Bett und mich umschlang, als wollte sie mich ersticken, da sagte ich an ihrem Ohr: „Ich bleibe bei Dir, ich will bei Dir bleiben!“

Sie antwortete nicht, sie umfaßte mich nur fester und ich fühlte, wie sie bebte, wie schwer ihr Atem ging.

Lange hielten wir uns so umschlungen, und ich gelobte still, alles, was kommen möge, gemeinschaftlich mit ihr zu tragen, und redete ihr Trost ein gegen meine Ueberzeugung.

Als die ersten Sonnenstrahlen durch die Vorhänge lugten, da schlummerte sie süß und fest, seit langer Zeit zum erstenmal wieder, und ich dachte an das arme Weib in dem kleinen Laden, das er betrogen, und dachte an Robert Nordmann und bat Gott um ein Wunder, das uns retten solle vor jenem Mann; nur Gott allein könne es, meinte ich. Aber er that kein Wunder, und Mama ward drei Wochen später Herrn Wollmeyers Frau – meine arme geliebte stolze Mutter seine Frau!

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 40, S. 669–675

[669] Aus dem Hause der Tante Komtesse holte Wollmeyer meine Mutter ab zur Trauung. Unmittelbar nach der Hochzeit wollte das neu vermählte Paar abreisen; ich sollte einige Wochen später nachkommen, um mit Mama nach dem Süden zu gehen. So wurde es mir nicht geschenkt, bei dem Hochzeitsfest zugegen zu sein, so wenig wie Mamas flehentliche Bitte um eine ganz stille Hochzeit Berücksichtigung fand.

Diese paar Wochen in dem kleinen Häuschen der Komtesse waren uns zur Qual geworden durch die Besuche des Bräutigams. Er kam mittags, er kam abends; er schickte sogar eines Tages Körbe voll Delikatessen und Weine und meldete sich zum Essen an. Verlegen stand meine Mutter dabei, als die Tante dem Diener ohne weiteres die Körbe wieder an den Arm hing. „Eine Empfehlung von der Gräfin, und wenn der Herr Stadrat bei ihr speisen wolle, werde sie sich freuen, aber dann möge er die Güte haben, mit ihrer einfachen Küche vorlieb zu nehmen. Die Gräfin habe nicht die Gewohnheit, sich in ihrem eigenen Hause traktieren zu lassen“

Grinsend ging der Diener ab. Die Komtesse aber wandte sich grollend um. „Der ist ja schwerer zu dressieren als ein junger Jagdhund!“ hörte ich sie murmeln. „Na wenn’s Herz nur gut ist,“ meinte sie dann und kniff mich in die Wangen, „nicht wahr, das ist die Hauptsache, Du Kücken?“

Ja freilich, aber – war das seine denn gut?

Alle Tage hörten wir von ihm großartige Beschreibungen über die neue Einrichtung des Schlosses. „Alles in Blau, Helene, weil es Deine Lieblingsfarbe ist.“ Er verschwendete förmlich, um seiner schönen Frau ein elegantes Heim zu bieten, das Mama gar nicht ersehnte.

Und der schreckliche Tag kam und ging vorüber mit seinem taktlosen Prunk, mit den tausendfachen Martern, die er über uns verhängte. Mit Verleugnung ihrer selbst spielte die Komtesse die Hochzeitsmutter; wie im Traum stand ich hinter Mama am Altar der Marienkirche und hörte die Worte des Geistlichen, der über den Text sprach: „Es sollen wohl Berge weichen und Hügel hinfallen, aber meine Gnade soll nicht von dir weichen.“ Mama [670] hatte ihn ausgewählt. Wie aus weiter Ferne hörte ich bei Tafel die Trinksprüche und das Hochrufen, und wie ein Stich ging es mir durchs Herz, als der alte bekannte Lohndiener, der bei keiner Westenberger Festlichkeit fehlte, mir mit seiner weinheiseren Stimme ins Ohr flüsterte: „Frau Wollmeyer läßt das gnädige Fräulein bitten – –“ Um was, verstand ich nicht. Frau Wollmeyer! Das Wort hatte mir fast körperlich weh gethan. Ich kenne keine Frau Wollmeyer! hätte ich am liebsten geschrien. Ach Papa! Papa! Und ein Schluchzen hob meine Brust, das ich kaum zu unterdrücken vermochte. Ich hätte auch Mama nicht Lebewohl sagen können. Ich stahl mich nach Beendigung des Mahles aus dem Saal, obgleich mich mein Nachbar, der Herr von Brankwitz, flehentlich um den ersten Walzer bat.

Es war mir schon von vornherein ärgerlich gewesen, daß er mein Kavalier sein sollte auf dieser Hochzeit, aber die Komtesse hatte erklärt, es sei das einzig Richtige, daß die Tochter der Braut und der Neffe des Bräutigams zusammen hinter dem Brautpaar gehen, und ich schwieg. Er hatte mich in einem Wagen zur Kirche abgeholt, in tadellosem Frack und weißer Weste, hatte mir einen wundervollen Strauß überreicht aus Marschall Niel-Rosen, die zu meinem Kleide von blaßgelber weicher Seide paßten, als wären sie eigens nach der Stoffprobe gewachsen, und er lobte diese seine Gabe so sehr, wie wenn er selber der Schöpfer der wunderbaren Blüten gewesen wäre.

Als ich den Saal verlassen wollte, kam er hinter mir her mit seinem faden Lächeln und seinen dreisten Blicken. Ich verstand gar nicht, was er sagte, und warf ihm die Thür der Damengarderobe vor der Nase zu, suchte eiligst nach einem Umhang, nahm ein Spizentuch um, das der Komtesse gehörte, und lief über den Hof des Gasthauses in den dazu gehörigen Garten. Von ihm führte eine Thür in der alten Stadtmauer unmittelbar auf die bescheidene Promenade, und an diese grenzte der Kirchhof; von dem Kirchhofe aber konnte ich durch ein Privatpförtchen in den Garten der Komtesse gelangen.

Die Dämmerung des Septembertages war schon herabgesunken; kein Mensch außer des alten tauben Totengräbers Frau sah mich, wie ich hastig dahinschritt zu Papas Grab. Und da stand ich, das Herz voll Jammer, und konnte doch nicht weinen und sah die Stelle neben ihm an, wo Mama einst ruhen wollte – sie hatte so oft davon gesprochen, und nun, nun hatte sie dies Recht verwirkt! Die Monatsrosen und die Reseden dufteten so stark, von St. Marien läuteten sie zu Abend. Eine herbstlich müde Stimmung war in der Natur. Ach, wenn ich doch auch schlafen könnte, schlafen, um nie wieder zu erwachen, hier neben Papa!

Dort hinten ruhte auch Hannchen, und von ihrem Grabe leuchtete es bunt herüber, lauter frische Blumen. Die Base hatte wohl das Grab geschmückt, als könnte sie dadurch die Tote versöhnen mit dem, was heute geschah. An Papa hatte keiner gedacht, aber es war gut so, mochte er nur schlafen, schlafen, damit er nicht merkte, daß seine vergötterte Frau – mein Gott, er würde tausend Tode sterben, wenn er das wüßte! Meine arme Mutter – Frau Wollmeyer!

Auf einmal hörte ich lautes Sprechen und Tritte weit oben vom Eingang her; ein Trupp Menschen bewegte sich der Leichenhalle zu. Ich war emporgefahren aus meiner knienden Stellung, ein Frösteln rann mir über den Körper, ein unbekanntes schreckliches Grauen. Ich nahm mein Kleid zusammen und ging, so rasch ich konnte, der Gartenpforte der Komtesse zu. Dort stand die alte Dienerin der Tante und spähte mit blassem neugierigen Gesicht zu dem Totenhause hinüber.

„Gott, gnädiges Fräulein,“ stammelte sie, bin ich erschrocken – Sie stehen ja da wie ein Geist!“

„Was ist denn das dort drüben, Josephine?“ fragte ich und deutete mit dem Kopf nach den Menschen hinüber.

„Ach, es ist es ist was Trauriges, gnä’ Fräulein, die Knopfmarthe hat sich im Teich ertränkt; im Schloßgarten hat man sie herausgezogen, vorhin.“

Ich schob mich an ihr vorüber, vor Entsetzen keines Wortes mächtig. Das Herz, an das ich hätte flüchten können in der zitternden Angst vor diesen dunkeln Geheimnissen, das war nun fern, das gehörte ihm, ihm, der das junge Weib in den Tod getrieben, das Kind zur Waise gemacht hatte! Wie wahnsinnig rannte ich ins Haus, in mein Zimmer und wühlte den Kopf in die Kissen des Bettes, als könnte ich mich verbergen vor den unverständlichen Erbarmungslosigkeiten des Lebens. – 000000000000000000000

Die Komtesse fand mich in einer dumpfen Verzweiflung, schalt, weil ich fortgelaufen war, und küßte mich, weil ich so hübsch ausgesehen habe. Und jetzt sei sie meine Mutter, sie habe es versprochen und sie würde sehr böse sein, wenn ich nicht vernünftig wäre, mich auskleidete wie andere Leute mit gesunden fünf Sinnen und schlafen ginge. Und Mama lasse grüßen und der – –

Ich fuhr aus den Kissen empor mit geballten Fäusten. „Nein, ihn nicht! Nenn’ ihn nicht!“ tobte ich.

„Um Gotteswillen, Anneliese!“

„Ich haß’ ihn, o ich haß’ ihn!“

„Das ist recht hübsch von Dir,“ sagte die Komtesse trocken. „Wem verdankst Du es denn, daß Du durch Deine schwere Krankheit gekommen bist, Du wilde Katze, Du? Einzig ihm! Oder glaubst Du, daß Deine Mama allein imstande gewesen wäre, Dir auch nur den hundertsten Teil jener Pflege angedeihen zu lassen?“

Jetzt stand ich vor ihr, unfähig, mich zu beherrschen. Ich hatte es wohl geahnt, daß Mama seine Hilfe in Anspruch genommen hatte in ihrer Verlegenheit, in ihrer Sorge um mich, ich ahnte, daß er dafür den höchsten Preis, sie selbst, gefordert. Aber noch war es nicht ausgesprochen worden, noch hatte die Gewißheit „Um Deinetwillen!“ mich nicht so hart gepackt als bei diesen Worten der Komtesse. Es giebt Menschen, die das Erkennen einer schrecklichen Wahrheit zur Raserei bringt; meiner Worte nicht mehr Herr, rief ich: „Warum soll ich schuld sein an so viel Unglück, an all dem Elend meiner Mutter? Er ist ein Mörder, Tante, er ist –“

„Du bist verrückt, Anneliese!“

„Er ist ein Mörder, Tante!“ schrie ich von neuem, „er hat die Knopfmarthe gemordet!“

„Aber Kind! Aber Anneliese!“ Sie stotterte indes doch und sah mich unsicher an.

„Sie ist um seinetwillen ins Wasser gegangen,“ fuhr ich fort.

„Ins Wasser gegangen, sagst Du?“

„Ja seinetwegen.“

„Ach papperlapapp! Die Knopfmarthe wird ins Wasser gehen!“

„Ich lüge nicht! Sie ist hineingegangen, ist tot.“

„Was kann denn Dein Stief – –“

„Tante!“

„Was kann denn Herr Wollmeyer dafür? Sei nicht thöricht! Die Knopfmarthe ist immer eine überspannte Person gewesen; Gott weiß, warum die –“

„Ich weiß es, warum, ich weiß es!“ sagte ich erschöpft. „Ach, meine Mama!“

„Jetzt gehst Du zu Bett, dumme kleine Kröte,“ antwortete die Komtesse und fing an, mir höchst eigenhändig beim Auskleiden zu helfen, und dabei schalt sie, halb ärgerlich, halb zärtlich, um ihre Angst über meine Aufregung zu verbergen. „Wie ein Kind beträgst Du Dich! Dem Mann Deiner Mutter ziehst Du Gesichter, als seist Du fünf Jahre alt: es fehlte nur noch, daß Du ihm die Zunge herausgestreckt hättest! Deinem Brautführer antwortest Du nicht, sondern sitzest da, als wärst Du taubstumm. Dann sagst Du nicht einmal Deiner Mutter Lebewohl, läufst vom Tanz fort, so daß der Brankwitz herumirrt und Dich wie eine Stecknadel sucht und alle Welt anschreit, ob man Dich nicht gesehen habe!“

Ich zuckte die Achseln. Wie konnte sie von so unwichtigen Dingen reden? Sah sie denn nicht, daß ich zitterte vor Empörung? „Dieser Brankwitz ist ein gräßlicher Mensch!“ stieß ich hervor.

„So?“

„Und ich kann ihn nicht leiden.“

„Du kennst ihn ja kaum, Anneliese! Die paar Mal –“

„Er ist sein Neffe –“

„Das genügt?“

„Ja, das genügt.“

„Nun, das wird ja ein himmlisches Zusammenleben später bei Euch Dreien! Deine arme Mutter!“

„Ich will immer gut sein gegen Mama.“

„Ich sehe es kommen, sie lebt künftig zwischen zwei Feuern.“

„Ich bleibe nicht bei ihr; ich werde wieder gesund, und dann – –“ In diesem Augenblick mußte ich meine Worte Lügen strafen, denn mich überfiel ein kurzer, aber heftiger Husten, und das brachte die Komtesse außer sich.

„Da haben wir’s, Du dummes Ding!“ rief sie; das kommt von Deinem Toben! Jezt wirst Du ruhig zu Bett gehen, wirst Dich ganz still verhalten und Gott danken, daß er Dir ein Heim gegeben, Du schlimmes böses Gör Du!“

[671] Ich sah ihr die Angst an, die sie um mich hatte, ließ mit mir machen, was sie wollte, lag ganz still und dachte nur eins: vielleicht brauche ich nicht lange mehr zu leben mit dem Vorwurf in der Seele: um Deinetwillen!

Am andern Tage freute ich mich, wieder so matt zu sein, daß ich nicht aufstehen konnte, denn nun brauchte ich den Brankwitz nicht wiederzusehen, der einen Besuch bei der Komtesse machte. Ich wandte den Kopf zur Seite, als sie mir seine Empfehlungen brachte und dabei erzählte, er habe die Absicht, sich wieder anzukaufen, möglicherweise in hiesiger Gegend. „Und er läßt Dir gute Besserung wünschen.“

Ich antwortete gar nicht.

„S’ ist die Möglichkeit!“ murmelte die Komtesse, „’s ist doch nur, weil Dein – weil Wollmeyer ihn Dir als Tischnachbar ausgesucht hat!“

Ich nickte. „Vermutlich, Tante. Tante, laß doch einen Kranz bestellen für die Knopfmarthe.“

„Fällt mir nicht ein!“

„Dann steh’ ich auf und besorge ihn.“

„Na, um Gotteswillen – ich werd’s ja thun!“

Und ich blieb zu Bett, und der Sanitätsrat kam und zankte und schüttelte den Kopf. Ich hörte, wie er zur Komtesse sagte: „S’ ist rein seelisch, und es wäre gut, wenn sie bald fort könnte – andere Luft, andere Umgebung.“

„Helene geht mit ihr, sobald sie zurückkehrt von der Hochzeitsreise, Wollmeyer hat es ihr fest versprochen,“ erklärte die alte Dame.


Der Oktober kam ins Land mit wundervollen klaren Tagen, so blau und golden wie selten, und ich durfte wieder ausgehen. Schon seit einer Woche trug ich zwei Briefe in der Tasche, ohne mich entschließen zu können, sie zu öffnen, Briefe von Mama. Was sollte ich auch mit den Briefen? Ich hatte gemeint, sie müsse selbst kommen, denn ich war überzeugt, man habe ihr von meiner Krankheit geschrieben. Einmal fragte ich die Komtesse: „Tante, weiß Mama, daß ich krank bin?“ Und da war sie, die nicht lügen konnte, rot geworden wie ein Schulmädchen, als sie antwortete: „O, was denkst Du, so krank warst Du ja gar nicht – sie würde sich so ängstigen!“

Nein, so war es nicht! Man hatte ihr geschrieben, und sie kam nicht! Ich mochte auch ihre Briefe nicht. Endlich las ich sie aber doch. Aus jeder Zeile sprach die tödliche Angst um ihr Kind, und zwischen den Zeilen, da meinte ich nur immer zu lesen: um Deinetwillen! Um Deinetwillen ertrag’ ich das Leben! Und dann in dem letzten Briefe die Bitte um ein paar Worte; ein wahrhaft demütiges Bitten. Ich lief an den Schreibtisch, warf die heißesten Liebesbeteuerungen auf das Papier und sprach von meiner Sehnsucht und daß ich ohne sie nicht leben wolle und sie solle kommen! Da antwortete sie, sie könne jetzt nicht kommen, denn – sie hatte gezögert beim Schreiben, man sah es deutlich – denn er gedenke sich noch längere Zeit in Brüssel aufzuhalten, und da ich doch nun wohler sei – – aber dann, dann gehe es heimwärts und dann hole sie mich und reise mit mir.

Ich bat sie nicht wieder, sie kam auch noch lange nicht. Und eines Tages erhielt die Komtesse einen Brief und mußte abreisen; eine Kousine von ihr war gestorben, die sie sehr lieb gehabt hatte. Und da sie sich ängstigte, mich allein zu lassen, fand sie die Auskunft, mich wieder in unser altes Heim zu bringen. Die Base sei ja da, die alte Base Himmel. So packte ich denn meine Sachen zusammen und freute mich auf unsere lieben trauten Stuben und auf meinen Schutzengel. Die Base empfing mich schon unten im Hausflur. „Gottlob, Fräulein Annelieseken, daß Sie kommen!“ Sie trippelte neben mir durch den Flur und stieg die Treppe empor, mich immerfort anschauend mit einem gewissen bittersüßen Ausdruck, den ich gar nicht un ihr kannte. Im Vorzimmer blieb ich stehen und sah mich um. Mein Gott, war ich denn richtig gegangen? Mich umgab eine wahrhaft vornehme Pracht. Was war aus dem alten Zimmer geworden mit seinen vom Staub vieler Jahre geschwärzten leeren Wänden, seinem abgenutzten Parkett! Auf weiche Teppiche trat mein Fuß; köstliche Gobelins, Nachahmung alter Meisterwerke, bedeckten die Wände; vor dem Kamin standen nach alten Mustern geschnitzte eichene Möbel, und wie neu erschienen die hohen prächtigen wappengeschmückten Thüren.

„Die Mama findet ein schönes Heim, Fräulein Anneliese! Keine Ausgabe war ihm zuviel für sie. Nun kommen Sie aber, ich möchte Sie in Ihr Zimmer bringen; wie ein Käferchen in der Rose werden Sie drinnen sitzen, Fräulein Anneliese.“

Sie schritt voran nach dem Teile des Hauses, der früher unbewohnt gestanden hatte, und dort öffnete sie die Thür neben dem großen Saale. „So, Fräulein Anneliese, treten Sie ein!“ Und mich mit sich über die Schwelle ziehend, sprach sie ein lautes frommes: „Das walte Gott!“

Wie ein Käferchen in einer Rose – welch treffender Vergleich! Ich kleines braunes Ding in diesem mit blaßrosa Seide verschwenderisch ausgeschlagenen, im zierlichsten Rokokostil gehaltenen Boudoir! Geradezu feenhaft war es eingerichtet, und ebenso das Schlafzimmer mit seinem Erkeranbau. Ich sah von dem rosa Zauber weg in das Gesicht der Base.

„Hier soll ich wohnen?“

„Ja, Anneliese!“

„Aber ich denke gar nicht dran!“

„Gefällt es Ihnen denn nicht?“

„Gar nicht, Base, gar nicht! Ich stürbe hier oben vor Sehnsucht nach unseren lieben alten Möbeln. Wo sind sie? Wo ist Papas Bild?“

„Wir haben sie hinuntergeschafft, in die Zimmer neben meiner Stube.“

„Kommen Sie, Base – ich bin kein Rosenkäfer.“

„O, Anneliese, das nimmt er übel – er hat sich alles so schön ausgedacht für Sie!“

„Das ist mir ganz gleichgültig! Wenn ich hier im Hause leben muß, dann will ich unter meinen alten Sachen und mit Ihnen leben!“ Und ich lief die Treppe hinunter nach den kalten öden Zimmern, in denen man unsere alten Möbel in die Kreuz und Quere gestellt hatte, als seien sie wertloses Gerümpel. Aber wie flink die Hände der alten Frau mir halfen, wie ihre Augen leuchteten, trotzdem die Züge ernst blieben, und wie traulich wir Zwei uns da einrichteten in den paar Zimmern, fern von all der Pracht und Herrlichkeit droben! Am liebsten hockte ich im Lehnstnhl am Ofen und träumte von vergangenen Zeiten; und wenn abends die Base kam mit dem Spinnrad, so gelang es ihr mit ein paar freundlichen Worten oder mit Erzählen aus ihrer Jugend, mich aus meinen traurigen Gedanken zu reißen.

Einmal begann sie wieder zu erzählen und im Laufe des Gespräches ward sie redseliger, als sie es je gewesen. Sie sprach von Robert Nordmann; sie hatte nicht vergessen, daß ich an jenem Abend mit einem gewissen Interesse nach ihm gefragt hatte.

„Er war ein guter Junge, Anneliese, und das Hannchen hing an ihm, als wär’s ihr eigener – aber er, er! Na, er hatte des Buben Mutter auch nicht leiden können. Die Mutter von Robert war nämlich die Schwester von Hannchen, die Karoline, wissen Sie, und die beiden Schwestern hatten die Mühle zusammen geerbt. Der Karoline ihr Mann war aber Schullehrer und wollte sein Amt nicht aufgeben, er hätt’ sich wohl auch nicht gepaßt zum Müller, und der Wollmeyer, der dazumal schon festsaß in der Mühle als Hannchens Ehemann, der sollte auszahlen. So hatten’s die Schwestern ausgemacht. Der Wollmeyer aber ließ den Anteil seiner Schwägerin als Hypothek schreiben auf die Mühle und – wie das nun so gekommen ist, hm – die Nordmanns wollten nämlich eines Tages ein kleines Kapital erheben, hatten sich ein eigenes Haus gekauft, und da – – ja, sehen Sie, da fand sich’s, daß der Wollmeyer sich andern Tages bankerott erklären mußte. Die Nordmann aber nahm sich das so zu Herzen, daß sie ein hitziges Fieber bekam, und binnen drei Tagen war sie tot, und der Mann – –“

„Der Mann, Base?“

„Hm! Es war ja unrecht von ihm, ja, ja – aber er hat, er hat eine Beschuldigung gegen Wollmeyer ausgesprochen in seiner Wut, und der hat sich das nicht gefallen lassen und ’s ist an die Gerichte gekommen, und dann ist der Nordmann verurteilt worden wegen böswilliger schwerer Verleumdung, und – –“

„Aber Base!“

„Ja, ja! Und dann hat er sitzen müssen, und als er loskam, hatte er sein Amt verloren; und da ist er fort, so schämte er sich.“

Die alte Frau wischte mit dem Rücken der Hand eine Thräne aus den Augen und netzte den Flachs mit ihren Fingern. Ich schlich mich zu ihr hinüber und streichelte ihr die Wangen. „Wie traurig!“ sagie ich leise.

[674] „Als wenn das das Schlimmste wäre!“ fuhr sie heiser fort. „Aber sehen Sie, Anneliese, da kam ’mal ein Morgen, da lag das Kreisblatt wie sonst auf dem Tisch in der Mühle, und Hannchen hatte die Hände gefaltet und starrte darauf hin und war weiß wie das Papier. Und dann, als sie sich gar nimmer rührte und gar keine Antwort gab, da guck’ ich ihr über die Schulter und denke, mich schlägt der Blitz zu Boden, als ich da lese: ‚Steckbrief‘. Der Unterschlagung des mütterlichen Vermögens seines minderjährigen Sohnes der Lehrer Nordmann verdächtig – erst kürzlich aus dem Gefängnis zu H. entlassen – seine Beschreibung und dann die Aufforderung der Behörde, sie zu unterstützen, seiner habhaft zu werden. Ach Gott, Annelieseken –“ der Fuß der alten Frau stockte auf dem Trittbrett des Spinnrads und sie schlug die alten knochigen Hände vors Gesicht, als ob sie sich schämte.

„Und war dem so, Base, war dem so?“ rief ich erregt.

Sie ließ die Hände sinken und spann weiter. „Gott wird die Wahrheit an den Tag bringen,“ murmelte sie.

„Base, glauben Sie es denn?“

„Ich?“ Sie lachte grell auf. „Ich, das glauben? Der Nordmann sollte seinem Kinde die lumpigen paar tausend Mark gestohlen haben? Schwereren Herzens hat sich kein Vater je von seinem Kinde getrennt als er, das weiß ich. Mitgenommen hätt’ er den Buben, hätt’ er selber nur einen Fleck gehabt auf der weiten Welt, wo er sein Haupt niederlegen konnte. Es giebt aber keinen gerechten Gott, Fräulein Anneliese, wenn er das nicht ans Tageslicht bringt, und – er bringt es ans Licht, er thut’s, ich weiß es, ich weiß mehr, als mancher denkt.“

„Und der Robert?“ unterbrach ich die lange Pause, die nun entstand.

„Der Robert?“ Sie schrak empor, als müsse sie sich besinnen. „Den nahmen eben Wollmeyers zu sich und hatten selber kaum das liebe Brot damals, ja, ja.“ Die alten Lippen preßten sich aufeinander, als wollten sie keine Silbe mehr entschlüpfen lassen.

„Frau Wollmeyer hatte gewiß Mitleid mit dem Neffen?“ sagte ich.

„Das wohl! Aber sie getraute sich nicht, ihren Mann zu bitten, daß er sich des Kindes annehme. Da ging er selbst noch spät abends bei Sturm und Regen und brachte den Jungen daher und gab ihm Kleidung und Essen und schickte ihn zur Schule. Aber –“ Ein höhnisches Lächeln zuckte flüchtig um den alten eingefallenen Mund.

„Aber – Base?“

„Ja, das sind so Rätsel im Menschenherzen – der Junge konnte nun ’mal kein Herz zu ihm fassen, Gott weiß, weshalb!“

Ach, das – das kann ich verstehen, dachte ich, und meine Augen suchten das Bildchen an der Wand zu erkennen, das in der Dämmerung verschwamm.

„Nun, und weiter, Base?“

„Na, wie’s in den Wald hineinschallt, schallt’s auch wieder heraus. Der Junge war und blieb scheu, mißtrauisch und steifnackig. Da versuchte es Wollmeyer mit Strenge, mit Prügeln, mit Hunger, und dann, als wir schon hier in Westenberg wohnten, da drohte er, ihn vom Gymnasium wegzunehmen und zu einem Schuster in die Lehre zu thun. Es half alles nichts. Ja, das waren böse Zeiten, Anneliese.“

„Er war wohl faul in der Schule?“

„Der? Der beste in der Prima war er,“ antwortete die Base entrüstet.

„Nun, weshalb dann das alles?“

„Ich sagte ja schon, es sind Rätsel. Je mehr der Robert heranwuchs, desto mehr mißachtete er den Onkel, kaum daß er noch die blauweiße Schülermütze rückte, wenn sie sich auf der Straße begegneten. Es gab kein Mittagbrot, an dem nicht eine böse Rede über das bißchen Essen hin und herflog. Wollmeyer schimpfte, und der Junge hatte eine Art, die Mundwinkel zu ziehen, die mehr sagte als Worte. Und dann ging’s los. Wir Frauen zitterten, doch dreinreden durften wir nicht. Hannchen versuchte es in der Erst, aber sie ließ es bald. Der Junge kam selbst zu ihr und bat: ‚Tanting, thu’ mir die Liebe und schweig’ – ich weiß, Du meinst es gut, Du machst es aber nur noch schwerer; je mehr Du verteidigst, desto schlimmer wird’s.‘ – ‚Ach Robert, Robert, Du könntest wohl dankbarer sein!‘ hat sie da geschluchzt. Und da sagte der Teufelsjunge, er sähe keinen Grund zur Dankbarkeit, er habe mehr zu beanspruchen als das, was er hier erhalte. Und die Hannchen hat dagesessen und ihn angeschaut, als habe er ihr gesagt, morgen um diese Zeit werde der Himmel einfallen oder sonst etwas. Sie hat aber gegen ihren Mann geschwiegen, um ihn nicht noch mehr aufzureizen, und –“

„Damals waren Wollmeyers wohl schon wieder zu Gelde gekommen?“ unterbrach ich die alte Frau.

„Ach mein Gott, das Geld, das kam schon gleich nach dem Bankerott in Strömen geflossen!“ rief die Base und ließ ihr Rad stehen. „Von da an ist alles gelungen – er hat einen gefunden und der hat ihm geholfen; ein Herr von Brankwitz ist’s gewesen, ist nun schon längst tot; der mit auf der Hochzeit war – das ist sein Sohn. Was der Vater von ihm war, der hat nun damals die Mühle erstanden beim Zwangsverkauf und hat den Wollmeyer als Inspektor drauf gesetzt, und keine zwei Jahre hat’s gedauert, da gehörte dem die Mühle wieder. Wo Tauben sind, da fliegen neue hinzu. Anneliese – steinreich ist er geworden da droben, es lag ein schier unheimlicher Segen auf allem, was er that, ja, ja – unheimlich, sag’ ich.“ Sie schwieg und wie gedankenabwesend setzte sie ihr Rädchen in Gang. „Ja, ja!“ wiederholte sie dann noch einmal.

„Und der Robert?“

„Fort!“ war die Antwort, „fort! Weiß nicht mehr, was es gegeben hatte vorher – fragen Sie mich nicht!“

Und als ich sie nun still ansah, murmelte sie, als spreche sie mit sich selbst: „Kam nicht wie sonst in die Küche und holte sich sein Frühstück. Ich hab’ gewartet, wie auf die liebe Gottessonne hab’ ich gewartet und endlich bin ich hinaufgegangen in sein Dachstübchen – das war leer, und sein Sonntagszeug hing nicht mehr an der Wand und in der Kommode fehlte das bissel Wäsche. Vor dem Fenster tanzten die Schneeflocken in der grauen Dämmerung des Dezembermorgens; es war so kalt, just zwei Tage vor Weihnachten. Meine alten Arme waren wie gelähmt. Hab’ keinen Christstollen backen können in dem Jahre – für wen denn auch, hab’ ich gedacht. Ist auch für mich kein Weihnachten mehr gewesen seitdem, nie mehr!“

„Base,“ sagte ich und rückte zu ihr hin, „Base – schrieb er nicht ’mal an Sie?“

Sie fuhr empor, und aus ihren alten Augen wich der Traum, sie blickte wieder so nüchtern und kalt wie immer. „Geschrieben? Wer? Der Robert? Nein, wozu soll er schreiben? Und nun ist’s spät; ich will nachsehen, ob die Mädchen die Thüren verschlossen und die Läden vorgelegt haben. Gute Nacht, Fräulein Anneliese!“

Sie schüttelte den Flachsstaub von ihrer Schürze und trug das Spinnrad hinaus. Hinter ihr schloß sich die Thür und ich blieb allein mit meinen Gedanken an Robert Nordmann, und meine Phantasie malte ihn mir, schuf mir einen ganzen Roman.


Es schien, als hätte sich die Base an jenem Abeud völlig ausgesprochen. In der Zeit, die nun folgte, saßen wir still nebeneinander, und der Sturm, der um das alte Gebäude tobte, war das einzige, was wir zu hören bekamen.

Die Bekannten gaben es nach und nach auf, sich um mich zu bekümmern. Es war auch ein undankbares Thun, zudem geschah etwas Neues, wodurch das Interesse von mir abgezogen wurde: Lore von Tollen hatte sich mit dem Adalbert Becker verlobt, von dem man eigentlich gar nichts Näheres wußte, als daß er Geld besaß und daß er sich mit unglaublicher Anmaßung in die „ersten Kreise“ der Gesellschaft gedrängt hatte.

Vor einem halben Jahre noch würde ich mich über die Nachricht gewundert haben, daß das stolzeste und schönste Mädchen Westenbergs diese Wahl getroffen; jetzt wunderte ich mich nicht mehr, nach Mamas Heirat hätte ich noch ganz andere Dinge für möglich gehalten.

Es war ein Tag zu Anfang November, da traf ein Telegramm ein mit der Nachricht, daß heute die Herrschaft zurückkehre. Ich hockte im Lehnstuhl am Ofen und rührte mich nicht, ich war müde, todmüde, hatte die ganze Nacht gehustet. Was ging auch mich das alles an? Ein ganz fremdes Gefühl überkam mich, wenn ich an Mama dachte. Im Hause war großes Getöse entstanden, sämtliche Zimmer droben wurden geheizt, die Thüren bekränzt und die Blumentische gefüllt. Die Base blieb gänzlich unsichtbar. Sie kommandierte in der Küche zwischen Konservenbüchsen und Einmachgläsern, und draußen vor dem Stallgebäude wurde der Landauer gewaschen.

Das Stubenmädchen kam gegen drei Uhr und fragte mich, ob ich nicht die Zimmer droben ansehen wolle; sie seien hergerichtet, die Herrschaft dürfe nur kommen; sehr schön sei es und furchtbar nobel, bei Beckers wäre es nichts dagegen. Ich verneinte kurz.

[675] Die Base brachte mir ein sehr verspätetes Essen. „Gott, Fräulein Anneliese, nicht böse sein! Bringe Ihnen auch Ihr Leibgericht.“

Ich mochte nicht essen. Matt und fiebernd legte ich den Kopf zurück; es war doch im Grunde recht schwach bestellt mit meiner Gleichgültigkeit.

Um halb sechs Uhr fragte die Base, ob ich die Eltern von der Bahn holem wolle, Friedrich fahre eben hin.

„Nein!“ antwortete ich kurz.

Und ich saß da in der tiefen Dämmerung und das Herz klopfte mir wie wahnsinnig bei jedem Pendelschlag der alten Uhr in dem Stübchen der Base. Die Laterne vorm Thorweg drüben strahlte rötlich im Dunst und Duft des Novemberabends, und vor dem Fenster regte es sich wunderlich, die ersten großen Schneeflocken taumelten hernieder, anfänglich einzeln und schwerfällig, dann rascher, dichter, und zuletzt ward es ein toller wilder Tanz. Weich und weiß legte sich eine schimmernde Decke auf die Aeste der hundertjährigen Linden vor den Fenstern, breitete sich ein leuchtender Teppich über den Hof. Ich konnte den wirbelnden Flockentanz vom Ofen aus sehen, in dem der heimatliche Torf langsam verglomm, aber ich hörte dieses weichen Teppichs wegen nicht den Wagen und saß da, ahnungslos, daß meine Mutter mit enttäuschter Miene eben den Fuß über ihre Schwelle setzte, und brütete und wartete. Erst als ich über mir ein Geräusch vernahm im oberen Stockwerk, schreckte ich auf. Sollte sie schon? Aber nein! Sie hätte ja zuerst nach mir gefragt, wäre zuerst zu mir gekommen!

Die Base trat herein, das alte dürre Gesicht rot vom Herdfeuer und vom Eifer. „Aber, Anneliese,“ sagte sie sanft und vorwurfsvoll, „Sie hätten doch wohl der Mama bis an die Thür entgegengehen sollen – sie hat so traurig ausgesehen, und er – er hat ein Gesicht gemacht wie drei Tage bös Wetter.“

So wird also der Kampf beginnen, sagte ich mir und stieg mit zusammengebissenen Zähnen die Treppe empor, um Mama zu begrüßen, völlig überzeugt, einem unangenehmen Auftritt entgegenzugehen. Aber es kam anders. Die Herrschaften seien noch beim Umkleiden, berichtete das Stubenmädchen und ließ mich in einen Salon treten, der wahrhaft reizend eingerichtet war. Ich hatte Muße, alles das zu betrachten, ebenso das daneben befindliche Speisezimmer, in dem sich die durch Künstlerhand aufgefrischten Ahnenbilder der Serrenburgs sehr stilvoll ausnahmen, und dann das Boudoir Mamas auf der anderen Seite des Salons, das in blassem Blau gehalten war. Nichts hatte man gespart, was Geschmack im Verein mit Kunstfleiß hervorzubringen vermag, und ich mußte mir gestehen, daß Herr Wollmeyer alles gethan habe, um seiner zweiten Frau ein wahrhaft vornehmes Heim zu bereiten.

Die Not, die Dürftigkeit war zu Ende, aber die Ueberzeugung, daß aus diesen Räumen mit der bescheidenen Einrichtung der Frau von Sternberg auch das alte Glück gewichen sei, die ließ ich mir nicht nehmen.

In diesem Augenblick hörte ich die fette, vor innerem Behagen überquellende Stimme meines Stiefvaters hinter der Portiere: „Das Töchterchen, wo ist denn unser liebes Töchterchen?“ und gleich darauf trat er über die Schwelle mit ausgestreckten Händen und glänzendem Gesicht. „Grüß Gott! Grüß Gott, meine liebe kleine Anneliese!“ rief er, als wären wir stets die besten Freunde gewesen, und trotz der Abwehr hatte er mich an seine Brust gezogen und seine Lippen auf meine Stirn gedrückt.

Mir rann es wie Eis durch die Adern. Ich blieb stumm und wich zurück, und dann kam Mama und ich flüchtete in ihre Arme und forschte in ihrem Gesicht, als könnte ich darin lesen, ob sie meinen geliebten Papa und mich ganz vergessen habe. Sie sah frisch aus und rosig und trug ein auffallend elegantes Hauskleid, so wie es erste Liebhaberinnen auf der Bühne in einem französischen Salonstück zu tragen pflegen.

„Meine liebe kleine Anneliese,“ sagte sie, „nun muß ich gleich böse mit Dir sein! Ich hatte auf der ganzen Fahrt davon geträumt, Dich auf der Schwelle des Hauses zu sehen bei unserer Ankunft, und –“ '

„Ach was, es wird nicht gescholten, Helene!“ fiel Herr Wollmeyer ein. „In dem Schnee hört man das Rollen des Wagens nicht, und in der Hausthür kann das Kind doch auch nicht stehen, um sich unserthalben der Zugluft auszusetzen. – Wie geht’s denn mit Ihrer Gesundheit, Anneliese, ist der Husten besser?“

Fabelhaft liebenswürdig und gutherzig klang es. „Ich danke, ja,“ log ich und sah meinen Fürsprecher an mit einigermaßen erstaunten Augen.

„Und Du wohnst nicht hier oben in Deinen hübschen Zimmern?“ klagte Mama weiter.

„Nein. Ich fühle mich unten gemütlicher.“

„Aber, Helene, ich bitte Dich,“ fiel er ein und schritt umher mit auf dem Rücken gekreuzten Händen und lächelndem Gesicht, „so laß sie doch! Sie wird sich schon mit derZeit herauf gewöhnen. Zeit lassen, liebe Helene, Zeit lassen! Du mußt nicht verlangen, daß der kleine Gletscher da mit einem Male schmilzt, gelt, meine liebe Anneliese? Nach und nach, wenn Sie Ihren Stiefpapa erst genauer kennen, werden Sie ihm gut werden – eh! eh!“ lachte er, als ich unwillkürlich eine abwehrende Bewegung machte – „heute und morgen freilich noch nicht – Zeit bringt Rosen!“ Und damit warf er mir eine Kußhand zu und verschwand im Eßzimmer, um die Tafel zu besichtigen.

„Du hättest wenigstens in Deinem Briefe danken können, Anneliese, für die zarte Fürsorge, mit der er in seinem Hause Dir ein Heim eingerichtet hat. Was soll werden, wenn Du so steifnackig bleibst? Wirst Du nie einsehen, wie falsch Du ihn beurteilst? Daß Du ihm sehr viel Dank schuldest?“

„Ich würde sehr glücklich sein, wenn ich es eines Tages einsehen könnte, Mama – Deinetwegen. Bitte, bitte, laß mich auf meine Façon selig werden, dort unten zwischen meinen alten Erinnerungen; ich will ja sonst alles thun, um das gute Einvernehmen, den Frieden Deines Hauses nicht zu stören.“ –

Ach, ich hätte vor der Hand den Frieden des Hauses nicht stören können, auch wenn ich gewollt. Herr Wollmeyer strahlte am Himmel dieses Hauses wie die Friedenssonne selber und überschüttete alles, was in seinen Bereich kam, mit seinen goldenen Strahlen, und meine völlige Unempfindlichkeit gegen diese Strahlen geruhte er im Vollgefühl seines Glanzes gar nicht zu bemerken, im Gegenteil, er lächelte mich nur um so huldvoller an. Für jedes höhnische Zucken meiner Mundwinkel bei einer seiner protzenhaften Taktlosigkeiten hatte er eine Liebenswürdigkeit, für jede offenbare Nichtbeachtung eines seiner Wünsche die Erfüllung irgend eines der meinigen. Ich sah mich plötzlich, als ich mich weigerte, die längst besprochene Reise meiner Gesundheit wegen zu unternehmen, im Besitze eines reizenden Ponygespanns, um so Gelegenheit zu haben, recht viel frische Luft zu schöpfen, und eines Tages stand ein neues sehr schönes Pianino in meinem Zimmer. Gottlob, das alte hatte man daneben belassen, und auch der Pony hatte Ruhe vor mir!

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 41, S. 690–695

[690] Ganz Westenberg staunte den neuen Haushalt der jungen Frau Wollmeyer an; wo ich mich blicken ließ, bekam ich von dem fabelhaften Glück zu hören, das Mama betroffen, selbst Tante Komtesse söhnte sich aus mit den Manieren des Mannes und fand, daß Len’ ihn schon höfisch zugestutzt habe, und schließlich war ich mit meiner Meinung, meiner Kälte unter all den anderen Menschen wie ein weißer Rabe, und Mamas bekümmerte Blicke erzählten, wie schwer sie dies empfinde.

Ja, war sie denn wirklich glücklich? Einerseits gab mir die Möglichkeit, daß sie es sei, eine wahrhafte Beruhigung, anderseits empörte mich der Gedanke, daß sie fähig sein könnte, neben diesem Mann zufrieden zu leben, bis ins innerste Herz, und zuweilen, wenn sie abends, jetzt allerdings selten genug, zu mir herunterkam, um wie sonst ein paar Augenblicke an meinem Bette zu sitzen, dann ertappte ich mich dabei, daß ich sie wortlos anstarrte, um dieses Rätsel zu erforschen. Einmal schien es mir, als habe sie geweint, aber ich hatte nicht den Mut, sie zu fragen. Sie klagte nie – worüber auch? Sie besaß ja alles, was das Herz einer Frau nur zu wünschen vermag, aber es that mir weh, sie so zufrieden zu sehen.

„Er ist sehr gut!“ sagte sie einmal, als ich sie über ihrem Ausgabenbuch fand – Rechnen war immer ihre schwache Seite gewesen –, sich bemühend, einen Fehler, den sie gemacht hatte, herauszufinden. „Er hat so viel Geduld mit mir.“

In diesem Augenblick schaute er zur Thür herein und lachte, als er sie so beschäftigt sah. „Ja, ja!“ rief er, „man ist jetzt die Frau eines Kaufmanns geworden, da muß anders Buch geführt werden als früher.“

„Ich will Dir’s abnehmen, Mama,“ sagte ich ruhig, und seit dem Tage half ich ihr bei der Buchführung; sie kam dann herunter zu mir, und wenn wir nicht rechneten, schwatzten wir zusammen wie in alten Zeiten, oder ich war bei ihr oben in ihrem Toilettenzimmer, während sie sich in irgend ein Seiden- oder Sammetkleid warf, denn sie machten eben mittags und nachmittags ihre ersten Besuche, und Mama mußte dem Rang einer Frau Wollmeyer entsprechend angezogen sein. Später kamen die Gegenvisiten, bei denen meine Anwesenheit gewünscht wurde, und als das vorüber war, nahm der Hausherr sein altes Leben wieder auf, das heißt, er ging hier und da zu einer Stadtverordnetenversammlung, und alle Tage zweimal zum Stammschoppen, Sonntags in die Kirche und Mittwochabend mit Mama zum Whistkränzchen, das sie mit der Komtesse und dem Postdirektor von Blessow, dem Superintendenten und deren Frauen hielten.

Ich lebte indessen wie eine verwunschene Prinzessin im Märchen mit meiner alten Base und dachte darüber nach, wie ich mich erlösen könnte, denn daß ein anderer Mensch mich hier herausführen werde, das schien mir unmöglich. Ich wollte auch meine Freiheit nur mir selbst verdanken und arbeitete nun tüchtig, um mich in Musik und Sprache zu vervollkommnen. Hier brauchte man mich ja nicht – Mama war ja glücklich!

Allmählich war man tiefer in den November hineingekommen, und in unserem Hause wurden Vorbereitungen getroffen zu dem Empfang von Gästen, des Herrn von Brankwitz und seiner Schwester. Die alten Füße der Base waren treppauf treppab gelaufen den ganzen Tag, und ihr Gesicht sah anders aus als sonst – zwei hochrote Flecken brannten ihr auf den hageren Wangen. Mama hatte nach Tisch über Kopfschmerzen geklagt und war nicht fähig, Herrn Wollmeyer zum Bahnhof zu begleiten, um den Besuch zu empfangen. Ich saß in meiner Stube und bemühte mich, einen französischen Brief zu schreiben an irgend eine fingierte Persönlichkeit, als Mama eintrat und mich mahnte, Toilette zu machen. Dann strich sie mir über die Wange und schob mir ein Päckchen in die Hand.

„Du möchtest Dich heute abend damit schmücken, läßt er Dir sagen.“

Der „Er“ war Herr Wollmeyer, mir gegenüber nannte sie ihn immer so. Ich öffnete das Päckchen; ein kleines ganz mit winzigen Diamanten besätes goldenes Medaillon in Herzform blitzte mir entgegen.

„Aber weshalb denn, Mama?“ entfuhr es mir.

„Er meint es so gut, er möchte Dir gern eine Freude machen,“ antwortete sie. „Nicht wahr, Du wirst es tragen?“ Ihre Blicke hingen förmlich angstvoll an mir.

„Wenn Du es durchaus wünschest, Mama.“

„Bitte!“ sagte sie leise.

In diesem Augenblick kam die Base herein, noch rot von der Arbeit am Küchenherd. Mama trat rasch zu ihr und hielt ihr die Hand hin. „Base, er hat’s nicht so gemeint,“ flüsterte sie.

Ich sah verwundert von der einen zur andern.

„Freilich, freilich!“ murmelte die alte Frau und drückte Mama die Hand. „Er hat ja auch recht – wenn man alt wird, werden auch unsere Leistungen mangelhafter, und das hat Gott so eingesetzt, daß wir langsam welken und absterben – da kann Wollmeyer nichts daran ändern, geht ihm dereinst ebenso.“

„Nicht so bitter sein, Base.“

„Bin nicht bitter, gar nicht, wenn ich hätt’ bitter werden wollen, so –“

Mama wandte sich langsam zu mir. „Mach’s gut heute abend,“ forderte sie, „und sei freundlich!“ Dann ging sie, müde, um Jahre älter aussehend denn sonst, trotz ihres eleganten, fast zu jugendlichen Anzuges.

„ Was hat’s gegeben, Base?“ fragte ich besorgt, als sich die Thür hinter ihr schloß.

„Weiter gar nichts, wirklich gar nichts,“ sagte sie in ihrer alten freundlichen Art. „’s sind ’mal Tage, wo es bös Wetter giebt. Machen Sie es wieder gut, schauen Sie auf heute abend, wie Sie früher immer aussahen, so als ob die liebe Sonne in das Stübchen guckte, dann wird’s besser!“

Mamas Aussehen hatte mich unglücklicher gemacht, als ich mich seit langer Zeit gefühlt. Sie hatte recht, sie konnte verlangen, daß ich freundlicher war. Ich begann unter dem Einfluß dieses guten Vorsatzes mich hastig anzukleiden und als ich eben fertig war, da rasselte der Wagen über das Pflaster des Hofes und ich ging hinaus – um Mamas willen die Gäste zu begrüßen. Friedrich riß die Thür auf und den Wagenschlag, und ich trat auf die Schwelle.

Eine lispelnde hohe Frauenstimme scholl aus dem Wagen. „Ach, sogar weißgekleidete Jungfrauen zu meinem Empfang? Onkel Wollmeyer, Du hast einzige Einfälle!“

Herr Wollmeyer, der beim Umsehen mich erblickte, lachte, indem er der großen Frauengestalt beim Aussteigen behilflich war. „Ja freilich, ’s ist die Anneliese, unser wildes Trotzköpfchen. Kommen Sie her, Anneliese, so – gebt Euch einen Kuß – so, so!^

In dem weiten seidenen Mantel, der sich jetzt auseinander breitete, versank ich fast, ich fühlte mich plötzlich umarmt und atmete ein süßliches, mit Patschuli vermischtes Parfüm ein, das mich fast betäubte.

„Ach, solch winziges Püppchen,“ sagte dieselbe hohe Stimme, „wie ein Figürchen von Meißener Porzellan, süß, einfach süß!“

„So laß sie doch endlich los, Olga!“ rief eine dritte Person, „willst Du sie erdrücken? Schön guten Abeud, mein gnädiges Fräulein, freut mich, Sie so wohl zu sehen, waren damals auf der Hochzeit etwas – hm –“

Der junge Brankwitz hatte mir beide Hände hergestreckt, und in diesem Augenblick überkam mich wieder die ganze verzweifelte Stimmung des unseligen Hochzeitstages; ich fühlte, wie mir alles Blut zum Herzen drang, fühlte, daß ich aschfahl aussehen mußte, und legte nur flüchtig für eine Sekunde einen einzigen Finger in seine Hand, dann wandte ich mich kurz ab. Zum Glück trat eben die Komtesse in die Thür in ihrem beliebten abendlichen Straßenanzug, mit hoch aufgeschürztem Rock, an den Füßen mächtige Holzpantoffeln wie sie in Westenberg der grundlosen Wege halber den Gummischuhen vorgezogen wurden, einen altmodischen weiten Tuchmantel um, eine Kapuze längst verflossener Mode auf dem Kopfe, eine riesige Laterne in der einen Hand und in der andern einen ebenso riesigen Regenschirm.

Mit einem Jubelschrei flog ich dieser grotesken und doch so lieben Erscheinung entgegen.

„’n Abend!“ rief sie, und ohne sich um die Fremde zu [691] bekümmern deren volles rosig weißes Gesicht verblüfft und erstaunt unter dem Sealsbarett hervorsah, schrie sie: „Die ganzen hochweisen Stadtverordneten können sich meinetwegen begraben lassen, verehrter Herr Wollmeyer! Brennt wohl eine einzige Laterne in der ganzen Stadt? An der Ecke von Schuster Grün ist mir ein Pantoffel stecken geblieben, und wenn ich meine Laterne nicht gehabt hätte, steckte er noch da! Nachgerade sollten Sie doch wissen, daß auf den Mond kein Verlaß ist!“

„Bei der nächsten Wahl werden wir Sie zum Bürgermeister vorschlagen, gnädigste Gräfin – ha, hal“ antwortete lachend der Hausherr. „Aber da wir uns einmal so unvermutet hier treffen – darf ich Ihnen Frau Sellmann, geborene von Brankwitz, vorstellen? Lieber Besuch, hoffentlich recht lange, ja – hm! Herr Otto von Brankwitz!“

„Hatte schon das Vergnügen,“ sagte die Komtesse zu dem Letzteren, während sich ihre ungeheure Kapuze etwas gegen die junge Witwe neigte. „Sehr erfreut, aber wenn wir hier bleiben sollen, mein guter Wollmeyer, dann lassen Sie Stühle bringen, oder erlauben Sie ’mal, daß ich voran marschiere.“

Und sie stelzte mit ihren kurzen Röcken und den riesigen Schuhen ohne Absätze der Treppe zu, nachdem sie die Pantoffeln an der Thür gelassen hatte.

Die Frau Sellmann folgte lächelnd, und ebenso wir. Ich sah es noch, wie ein mannshoher Koffer in die Zimmer an der andern Seite des Flurs, uns gegenüber, geschafft wurde – dort wohnte die Dame.

Oben kam Mama uns im Vorzimmer entgegen. Erneute Begrüßung, ein Umarmen und Küssen seitens der Geborenen von Brankwitz, das endlos dauerte, während die Komtesse sich den Mantel abnehmen ließ und ihr Kleid in Ordnung brachte. „’n Abend, Len’,“ grüßte sie, als Mama endlich frei wurde, „was ist denn los bei Euch? Wird getanzt?“

Mama sah verlegen lächelnd an ihrem weißen Wollkleid herunter.

„Na, entschuldige! Ich habe meinen alten Kittel an. Das Schwarzseidene riskierte ich nicht bei dem Wetter – wenn’s Herz nur gut ist!“

Und sie küßte Mama auf die Stirn und sah mit verwunderter Miene der Frau Sellmann nach, die nur ein wenig Toilette machen wollte.

Mama entschuldigte sich bei der Komtesse, beauftragte mich, dieselbe in ihr Boudoir zu führen, und stieg treppab, um dem fremdem Gaste die Zimmer anzuweisen.

„Na, wie geht’s denn, Kücken?“ fragte die Gräfin mich drinnen – die Herren waren eine Treppe höher gegangen, wo Brankwitz wohnte – „hast wohl keine Langeweile mehr? Alle Tage etwas anderes – mußt wohl ordentlich Haustochter spielen? Aber hör’, die Len’, wie sieht die Len’ aus! Hatte sie geweint?“

„Ich weiß nicht, Tante, ich habe Mama heute sehr wenig gesehen.“

Ich faßte Mama schärfer ins Auge, als sie zurückkam; wirklich, sie hatte rotumränderte matte Augen und drückte des öfteren die Hand gegen die rechte Schläfe. Es mußte etwas vorgefallen sein, das sie mir verschweigen wollten, die Base sowohl wie Mama. Arme Mama!

Der Hausherr, der mich heute mit Vorliebe „Töchterchen“ nannte, führte etwas später die Komtesse am einen und Frau Sellmann am andern Arm ins Speisezimmer; er war ganz ausgesucht guter Stimmung heute abend; Herr von Brankwitz reichte Mama den rechten Arm, ich übersah den anderen und schlenderte hinterdrein mit gesenkten Augen. Bei Tische saß ich natürlich neben ihm.

Er begann eine halblaute Unterhaltung, wobei er die blaßblauen Augen beständig in die meinen zu versenken suchte. Ich antwortete unartig laut und überhaupt sehr kurz; mir kam dieser Jüngling einfach albern vor. Jedenfalls war seine Schwester eine ganz andere Persönlichkeit. Groß, schlank, zungengewandt, von rosiger Gesichtsfarbe und rotblonden Titianhaaren; letztere Eigenschaften jedenfalls samt den kohlschwarzen Augenbrauen auf kosmetischem Wege angezaubert. Sie hatte ihre üppige Gestalt in schwarzen Atlas gepreßt, und für jedermann, der ein bißchen schlecht sah, war sie ohne Zweifel imponiereud schön, aber von einer Schönheit, die für honette Damen etwas Peinliches hat.

Die Komtesse in ihrer schwarzen Wollspitzenhaube, die mit Granatnadeln festgesteckt war, und ihrem einfachen schwarzen Wollkleid wandte kein Auge von der Dame, und ihr Gesicht zeigte den bekannten Ausdruck, in dem Mißtrauen und Hochmut sich mischten; sie konnte sehr fatal aussehen, die alte Dame, und heute abend that sie es in besonderem Grade. Ich hätte etwas darum gegeben, hätte ich in diesem Augenblick ihre Gedanken erraten können.

„So ein kleines Städtchen hat etwas unglaublich Trauliches,“ flötete Frau Sellmann und machte sich eine Auster mundgerecht, „man kommt sich vor, als sei man der Gegenwart entrückt, als lebe man im Mittelalter. Ich denke mir, hier muß die Zeil stille stehen.“

„Keineswegs,“ sagte die Komtesse trocken, „man wird hier so gut älter wie in Berlin, nicht wahr, lieber Wollmeyer?“

„Aber wer wird vom Alter reden in Gegenwart so schöner Damen?“ rief Herr von Brankwitz. „Meine Damen, Ihr Wohl, Ihr ganz spezielles, Fräulein von Sternberg!“

Ich stieß mit ihm an, aber wich seinen Blicken aus.

„Meine Schwester hat recht, wenn sie sagt, hier stehe die Zeit still,“ begann er. „Sie sollten wo anders leben, gnädiges Fräulein, es ist hier nicht der Platz für Sie; Sie müssen gesehen, bewundert werden – hm –“

Er verstummte, ich mochte ihn wohl befremdet angeblickt haben.

„Onkel Wollmeyer, Du mußt mir das liebe Ding einmal nach Berlin schicken,“ sagte Frau Sellmann.

„Anneliese fühlt sich hier, glaube ich, ganz glücklich,“ fuhr die Komtesse dazwischen. „Nicht, meine Tochter?“

„Wenn mit dem ‚lieben Ding‘ ich gemeint bin – ich dachte, es sei von Mamas Pinscher die Rede – so muß ich bemerken, daß ich für mein Teil nicht auf Berlin brenne.“

„Anneliese!“ mahnte Mama.

Herr Otto von Brankwitz lachte.

„Vorläufig bleiben wir alle hier und vergnügen uns, so gut es geht, meine Herrschaften,“ rief mein Stiefvaler. „Ich veranstalte ein Eisfest auf dem Teich –“

„Es gefriert ja gar nicht,“ flötete Frau Sellmann.

„Ein Westenberger Stadtrat kann alles,“ sagte die Komtesse, „kann auch gefrieren lassen.“

„Reizend, Komtesse, bravo!“ lachte der Stadtrat, „dann Schlittenpartien, Mondscheinball, Hausball, Weihnachtsjubel, Wohlthätigkeitsvorstellung und so weiter und so weiter! Trinken wir auf einen fröhlichen Winter!“

„Ich trinke noch auf etwas anderes,“ flüsterte Herr von Brankwitz, mir tief ins Auge sehend, und er rührte an mein Champagnerglas, das ruhig auf dem Tische stand, wo es auch stehen blieb.

Ich hatte die Achseln unmerklich gezuckt und eine hochmütige Miene aufgesetzt.

Nach Tische vergaßen wir, uns gegenseitig eine gesegnete Mahlzeit zu wünschen. Den Kaffee nahm man in dem zu einem türkischen Zelt umgewandelten Raum neben Mamas Boudoir. Frau Sellmann lag auf der Chaiselongue ausgestreckt, eine Cigarette rauchend; die Komtesse, mit einem großen groben Strickzeug, saß auf einem niedrigen Sessel, während die Herren ebenfalls rauchten.

„Anneliese, spiele mir mein Lieblingsstück,“ bat die alte Dame, und ich ging ins Nebenzimmer, um ihr das Ochsenmenuett von Haydn zu Gehör zu bringen, das sie vor ewig langer Zeit einmal mit einem Prinzen vierhändig gespielt hatte, in einer Gesellschaft bei „Papa Excellenz“, und das sie zaubermächtig zurückversetzte in die ferne Jugend.

Plötzlich griff eine breite, aber wohlgepflegte Männerhand über meine Schulter hinweg und schlug das Notenblatt um.

„Danke sehr, aber das thue ich lieber selbst,“ sagte ich laut.

„Warum denn so feindselig, Fräulein Anneliese?“ tönte es flüsternd zurück. „Wenn Sie wüßten, wie ich mich gefreut habe, Sie wiederzusehen, gefreut seit jenem Tage, wo ich die Ehre hatte, Ihr Tischnachbar zu sein! Sie waren entzückend auf dieser Hochzeit, so zigeunerhaft wild und dabei so süß, einfach süß! Ich sagte zu meiner Schwester, als ich nach Berlin zurückkam, ‚Olga,‘ sagte ich, ‚Du glaubst nicht, was in dieser Kleinen – pardon – dieser jungen Dame für Temperament, für Rasse, für –‘“

[692] Bim! Bim! Bim! trommelte ich die drei Schlußaccorde, klappte den Deckel des Flügels zu, stand auf und ging aus der Thür.

Ich hatte völlig vergessen, daß ich mir gelobt, um Mamas willen artig zu sein, aber schließlich, das konnte sie doch nicht verlangen, daß ich solchen Blödsinn mir anhörte! Es war ja nahezu eine Liebeserklärung, wenigstens die beste Einleitung dazu – aber so wenig geschmackvoll wie möglich. Der schönste Platz im ganzen Hause war doch noch immer meine einsame Stube drunten, die verständigste Gesellschaft die meines alten guten Schutzengels, dessen besondere Eigenschaft ich freilich an jenem Abend noch nicht kannte.

„Gottlob!“ sagte ich, als ich vor der alten Frau stand, die beim Scheine der einfachen Petroleumlampe in ihrem Stübchen am Tisch saß und in allerhand Sachen kramte. „Das ist nicht zum Aushalten da droben, Base! Mama sieht aus, als wollte sie jeden Augenblick in Thränen ausbrechen; er ist wie eine Gewitterwolke, und die Frau Sellmann, geborene von Brankwitz, müßte polizeilich verboten werden, ihres Parfüms wegen. Der Herr Bruder hat den ‚Kleinen Kurmacher in der Westentasche‘ oder ‚die Kunst, sich bei den Damen beliebt zu machen‘ auswendig gelernt und will die Wirkung an mir erproben. Die Tante Komtesse endlich sitzt dabei und weiß nicht, was sie zu all dem sagen soll.“

„Sie hätten aushalten müssen, Annelieseken, ’s giebt sonst nur bös Blut. Gehen Sie wieder hinauf, denken Sie an das, was sie der Mama versprochen haben!“

Aber eigensinnig blieb ich, holte mir einen Stuhl, setzte mich neben die alte Frau und beschwor dadurch ein Unwetter herauf, das zwar schon lange grollend am Himmel gestanden, sich aber nun urplötzlich und vernichtend über mein bißchen Frieden und Glück ergoß.

Die Base batte nämlich in ihrer Kommode gekramt, und auf dem Tische lagen Bücher und zusammengebundene Briefpäckchen. Ein altes blauweißes Schülermützchen, arg von Wind und Wetter mitgenommen, hatte sie über ihre linke Hand gezogen und strich mit der Rechten wie liebkosend darüber hin, just in dem Augenblick, als die Thür der Vorderstube krachend zugeschmettert wurde und der Hausherr eiligen harten Schrittes in unsere Idylle polterte. Er mochte gerade noch gehört haben, daß ich mich erkundigte, ob diese Mütze einst Robert Nordmann gehört habe.

Die Base saß stumm, erschreckt da.

„Also hier?“ fragte er. „Ich muß bitten, daß Sie sich wieder hinaufbemühen zur Gesellschaft. Sie sind kein Kind mehr, Sie sind die erwachsene Tochter meines Hauses, und ich kann verlangen, daß man gegen dieses Haus Rücksichten nimmt. Ich muß mich wundern, Anneliese, daß Sie den alten Weiberklatsch hier einer gebildeten Unterhaltung vorziehen! Dem Unwesen des allzuvertraulichen Verkehrs mit der Base werde ich überhaupt ein Ende machen. Sie hetzt Frau und Kind gegen mich auf, wie sie ehedem meine verstorbene Frau und den Neffen gegen mich aufgewiegelt hat. Das muß aufhören! Du packdt morgen Deine Siebensachen,“ wandte er sich an die alte Frau, die aufgesprungen war und in stummem Entsetzen die Hände ineinander schlang. „Kannst nach Langenwalde gehen und auf der Mühle wohnen, wie’s schon lange geplant ist für Deine alten Tage. Hier sollst Du jedenfalls nicht mehr Unheil anstiften!“

Damit verschnaufte er sich, putzte den Kneifer und sah uns beide eine Weile niederschmetternd an; dann wandte er sich, um zu gehen.

„Wollmeyer, was kommt Ihnen denn an?“ fragte mit zitternder Stimme die alte Base. „Wann habe ich jemals gegen Sie geredet? Ich habe geschwiegen, immer geschwiegen, das wissen Sie besser als jeder andere.“

„Ich brauche Dein Schweigen nicht!“ herrschte er, wieder zurückkommend, „verstehst Du?“

„Nun also,“ unterbrach ihn die Base, „wie kann ich denn da hetzen? Meintag hat man mir das nicht zur Last gelegt. Aber ich kann gehen, morgen kann ich gehen, will ich gehen. Sie haben ganz recht, Wollmeyer, ’s ist besser.“ Sie wischte sich mit dem Rücken der Hand über die Stirn und begann mit zitterudeu Fingern ihre paar armseligen Erinnerungen zusammenzupacken.

„Sagen Sie ’mal, Anneliese, hab’ ich Sie je aufgehetzt?“ fragte sie, in der Meinung, daß er das Zimmer verlassen habe.

„Wahrhaftig nicht!“ stieß ich hervor, kaum noch fähig, mich zu beherrschen. „Ich lasse mich überhaupt von niemand aufhetzen, ich thue, was ich für richtig halte.“ Und ich ballte die Hände und sah dem Mann mit funkelndem Haß in die Augen, der, im Gefühl seiner Ueberlegenheit die Achseln zuckend, zu mir herüberblickte.

„In fünf Minuten erwarte ich Sie oben; Brankwitz will vierhändig mit Ihnen spielen.“

Ich antwortete nicht.

Da rief die Base den Mann abermals von der Thür zurück.

„Wegen dem Brankwitz sind Sie böse, Wollmeyer? Ja, lieber Gott. und wenn ich jetzt vor den Geschworenen stände dort im Gerichtssaal, ich könnte doch nur wiederholen, was ich heute morgen zur Mutter von Anneliese gesagt, daß er nichts weiter ist als unserem Herrgott sein Tagedieb; daß er ebenso fleißig dabei ist, sein Geld zu verjubeln, wie sein Vater dabei war, es zusammenzuscharren, und daß seine Schwester kein Umgang ist für die gnädige Frau, von Anneliese ganz zu schweigen. Das sag’ ich nun noch einmal vor Anneliese, weil ich ja doch fort muß und weil ich gern möcht’, daß sie weiß, wie ich über den Besuch droben denke. Nun, und morgen werde ich zur rechten Zeit reisen, Wollmeyer, verlassen Sie sich darauf!“

Und sie ergriff meinen Arm. „Gehen Sie hübsch hinauf, Anneliese, Mama wartet. Brauchen keine Angst zu haben, gehen Sie – ich hab’ noch ein Wort mit ihm zu sprechen.“ Sie schob mich an dem Mann meiner Mutter vorüber, schloß die Thür hinter mir und blieb mit ihm allein.

Zitternd vor Aufregung lehnte ich mich an einen der Schränke, die im Nebenzimmer standen. Drinnen mußte ja gleich ein furchtbares Wetter ausbrechen! Mit Todesangst wartete ich, um der alten Frau zu Hilfe zu kommen, doch es blieb alles still, die Base sprach nur im gewöhnlichen Tonfall und gar nicht viel. Da raffte ich mich auf und ging nach oben. Dort saß ich neben Brankwitz und spielte rein mechanisch mit ihm, während verwirred, beängstigend die Ahnung einer rätselhaften dunklen Zukunft auf mich eindrang. Was mochte das alles bedeuten? Was sollte dieses geflissentliche Wiederholen des ungünstigen Urteils der Base über den Brankwitz vor meinen Ohren? Was hatte es heute früh gegeben zwischen Herrn Wollmeyer, der Base und meiner Mutter?

Wollmeyer kam herauf, klopfte mir auf die Schulter, sprach von mir als einer „kleinen Ausreißerin“, empfahl mir Frau Sellmann zum Vorbild, legte dieser die Zähmung des in Freiheit dressierten Töchterleins ans Herz und händigte der entzückten Komtesse ein gewichtiges Päckchen ein für ihre Weihnachtsbescherung. Wenn ein Fremder in dies behagliche Zimmer hätte schauen können, in dem elegante Frauen und Männer bei Mokka und türkischen Cigaretten plaudernd beisammen saßen und zarte bläuliche Wölkchen unter den roten Falten der zeltartigen Decke sich kräuselten, wer Mama gesehen hätte in dem Sessel, zu dessen Füßen ich mich auf ein Bänkchen niedergelassen hatte, wer die Worte des Hausherrn gehört hätte, der sie „liebste Helene“ und „Schätzchen“ anredete, der hätte gedacht: wie beneidenswert, wie glücklich sind alle diese Menschen!

Als ich abends hinunterkam, fand ich die Base zwischen Kisten und Schachteln eifrig ihre Sachen einpackend; das alte runzelvolle Gesicht sah eigentümlich verfallen aus. „Gute liebe Base!“ sagte ich mit feuchten Augen.

„Ich war fünfundzwanzig Jahre bei ihm in Leid und Freud’,“ antwortete sie, „und Leid ist’s zumeist gewesen. ’s kommt mir hart an. Aber er hat recht, freilich hat er recht.“

„Base, was soll ich anfangen ohne Sie?“ stotterte ich, denn ich schluckte an den aufsteigenden Thränen.

„Annelieseken, das müssen Sie nicht fragen,“ lehnte sie bescheiden und gerührt ab. „Sie haben die Mama, und Sie sind eine feine Dame, und ich bin so eine alte einfältige Person. Aber ’s freut mich doch, und ich habe Ihnen lieb, Annelieseken, sehr lieb, und wenn Sie ’mal auf der Gotteswelt nicht wissen wohin, dann kommen Sie zu mich; ’s ist gar nicht so weit. Und wenn Sie’s nicht übel nehmen wollen, hätt’ ich die Bitte, leben Sie ihm mehr zu Gefallen wie bisher, wegen der Mama; ’s ist ja ’mal nicht anders. Bloß wenn er – bloß mit dem Brankwitz, da bleiben [694] Sie man so bei, ’s würd’ ein Jammer und ein Elend! Nee, das dürfen Sie nicht thun!“

„Was geht mich denn der an!“ erwiderte ich.

„Nichts, gar nichts, gottlob und Dank! Bleiben Sie man so bei, Anneliese! Gelt, an Hannchens Grab gehen Sie auch ’mal, bringen ihr ’mal ein Kränzchen hin von dem Epheu draußen im Garten an der Mauer – sie hat ihn immer so gern gesehen. Na, und nun schlafen Sie, Anneliese; ich bin auch gleich so weit. Hab’ gar nicht gedacht, daß ich soviel Plunder aufgesammelt hätt’, hab’ doch immer nur das Nötigste angeschafft. Und schreiben thun Sie ’mal, nicht wahr? Ich antwort’ auch, aber schön schreiben, das hab’ ich nicht gelernt. Der Robert, der konnt’ schreiben wie gestochen, Anneliese. Ach, ich hab’ bloß noch zwei Wünsche auf dieser Welt, der eine, daß er möcht’ wiederkommen, so recht groß und stattlich und mit Ehren, und dann –“ Sie sah mich an und nickte ernsthaft. „Ja, ja, man kann’s nicht lassen, sich etwas Schönes auszudenken, und ’s wird doch niemals nicht wahr. Und ’s ist auch recht so, Gott weiß allein, was das Beste ist. Aber beten will ich drum jeden Abend, Anneliese.“

„Was ist’s denn, Base?“

„Ei, ich sag’s nicht, es wird ja doch nichts draus werden.“

Als ich in meinem Bette lag, kam sie noch einmal zu mir herüber und steckte mir etwas in die Hand. „Damit Sie mich nicht ganz vergessen, Anneliese!“

Ich fühlte, es war eine kleine gehenkelte Münze. „Gute Base, ich danke Ihnen vielmal. Ich vergesse Sie nicht, auch ohne dies nicht!“

Und endlich erlosch auch ihr Licht, aber wir fanden beide keinen Schlaf.

Auf einmal fuhr ich erschreckt empor. Droben, über mir in Mamas Zimmer, war etwas umgefallen; ein lauter, lang nachschütternder Krach rollte über die getäfelte Decke, und dann eine Stimme, eine scheltende polternde Männerstimme, die sich bis zum Wutschrei steigerte.

„Base! Base!“ jammerte ich. „Ach, meine Mama!“

Keine Antwort.

Droben war es ein paar Minuten still, dann abermals sein scheltendes drohendes Sprechen. Ich warf ein Kleid über und wollte hinauf in alles vergessender Angst; da was mich ein Lichtschein und die Base hielt mich zurück.

„Bleiben Sie hier, um Gotteswillen bleiben Sie, ich gehe schon hinauf.“ Und sie ging und im Schein des Lichtes sah ihr altes starres Gesicht schier unheimlich entschlossen aus. So verschwand sie hinter der Thür. Ich zählte die Sekunden, mein Herz pochte wie rasend. Er, er schalt meine Mutter, die nie ein rauhes Wort gehört! Seine Freundlichkeit, seine Anbetung war wie eine Maske plötzlich heruntergefallen, der wahre Charakter schaute hervor mit dem brutalen Gesicht, so wie ich stets gefürchtet, ihn zu sehen. O, lieber Gott, laß es nur einen Irrtum sein – alles, alles, nur das nicht!

Und nun wurde es still, ganz still. Hatte das die Base vermocht? Welch geheimnisvolle Macht besaß diese Frau über den Mann? Welche Furcht mochte sie ihm einflößen, daß er sich ihrer entledigen wollte? Ich schlich mich zitternd zurück in mein Bett und lauschte mit erhobenem Kopf, als könnte ich die Dunkelheit durchdringen. Wie lange die Base blieb! Und rings um mich tiefes Schweigen der Nacht, der Einsamkeit.

Morgen würde ich die alte Frau nicht mehr sehen, würde ich ganz allein und wehrlos sein, auch Mama. Diese scheue Frau, die ich heute verweint und angstvoll erblickt hatte wie nie im Leben, die kaum den Mut fand zu einer entschlossenen Antwort.

Da kam sie zurück, die Base, wunderlich anzuschauen in ihrer Nachthaube und dem Tuchmantel, den sie sich eilig umgehängt hatte. „Schlafen Sie doch, Anneliese,“ flüsterte sie, „’s war ja gar nichts, gar nichts.“

„O, Base, Base! Er hat gegen Mama getobt!“ rief ich jammernd.

„I, Gott bewahre, Kind, Gott bewahre! Es war der Friedrich, mit dem er gescholten hat, meiner Seel’, der Friedrich! Schlafen Sie nur, Mama schläft auch – und wachen Sie morgen fröhlich auf!“

Sie wagte zum ersten Male eine scheue Liebkosung, und da schlang ich aufschluchzend die Arme um ihren Hals. „Gehen Sie nicht, gehen Sie nicht fort!“

„Ei, darum dürfen Sie nicht weinen, Anneliese,“ sagte sie, schier aus der Fassung gebracht durch meinen Schmerz. „Schlafen Sie!“

Und rasch verließ sie mich, um nicht weich zu werden, und ich weinte mich in den Schlaf. Mir ahnte nicht, daß beim Erwachen mein Schutzengel schon weit weg sein würde, den Thüringer Bergen entgegen fahrend. In aller Morgenfrühe war die alte Frau gegangen, und Lebewohl hatte sie keinem gesagt.


„Na, nun wird Frieden werden,“ sagte mein Stiefvater behaglich beim ersten Frühstück, als er diese Nachricht empfing. „Lieber Otto, es giebt ein Sprichwort: ‚Wem der Teufel etwas anthun will, dem giebt er eine schöne Tochter,‘ aber das ist Unsinn, gelt, Anneliese? Ich sage, dem giebt er ein klatschmäuliges Weib ins Haus. Drei Kreuze vor der Alten, und auf Nimmerwiedersehen!“

Ich präsidierte auf Wunsch Mamas diesem Frühstück. Die Damen waren noch nicht erschienen, Mama lag Kopfschmerzen halber zu Bette, und Frau Sellmann hatte ihren Thee hinunter befohlen, weil sie gewohnt war, ihn im Bett zu trinken. Ich war unsant aus meinem kurzen Schlaf geklopft worden. Die Base sei fort, die gnädige Frau krank, ich möge mich ein wenig um den Frühstückstisch bekümmern.

Ich kann nicht sagen, wie öde, wie verlassen ich mich fühlte an diesem Morgen, wo mein alter Schutzengel nicht vor dem Ofen hockte, um für ihr „Annelieseken“ das Feuer anzuzünden, bei dessen Prasseln und Flackern es sich so schön im weichen Bette lag und träumen und denken ließ. Der Flammenschein huschte dann über Papas Bild und ließ das geliebte Gesicht wie lebend erscheinen; vor den Fenstern tanzten die Flocken, und ganze Scharen hungriger Spatzen, Meisen und sonstiger kleiner Vögel saßen auf dem verschneiten Blumenbrett und warteten auf das Futter, das ich ihnen hinzustreuen pflegte – aber erst, wenn die Base mich gefüttert hatte, als wäre ich ebenfalls so ein hungriger Piepmatz. Sie hatte immer allerhand Gutes für mich, frische Eier, ein Stückchen Pastete, delikate Mettwurst oder eine andere Herrlichkeit, die sie für mich aufsparte. Und der Frühstückstisch war immer so appetitlich hergerichtet, und die alte Frau sah so beglückt zu, wenn mir’s schmeckte. Sie hatte mich gesund gepflegt und nun war ich ganz verwaist. Niemand hatte daran gedacht, in meinem Zimmer zu heizen, niemand hatte mir den Thee gebracht und die gewärmten Pantöffelchen; gewiß, es ging auch so, aber es fror mich und es hungerte mich, nicht körperlich, sondern seelisch.

„Darf ich jetzt zu Mama gehen?“ fragte ich meinen Stiefvater, denn ich hatte es satt, die Blicke des Herrn Brankwitz zu ertragen, die er mir unausgesetzt zuwandte.

Wollmeyer, der eben die Zeitung las und unter dem riesigen Blatt unglaubliche Phrasen über Politik vernehmen ließ, in denen Bismarck, Windthorst, nationaler Gedanke und Sozialismus die Schlagwörter waren, ließ den Bogen einen Augenblick sinken und erklärte:

„Meinetwegen, und ich lasse bitten, daß Mama mir das Menü für heute durch Sie schickt.“

Das Menü – Speisezettel zu sagen, wäre nicht schick gewesen in seinen Augen – bildete einen Hauptgegenstand seiner Gedanken, seiner Gespräche und Thaten. Bisher hatte die Base es zusammengestellt und der Mama einfach vorgelegt, und mein gutes Mütterchen hatte immer Ja gesagt, denn die Base kannte die feine Zunge des Herrn Wollmeyer aufs genaueste. Sie hatte mir einmal die Entwicklung seines Geschmacks erzählt. „Zuerst war er froh, wenn wir Sonntags Thüringer Kartoffelklöße und Schweinebraten hatten, dann kam alle Tage Braten, Gänse- oder Tauben- oder Rinderbraten mit Salat, aber als wir fein wurden, da hatte er es plötzlich mit die Frikassees und Pasteten und mit die Austernsaucen. Na, das hab’ ich denn auch gelernt, weil ich mich so’n gewisses Kochtalent nicht absprechen kann, Anneliese.“

So hatte die Base in ihrem wunderlichen Deutsch gesprochen.

Ich fand Mama im dunklen Zimmer, das nach Baldriantropfen roch, stöhnend vor Kopfschmerz. Die Köchin, die neue, die in aller Eile angestellt worden war, stand mit einer Schiefertafel vor ihr. Es schien eine unangenehme schnippische Person zu sein, und Mama war krank und gar nicht gewöhnt, Menüs [695] zusammenzustellen. Ihr Lebtag hatte sie es nicht gebraucht, denn in unsern äußerst einfachen Verhältnissen war es selbst bei einem sogenannten Souper nicht über Karpfen und Hasen- oder Hühnerbraten hinausgegangen.

„Wünschen gnädige Frau vielleicht zuerst Hummersuppe? Hinterher Filet à la jadinière oder Schneehühner mit Sauerkraut in Champagner?“

„Ja, ja!“ stöhnte Mama.

„Aber dann, gnädige Frau?“

„Ach, ich weiß thatsächlich nicht!“ klagte sie.

„Muß es denn noch etwas sein?“ fragte ich. „Kochen Sie doch, was Sie wollen! Mama ist krank, sprechen Sie mit dem Herrn, gehen Sie, bitte, gehen Sie!“

„Vielleicht eine Fischmayonnaise vor dem Braten?“ fragte sie von der Thür her. „Gotte doch, mit wem soll ich denn reden?“

„Mit dem Herrn! Gehen Sie!“ rief ich empört, und sie ging endlich.

„O diese Qual, diese Qual!“ stöhnte Mama. Sie nahm das Tuch von ihrem heißen Gesicht und sah mich an mit roten dick verschwollenen Augen.

„Anneliese, liebe Anneliese, es thut mir weh für Dich – die Base, daß sie hat fort müssen!“

„Meine Herzensmutter, gräme Dich nicht. es geht auch so, es muß gehen ich habe ja Dich!“

„O, und das gesellige Leben wird Dich ein wenig abziehen, nicht wahr, Liebling? Du hast so eine trübe graue Jugend gehabt bis jetzt.“

„Ich?“ .fragte ich verwundert. Mir kam es vor, als sei sie jetzt erst grau geworden als sei sie früher eitel Gold und Himmelblau gewesen.

„Sei ein bißchen lustig, Anneliese, ein bißchen liebenswürdig gegen unsern Besuch! Ja? Du bist oft so spöttisch, es verletzt – nicht mich, ich kenne Dich ja, aber – Du weißt, was ich meine!“

„Sei gut, mein Mütterchen, ich will es versuchen, Deinetwegen! Ich ziehe meinen Mund ganz spitz wie unsere Schneiderin, weißt Du, und lerne flöten wie die dicke Frau Sellmann – bist Du zufrieden?“

Mama streichelte mich und murmelte etwas.

„Hast Du übrigens den Skandal mit Friedrich diese Nacht gehört, Mama?“ fragte ich, sie scharf ansehend.

„Hast Du etwas gehört?“ fuhr sie empor.

„Ja, etwas davon, aber ich war sehr müde.“

„Der Friedrich, er stieß im Dunkeln an einen Schrank – ja, ja,“ sagte sie, aber so stockend, daß ich genug wußte. Lieber Himmel, dachte ich, soweit war es schon!

Und in diesem Augenblick ward die Thür aufgerissen und die Stimme des Hausherrn, diese verhaßte Stimme, rief: „Bekümmert sich denn niemand um Olga Sellmann? Sie geht aus einem Zimmer ins andere. Anneliese, halten Sie sich für eine Ausfahrt bereit, ich habe leider keine Zeit, muß aufs Rathaus. Da ist eine Einladung zu Postdirektors gekommen für übermorgen – das Hochzeitsgeschenk für Lore Tollen muß weggegetragen, die Visitenkarte dazu geschrieben werden – ist es denn ganz unmöglich, Helene, daß Du aufstehst?“

Sie wolle es nachher versuchen und zu Tische werde sie jedenfalls kommen, erklärte sie, bei jeder neuen Silbe zusammenzuckend.

Ich ging auf einen Druck ihrer Hand, um mich für die Ausfahrt anzuziehen. Der „Selbstkutschierer“ mit dem übertrieben hohen Bock war herausgeschoben und der neue Traber wurde davorgespannt. Ich zerbrach mir den Kopf, wie das werden sollte, ob ich hinten auf dem Dienersitz Platz nehmen müsse oder Frau Sellmann? Denn daß Herr von Brankwitz fahren würde, unterlag doch keinem Zweifel.

Ich ging dann im Jackett und Pelzmützchen die Treppe wieder hinauf, um Frau Sellmann abzuholen – in dem alten lieben Pelzmützchen, zu dem ein von Papa selbst erlegter Marder sein Fell gegeben hatte und das am Rande schon ein wenig kahl geworden war, aber nur ganz wenig, und das ich so sehr liebte. Ich fand Frau Sellmann im Morgenrock – hochroter Plüsch – einen echten Fes auf dem Titianhaar, im türkischen Zelt eine Cigarette rauchend.

„Guten Morgen, liebe Kleine!“ rief sie mir entgegen. „Himmel, Herrgott, bin ich müde! Dieses Westenberg hat etwas furchtbar Einschläferndes, Chloral ist nichts dagegen!“

„Wollten Sie denn nicht mit ausfahren?“ fragte ich verwundert.

„Ja – vorhin, das heißt, ich sagte Ja, um den guten Wollmeyer loszuwerden mit seinen ewigen Anpreisungen der Westenberger Reize. Nein, ich danke Ihnen – ich fühle mich hier sehr behaglich!“

„Dann bleiben wir also hier?“ sagte ich.

„Sie? O nein, Otto würde ja einfach rasend! Nein, Sie müssen mit, hören Sie, Sie müssen, wenn Sie mich nicht moralisch zwingen wollen, mich über Hals und Kopf in Toilette zu stürzen und mir auf dem offenen Wagen einen großartigen Schnupfen zu holen.“

„Bitte sehr – selbstverständlich zwingt Sie niemand, sich einer Gefahr auszusetzen.“

Ich ging. Mamas wegen wagte ich nicht, zurückzubleiben.

Wollmeyer und Brankwitz standen vor dem Wagen und betrachteten das fesche Gespann, das Brankwitz von einem bekannten Sportsmann für Wollmeyer gekauft hatte. Ich stieg hinauf, unterstützt von meinem Stiefvater, von der andern Seite schwang sich Herr vom Brankwitz hinauf, er ergriff die Zügel und der schöne Rappe zog an.

„So warten Sie doch,“ rief ich, „Friedrich ist noch nicht oben!“

„Liegt Ihnen soviel an Friedrich?“ fragte er, ohne anzuhalten, „was soll denn der gute Mann? Wir fahren ja nicht in den Tiergarten von Berlin spazieren oder“ – er sah mich durch sein Monocle an – „fürchten Sie sich vor mir, gnädiges Fräulein?“

„Durchaus nicht.“

„Das freut mich.“

„O, keine Ursache dazu! Wenn ich mich vor einem Mann fürchtete, so wär’ es wenigstens –“ Ich brach ab, ich hatte sagen wollen: so wär’ es wenigstens für mich nicht so völlig gleichgültig, ob er neben mir sitzt oder nicht. – –

Wir jagten durch die Straßen der Stadt, daß die Kinder schreiend auseinanderstoben und die Leute die Fenster aufrissen, um uns nachzuschauen. Herr Otto von Brankwitz wollte sich mir gegenüber ganz entschieden als „schneidiger Sportsmann“ zeigen. Im Hui ging’s um die Straßenecken und mit ohrenbetäubendem Gerassel unter dem uralten Backsteinthor hindurch auf die Landstraße hinaus. Das Tier griff mächtig aus; einmal hätten wir beinahe einen Bauern überfahren, der neben seinem Torfwagen schritt, die Pfeife im Munde, schier schlafend, und die gröbsten märkischen Scheltworte flogen hinter uns her.

Aber in der nämlichen Gangart ging es weiter, bis dahin, wo die Landstraße in den Kiefernwald einbiegt, den Kiefernwald, den ich bisher so geliebt hatte und der mir heute zu einer Stätte unliebsamer Erinnerungen werden sollte. Herr von Brankwitz, der in seinem eleganten Pelz auf dem für ihn viel zu hohen Fahrsitz thronte – es sah geradezu beängstigend aus – ließ jetzt das Pferd in Schritt gehen und bemerkte, als Einleitung zu einer Unterhaltung: „’s ist eine gottverlassene Gegend, diese Westenberger.“

Und ich hatte gerade das Gegenteil gedacht; mir war das Herz aufgegangen, als ich die Kiefern sah, über die leichter flimmernder Schnee ausgestreut war. Dort am Saume des Grabens, der den Weg rechter Hand begrenzte, reckte eine riesenhafte uralte Eiche ihre hundert knorrigen Aeste blätterlos zum grauen Himmel empor, der niedrig und Schnee verkündend über der Landschaft hing. Ein Schwarm Krähen flog mit mißtönigem Geschrei empor, und in der leichten Schneedecke unter den Bäumen waren viele hundert kleine Fußspuren eingeprägt, als hätten die Hasen am frühen Morgen schon eine Versammlung abgehalten. Und über all dem der Kiefernduft, jener Duft, den ich niemals wieder so harzkräftig geatmet habe wie in Westenbergs „gottverlassener Gegend“.

Ich ließ ihn reden, es war ja so gleichgültig, lehnte mich zurück und atmete mit vollen Zügen.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 42, S. 709–714

[709] Nun fing Brankwitz gar an, von der Höhe seines Kutschersitzes herab zu renommieren – von seiner Reise, von Nizza, Cannes, Rom, Neapel, Palermo, Alexandrien. „Ja, der Süden, der berauschende Süden! Andere Menschen; temperamentvoller, anmutiger, schöner! Man begreift nicht, wie man im Norden leben konnte, wenn man einmal dort drunten war. Es ist auch kein Leben hier, nein – leben thut man nur dort. Möchten Sie es nicht kennenlernen, gnädiges Fräulein, Sie, die Sie aussehen, als hätte Ihre Wiege direkt am Golf von Neapel gestanden? Sie, die eigentlich Gemma oder Viktoria oder Beatrice heißen sollten anstatt Anneliese?“

„Es ist gewiß sehr schön dort,“ unterbrach ich ihn, „aber ich habe keine Sehnsucht danach, ebensowenig wie ich anders heißen möchte. Ich interessiere mich für den Norden mehr und würde, [710] wenn einmal gereist sein muß, Schweden und Norwegen diesem Italien bei weitem vorziehen“

„Man könnte ja das eine thun und das andere nicht lassen,“ flüsterte er und suchte, indem er sich zu mir herunterbog, einen Blick zu erhaschen.

„Ich habe weder Aussichten auf das eine, noch das andere und bin vorläufig mit dem melancholischen Reiz meiner lieben Mark völlig zufrieden,“ schloß ich ärgerlich. Die Tochter des preußische Offiziers regte sich in mir. „Die Mark ist meine Heimat, ist ein Teil meines Vaterlandes, dieses großen herrlichen Preußen, und wenn jemand sagt, er begreife nicht, wie er wieder in seinem Vaterlande leben könne, nachdem er fremde Schönheit geschaut, so thut er mir leid, denn er beweist mit diesem Ausspruch, daß er keine VaterlanDsliebe unb kein Heimatsgefühl besitzt. Er thäte Deutschland sicher einen Gefallen, wenn er fürder im Auslande leben wollte.“

Nun wird er dich wohl zufrieden lassen, dachte ich und setzte mich gerade, im Gefühl, ihm einen gründlichen Abfall bereitet zu haben.

„Sie sind hinreißend, Anneliese,“ klang es aber schon wieder an meinem Ohr, „wirklich bezaubernd in Ihrem jugendlichen Patriotismus. Ich stimme also mit ein in Ihren Ruf: es lebe Deutschland, es lebe Preußen, es lebe die Mark, die Wiege Preußens! Und noch mehr – ich glaube fast, ich würde diese Mark lieben können, wenn Sie –“ und wiederum bog er sich zu mir herunter, – „wenn man mit Ihnen –“

„Herr von Brankwitz, Sie sind ein miserabler Kutscher, wollen Sie umwerfen?“ rief ich, und im nämlichen Augenblick hatte ich in die Zügel gegriffen und das Tier links geleitet, wir wären sonst unfehlbar an eine Holzbeuge angefahren. „Ein Kutscher soll nicht nach rechts oder links sehen, sondern einfach vor sich auf den Weg,“ setzte ich verächtlich hinzu.

Er war verlegen, soweit ein Mann seines Schlages verlegen werden kann. „In Ihrer Nähe ist eine Unaufmerksamkeit zu entschuldigen,“ verteidigte er sich. „Ach, Sie glauben nicht, Anneliese –“

„Bitte, geben Sie mir doch einmal die Peitsche,“ bat ich. Ich nahm die lange Fahrpeitsche und hielt sie über den Rand des Wagens hinaus.

„Fahren Sie gern?“ flötete er.

„Versteh’ ich gar nicht.“

„Möchten Sie es lernen, Anneliese?“

„Nein!“

„Aber es ist ein herrliches Vergnügen, ein feuriges Tier selbst zu lenken, von ihm gezogen so dahin zu fliegen, so – so –“

„Sie sind wohl ein großer Fahrkünstler?“ fragte ich. „Na, da zeigen Sie doch ’mal, was Sie können!“ Und damit gab ich in meinem Aerger dem ruhig dahinschreitenden ahnungslosen Tier einen orbentlichen Hieb, daß es, rasend ausschlagend, in einen heftigen Galopp verfiel, der zweifellos Aehnlichkeit mit einem richtigen Durchgehen hatte und den leichten Wagen im Sturm mit sich fortriß, so daß er jeden Augenblick umzustürzen drohte. Und Brankwitz, der von dem heftigen Anspringen des Tieres fast vom Wagen geschleudert war, hatte Mühe und Not, den feurigen Ausreißer wieder zu kriegen; oder vielmehr, er kriegte ihn gar nicht, sondern das wohlerzogene schöne Pferd besann sich nach einigen Minuten eines Besseren und fiel in eine ruhigere Gangart.

„Aber, ich bitte Sie,“ keuchte er endlich, „wie konnten Sie – – das hätte fast ein Unglück gegeben auf diesem schlechten Wege! Sie sind eine schneidige kleine Dame, Anneliese, aber Sie spielen mit der Gefahr. Ich schösse mir eine Kugel vor den Kopf, wenn Sie, Anneliese –“

„O, ich werde noch ganz anderes thun, sobald Sie wagen, mich noch einmal Anneliese zu nennen, Herr von Brankwitz. Ich bin kein Kind mehr, merken Sie sich das! Sie sind mir gänzlich fremd und werden es immer bleiben, also bitte!“

Er biß sich auf die Lippen, und als wir bald darauf einen Feldweg erreichten, der auf Westenberg zuführte, lenkte er dort hinein, ohne ein Wort weiter zu reden. Stumm hielten wir nach einer Weile vor unserer Thür, und ohne seine dargebotene Hand anzunehmen, sprang ich vom Wagen und suchte meine Stube auf.

Ach, wäre die Base noch da! Wie kalt, wie öde war es, obgleich man geheizt hatte und obgleich ich sah, daß Mama hier gewesen. Sie hatte mir ein Briefchen auf den Tisch gelegt, es lautete:

„Beckers haben Frau Sellmann und Brankwitz noch in aller Eile zu der Hochzeit geladen. Du sollst mit den Herrschaften heute nachmittag bei Beckers und Tollens Besuch machen, richte Dich danach mit dem Anzug!“

Ich kam zu Tische mit der kecken Sorglosigkeit, die ich von Papa ererbt hatte unb wie sie Leuten eigen ist mit gutem Gewissen und furchtlosem Herzen, schon deshalb furchtlos, weil es die Gemeinheit der lieben Mitmenschen noch nicht begriffen hat, nicht ahnt. Den bist du los, hatte ich mir gesagt, und in dieser Ueberzeugung benahm ich mich den Geschwistern gegenüber unbefangen wie sonst, und da ich heute früh hervorragend unartig gegen Brankwitz gewesen war, so ließ ich das Essen vorübergehen, ohne ihm mit einer neuen Abweisung zu dienen, schon Mamas wegen. Leider verstand er das ganz falsch, wie ich bald darauf zu bemerken Gelegenheit hatte. Um vier Uhr nämlich mußte ich mit den Geschwistern zu den Besuchen. Frau Sellmann hatte ein halbes Dutzend Depeschen fortgeschickt, wegen ihrer Toilette, wegen Geschenken und Gott weiß, wegen was noch. Sie hatte sich entschieden vorgenommen, Westenberg zu imponieren. Jetzt schritt sie, auf hohen französischen Absätzen balancierend, über unser halsbrecherisches Pflaster, und das schwarze nach neuester Mode gefertigte Sammetkleid, der gleichfalls schwarze federgeschmückte riesige Rembrandthut, unter dem das goldblonde Titianhaar und das rosig weiße Gesicht wirkungsvoll zur Geltung kamen, sie machteu berechtigtes Aufsehen, wenigstens bei Frau Becker, die uns mit einem furchtbaren Wortschwall empfing.

Sie hätte sich nicht versagen können, einen so lieben Freund von Adalbert einzuladen, und überdem, an liebenswürdigen jungen Männern und an schönen Damen sei in einer kleinen Stadt ja immer Mangel, und sie danke Gott von Herzen, daß er zwei so reizende Menschen hergesandt. „Und wie geht’s Ihnen denn, Fräulein von Sternberg? Haben Sie sich mit Käthe Tollen verabredet wegen der Toilette? In New York haben sämtliche Brautjungfern gleiche Toilette, das sieht so reizend aus. Ich bedauere so ganz von Herzen, daß wir nicht das Vergnügen haben dürfen, Herrn Stadtrat Wollmeyer und seine junge Frau hier zu sehen, aber – wir haben gegenseitig nie Besuche gemacht. Nun, die Kinder müssen nachholen, was die Eltern versäumten! Sie wollen recht gesellig leben, die Zwei! Und Sie, Fräulein von Sternberg, haben sich unter den Schutz der Komtesse gestellt? Reizende Dame! Kennen Sie die Komtesse, Frau Sellmann? Ich habe nicht zuviel gesagt, nicht wahr? Sie wollen schon aufbrechen? Ah, Sie wollen auch bei Tollens einen Besuch machen – grüßen Sie mein Töchterchen von mir!“ Mir wirbelte der Kopf. Eine furchtbare Frau! Und ich fragte mich im stillen, warum Beckers eigentlich nicht mit meinem Stiefvater Verkehr gesucht hatten. Wäre ich weltkluger gewesen, so hätte ich natürlich herausgefunden, daß die übergroße Gleichheit der Gesinnungen sie gegenseitig abstieß – die Emporkömmlinge hatten sich erkannt! Ich war nur eingeladen worden als Freundin der Tollenschen Mädchen, als Brautjungfer, und Lores wegen ging ich hin, obgleich es mir widerstrebte, einer Hochzeit beizuwohnen, die in meinen Augen fast ebenso traurig war wie die meiner Mutter.

Bei Tollens wurden wir nicht angenommen; es herrschte in dem kleinen Hause eine wahre Grabesstille, nichts deutete auf den Vorabend eines solchen Festes. Nun bestand Frau Sellmann darauf, auch noch zur Komtesse zu gehe, die ich eigentlich allein besuchen wollte, und da ich die Geschwister nicht abschütteln konnte, so kamen wir zu Dreien in das Heim der alten Dame. Sie war zu Hause, saß auf ihrem Fenstertritt und heftete sich uralte Spitze auf ein uraltes graues seidenes Kleid, das sie morgen der Lore zu Ehren tragen wollte. Auch sie nahm nur Tollens wegen teil an der Feier.

„Freut nach sehr!“ begrüßte sie uns. „Nehmen Sie Platz, meine Herrschaften! Anneliese, heb’ die Schleife auf! Verzeihen Sie, ’s ist meine Wohnstube; das bessere Zimmer lasse ich für gewöhnlich nicht heizen.“ Ueber das volle Antlitz der Frau Sellmann huschte ein spöttisch mitleidiges Lächeln. Die Komtesse bemerkte es und sagte: „Ja, das versteht man heutzutage nicht mehr, meine liebe Frau Sellmann. Sie lassen wahrscheinlich täglich Ihre sämtlichen Zimmer erwärmen und die der Dienerschaft dazu. Wir von damals kennen noch nicht das Jagen nach Ueberfeinerung; zu meiner Zeit lebte die ganze Familie in einer Stube, natürlich den Hausherrn ausgenommen. Da saßen wir bei drei dünnen Kerzen und machten die feinsten Arbeiten, oder besserten Wäsche aus, und das war überall so, in unseren Kreisen wenigstens. Mein Vater war Minister, meine liebe Frau Sellmann,“ setzte sie hinzu, „und wir sind bei unserer Lebensweise gesund und froh gewesen. Sie lächeln? Glauben Sie, es sei mir deshalb eine Perle aus der Krone gefallen? Dem heutigen Protzentum gegenüber bleibt uns kein anderes Mittel der Unterscheidung als unsere alte Einfachheit„ in der [711] der vornehmste Mann des Reiches, der vornehmste auch der Gesinnung nach, unser teurer alter Kaiser, ein so leuchtendes Beispiel giebt.“

„Aber das geistige Leben kam doch wohl etwas zu kurz, Komtesse, bei den Talglichtern und der Stopferei?“ entgegnete Frau Sellmann.

„In der Zeit, wo ein Goethe lebte, das geistige Leben zu kurz gekommen? Ich kenne kein Geschlecht, in dem die Frauen thätiger daran Anteil genommen hätten!“

„Aber es war alles so gräßlich sentimental und überschwenglich,“ erklärte die junge Frau.

„Französische Sittenstücke waren es freilich nicht, die wir lasen, das stimmt,“ sagte die Komtesse trocken, „gegenwärtig ist der Geschmack anders. Welcher der bessere ist – das steht dahin. Die Welt kämpft sich durch alle möglichen Veränderungen. Aus unglücklicher Liebe vertrauert kein Mädchen mehr sein Leben heutzutage, sie tröstet sich und heiratet einen reichen Mann, ohne an gebrochenem Herzen zu sterben. Ich weiß nicht, was ich vorziehen würde – –“

Und nun kam das für mich sehr peinliche Gespräch in andere Bahnen, man wechselte ein paar Gemeinplätze, und endlich sagte die Komtesse: „Apropos, wo in aller Welt brannte es denn heute mittag, Herr von Brankwitz? Sie sind ja mit der Anneliese wie ein Wetter hier durch die Straßen gefahren!“

„Ach, haben das die Komtesse auch bemerkt? Ich wollte nach Damnitz – ich wollte – –“

„Nach Damnitz?“ fragte ich, „davon haben Sie ja kein Wort gesagt.“

„Eh, ich durfte ja überhaupt nichts sagen. Das gnädige Fräulein war in einer sehr wenig zugänglichen Laune, Komtesse, und somit kam ich unverrichteter Sache nach Hause.“

„Wollen Sie etwa Damnitz kaufen?“ fragte die alte Dame.

„Nun, Onkel Wollmeyer wenigstens wünscht es sehr,“ antwortete er, „wir sahen uns das Gut schon im Herbst einmal an. Na, man braucht ja schließlich dort nicht ewig zu kleben, man hat seine Wohnung noch in Berlin oder sonstwo in einer großen Stadt, wenn man einen ordentlichen Inspektor hat, geht es ja. Ich wollte das Schloß heute früh Fräulein Anneliese – pardon – Fräulein von Sternberg zeigen, man hört doch gern – hm – das Urteil einer Dame. Für das Interieur – Sie verstehen, Gräfin – sind Frauenaugen maßgebend. Aber, wie gesagt, man war sehr ungnädiger Laune, und ich ziehe vor, eine bessere Stimmung abzuwarten.“

Die Komtesse hatte den Kopf gewandt und sah mich groß und erstaunt an. Ich wurde dunkelrot unter diesem Blick.

„Mich interessiert das Schloß Damnitz nicht ein bißchen, und für Interieurs habe ich gar kein Verständnis,“ sagte ich.

„Du bist ja sehr streitbar, Anneliese,“ lächelte die Komtesse.

„Sehr!“ stimmte Brankwitz bei und strich den blonden Bart, „aber das liebe ich, da giebt’s niemals Langeweile.“

Frau Sellmann unterbrach dieses Gespräch, indem sie die Komtesse mit schüchterner Miene und in sanftem Flötenton bat, auch sie auf der morgenden Hochzeit als zweites Töchterchen unter ihren Schutz nehmen zu wollen.

Die alte Dame lachte auf. „Nanu, meine Beste! Ich dächte, als Frau und – ich glaube doch, Sie werden ohne meinen Schutz fertig werden! Anneliese und ich bleiben auch nicht etwa bis zum Kehraus, wir verschwinden beim Nachtisch, gelt, mein Kücken?“

„O, das wäre grausam!“ rief Herr von Brankwitz. „Sie müssen länger bleiben, und überdies – Fräulein Anneliese steht auch noch unter unserem Schutz, selbstverständlich!“

Ich nickte der Komtesse zu. „Ich gehe mit Dir, Tante.“

Danach ließ die alte Dame eine Pause eintreten, die sehr deutlich sagte: Ihr könnt Euch nun empfehlen und nachdem man eine Weile stumm dagesessen hatte, begriff Frau Sellmann endlich und stand auf. „Auf Wiedersehen morgen, Komtesse!“

„Auf Wiedersehen!“ sagte diese, küßte mich auf die Stirn, und ich erzählte ihr noch mit fliegenden Worten und feuchten Augen, daß die Base fort sei.

„Komm zu mir, so oft Du willst, mein Kücken,“ erwiderte sie und klopfte mich auf die Schulter.


Lores Hochzeitstag kam und endete sehr traurig; den alten Major von Tollen rührte der Schlag. Just als die Komtesse und ich die Treppe hinunterschritten, um heim zu gehen, hörten wir Thüren zuschlagen und angstvolle Ausrufe, und die alte Dame kehrte auf der Stelle wieder um, der Frau von Tollen ihre Hilfe anzubieten. Ich stand einen Augenblick überlegend auf der windigen verschneiten Straße, aber schließlich – warum sollte ich denn nicht allein heimgehen? Ich war so froh, aus diesem Trubel fortzukommen, zudem hatte mich der Anblick der blassen Braut aufs tiefste bewegt, und anderseits – ich zitterte bei jeder neuen Liebenswürdigkeit des Herrn von Brankwitz; fortgesetzter Kampf macht müde.

So nahm ich denn, so gut es ging, die Robe zusammen, die ich schon auf Mamas Hochzeit getragen, und wanderte durch die Straßen. Im Hause des Doktor Schönberg war kein Licht, es lag so finster da unter den hohen Bäumen, als berge es einen Toten, und ich glaubte auch zu wissen, wen. Es war ein großes, großes Glück dort gestorben.

Arme Lore! Falsche Lore! Wie konnte sie – ja wie konnte sie! Wenn Gründe plötzlich menschliche Gestalt annehmen könnten, welches Brautgeleite würde da manches Mädchen, manche Frau haben? Welches zum Beispiel hätte Mama gehabt? Ein bleiches elendes Weib wäre ihr zur Seite geschritten – die Not. Bei wie wenigen folgt die schöne blühende rosenbekränzte Liebe! Bei Lore von Tollen war es auch nicht die Liebe, sie hätte anders ausgesehen sonst – nicht so starr und bleich; Genußsucht und Selbstsucht, diese beiden häßlichen Zwillingsschwestern, hatten sie sicher auch nicht dem unangenehmen Menschen zugeführt – vielleicht war es die Not auch hier! Die Komtesse hatte bei Tische so liebevoll mit Lores Vater gesprochen und hatte ein paarmal den Lieutenant von Tollen mit sehr mißliebigen Blicken gestreift, den jüngsten Bruder der Braut, der von ihr als Tollenscher „Familienwindhund“ bezeichnet wurde. Ja, wer weiß, wer weiß, welche Mittel das Schicksal hat, ein armes Menschenkind zu zwingen, den Weg zu gehen, den es nicht gehen will!

Ich war während dieser traurigen Gedanken rasch vorwärts geschritten und in die Kirchgasse eingebogen, die zwischen der Mauer des Schloßgartens und der Marienkirche hinführt und eng, dunkel und menschenleer ist; sie kürzte aber meinen Weg bedeutend ab, und ich fürchtete mich nicht. Plötzlich hörte ich Tritte hinter mir, eilige Tritte, mehr ein Laufen und dann rief eine fast atemlose Stimme: „Aber, mein gnädiges Fräulein, wie können Sie – – weshalb denn nur? Sie dürfen nicht allein gehen!“

Unwillkürlich schritt ich rascher aus, aber natürlich holte Brankwitz mich ein, und dicht an meiner Seite gehend, versuchte er, meinen Arm in den seinen zu ziehen, was ich energisch verhinderte. Da hielt er mich, gerade an der dunkelsten Stelle des Gäßchens, am Mantel fest, und sein Gesicht so dicht zu dem meinen beugend, daß ich seinen heißen Atem spürte, fragte er fast tonlos: „Anneliese, meine wilde süße Anneliese, warum quälen Sie mich so – warum?“

„Herr von Brankwitz!“ sagte ich laut und riß an dem Mantel, doch ohne Erfolg.

„Schenken Sie mir ein paar Minuten!“ bat er flehend. „Sie müssen es ja wissen, Sie müssen es ja fühlen, wie lieb ich Sie habe, Anneliese! Sie dürfen mir nicht alle Hoffnung rauben. Können Sie mich denn nicht ein bißchen, ein ganz klein wenig wiederlieben? O ich will damit zufrieden, will selig sein!“

„Ich Sie lieben? – Lassen Sie den Mantel los! Niemals kann ich das, also sprechen wir nicht mehr darüber. Ich mag solche alberne Späße nicht, Sie vergessen, wen Sie vor sich haben!“

Dabei strebte ich so rasch als möglich vorwärts, denn ich zitterte vor Angst, ich glaubte, er sei berauscht und könne noch zudringlicher werden.

„Aber ich begreife nicht, wie können Sie nur von Spaß reden? Sie thun mir weh, Anneliese!“

In diesem Augenblick hatte ich das Hofthor erreicht, öffnete die kleine Pforte desselben, da die großen Flügel schon geschlossen waren und schlüpfte hindurch. „Bekümmern Sie sich doch lieber um Ihre Schwester!“ rief ich ihm zu. „Sie ist in dem Wirrwarr zurückgeblieben, ein Wagen ist nicht dort – wie soll sie heimkommen?“ Damit lief ich über den Hof, und einmal im Hause, war ich auch bald an meiner Thür. Ich fühlte mich, als ich in dem finsteren Raume stand, hochaufatmend, die Hand auf die Brust gepreßt, so sicher wie ein Wild, das müde gehetzt endlich einen sicheren Schlupf gefunden vor der suchenden Meute.

Langsam ging ich von der einen Thüre zur andern und drehte die Schlüssel herum, dann schlug ich die schweren eichenen Läden zu, die im Innern des Zimmers angebracht waren, und nun erst überließ ich mich der Empörung über diese zudringliche Werbung. Ich hockte auf dem Fenstertritt und wußte nicht, was beginnen. Eine lange Zeit überlegte ich, mit Mühe meine aufgeregten Sinne [712] zusammenhaltend. Sollte ich Mama alles sagen? Aber hatte sie denn noch einen Willen? Ich bezweifelte es. Alles, was ich von ihrem Leben seit der Verheiratung mit Wollmeyer wußte, war eine völlige Unterordnung unter seinen Willen, ein rückhaltloses Anerkennen seiner Meinung. Wenn ich nur gewußt hätte, wie Wollmeyer über diese Werbung dachte! War er auf Seite des Neffen, dann standen mir noch harte Qualen bevor, unausgesetzter Kampf. Aber kämpfen werde ich, Papa! sagte ich und nickte dem Bilde zu, das im trüben Schein einer einzigen Kerze zu mir herniederblickte. Lieber tot als die Frau von solch albernem nichtssagenden Menschen sein, von einem, der, wie die Base behauptete, dem Herrgott seine Tage stiehlt, dessen einziges Lebensereignis von Bedeutung war, daß er seines Vaters Geld geerbt hatte. Nicht einmal in den Krieg war er mitgegangen, hübsch daheim hatte er gesessen hinterm Ofen während Papa und alle die vielen braven Männer da draußen sich die Kugeln um die Köpfe sausen ließen. Und der wollte Anneliese Sternberg heiraten! So einer, der selig sein wollte, wenn er nur „ein bißchen“ wiedergeliebt ward! Auch ein Standpunkt! Der wollte ein richtiger Mann sein! Ein richtiger Mann würde sagen „Lieben Sie mich, Anneliese, lieben Sie mich mit Ihrer ganzen Seele, mit jeder Faser Ihres Herzens oder – bleiben Sie mir gewogen! Für so ein bißchen danke ich! Ganz oder gar nicht, wie unser Wappenspruch heißt!“

Während dieses Selbstgesprächs hatte ich mein seidenes Festgewand abgestreift und ein dunkles Hauskleid angezogen; nach einem Blick auf die Uhr schickte ich mich an, Mama Guten Abend zu wünschen. Die mit dunkelrotem Smyrnastoff belegte Treppe in dem runden Turm mit den schiefen Fensterchen wand sich mehrfach, ich konnte also nicht sehen, daß vor mir Menschen waren, der Teppich dämpfte auch ihre Schritte völlig, ich hörte nur plötzlich die Stimme Olga Sellmanns. Sie sprach ganz unbekümmert und laut: „Der Plan ist ja recht hübsch, mein Ottochen, und gewiß auch recht praktisch, nur fängst Du die Sache gänzlich verkehrt an. Geh’ doch einfach zu Wollmeyer und halte an! Du spielst ja eine greulich unglückliche Rolle als Schmachtlappen!“

„Ach, der Onkel weiß ja alles,“ antwortete verdrießlich mein Anbeter. „Aber, siehst Du, Olga, die Frau Mama – sie hat erklärt, zu einer Heirat zwinge sie Anneliese nicht, ihr Herz solle wählen, na, und bis jetzt scheint es –“

„Ach, diese Frau, diese Null!“ sagte sie spöttisch, „Du mußt nur dem Wollmeyer Ernst zeigen.“

„Die Frau hat mehr Einfluß, als Du denkst, Olga; sie ist eine kluge taktvolle Frau.“

„Nun, in diesem Fall wird ja Dein altes Mittel auch helfen. Hol’ nur den Butzemann hervor – vor dem grault er sich ja so furchtbar! Nur nicht zaghaft! Als Schwiegersohn hast Du dann immer eine ganz andere Stellung! Denke, wenn Anneliese anderweitig heiratete – es wäre doch in mehr als einer Beziehung unangenehm, um nicht zu sagen schlimm.“

„Das leid’ ich nicht!“ rief er mit einem Ton, der mir das Herz auf einmal wie rasend pochen ließ, „dann – dann, Olga –“

„Pst! Schrei’ doch nicht so! Wenn das jemand hörte, das gäbe eine nette Skandalgeschichte. Na, mach’, was Du willst, mein Junge,“ setzte sie hinzu, „ich mische mich nicht drein; schmachte weiter oder – brauche Ernst!“

„Du könntest mir in betreff der Kleinen wohl ein wenig helfen, Olga,“ schmollte er.

„Nein!“ antwortete sie kurz. „Irgend so einen sentimentalen Backfisch gewöhnlichen Schlages, den hätt’ ich auf mich genommen; man giebt ihm ein paar französische Romane, erzählt ihm irgend etwas Großartiges, Romantisches von Dir, und die Liebe ist da! Aber der kleine schwarze Irrwisch, der guckt einem mit seinen großen dunklen Augen gleich bis auf den Grund der Seele; mir sind diese Augen ordentlich unheimlich. Außerdem – sie ist sehr skeptisch veranlagt und hat Logik, so jung sie ist, und dabei steht sie hoch auf dem Schild ihrer Ahnen, konservativ von der Fußspitze bis zu ihrem dunklen Wuschelkopf! Die fängst Du nicht mit der Aussicht auf stilvolle Equipagen, auf Ballrobeu und Badereisen, Du mußt das anders anfangen, Kleiner. Mir aber ist die Sache zu uninteressant und zu mühsam, ich sehne mich nach Berlin zurück. Doch nun komm, unser liebenswürdiger Wirt kann es sicher nicht erwarten, die Beschreibung der Hochzeit zu hören. Ich bin überzeugt, Deine Zigeunerin ist schon oben.“

Er antwortete nicht. Ich hörte das Rauschen von Frauenkleidern, dann ging die Thür und es war still.

Wie betäubt stand ich an der Biegung der Treppe, den Kopf an die Wand gelehnt, mit beiden Händen mich am Geländer haltend. Es war von mir die Rede gewesen und ich hatte gehorcht – etwas, das ich verabscheute gleich der Lüge. Und ich war doch nicht gegangen, meine Glieder hatten mir einfach den Gehorsam versagt, in meinem Kopf war in den paar Minuten kein Wille gewesen. Und nun wußte ich – nein – wußte ich doch nicht alles. Was sollte seine Drohung bedeuten? Womit wollte er mich zwingen, womit Wollmeyer? Was war da verborgen, das, an die Oeffentlichkeit gezogen, eine Skandalgeschichte werden mußte?

Wenn ich doch Mama sprechen könnte!

„Ach, da sind Sie ja, gnädiges Fräulein,“ sagte in diesem Augenblick das Stubenmädchen, das die Treppe herabgehuscht kam. „Sie möchten den Thee einschenken, läßt gnä’ Frau bitten.“

Ich fand sie alle im Salon. Ein Serviertischchen war hereingebracht mit Tassen und dem silbernen Kessel, unter dem die zartblaue Spiritusflamme brannte. Einige rot verschleierte Lampen gaben dem schönen Raum ein trauliches zum Plaudern geschaffenes Dämmerlicht. Mama saß in einem tiefen Sessel, ihr gegenüber im vollsten Erzählen Frau Sellmann, die ihre kostbare blaßgrüne Brokatrobe mit einem hellen Hauskleid vertauscht hatte. Mein Stiefvater stand, auf den Fußspitzen wippend, die Daumen in den Aermellöchern seiner Weste, den Klemmer auf der Nase, vor Otto Brankwitz, der ein ziemlich mürrisches Gesicht machte. „Wir müssen alle sterben,“ bemerkte er eben philosophisch; und das war das Ganze, was er über den jähen Tod des alten Herrn von Tollen redete. „War ein wunderlicher Heiliger, meine liebe Frau Olga,“ setzte er dann hinzu. „wie es so alte Soldaten werden, die auf den Rest ihrer Tage in knappem Futter stehen. Er biß um sich wie ein verdrießlicher alter Kettenhund, und wenn er nicht biß, so knurrte er.“

„Er war ein Ehrenmann durch und durch,“ sprach Mama warm. „Es liegt für mich etwas Erhebendes in solchem einfachen pflichttreuen Leben. Gehorsam, Genügsamkeit und Treue bis zum Tode! Ich bin fest überzeugt, wäre jetzt ein neuer Krieg ausgebrochen, der alte Mann hätte seinen Waffenrock über der eingesunkenen Brust zugeknöpft und hätte gesprochen: ,Hier bin ich, Majestät, was kann ich noch helfen mit meinen müden Gliedern?‘“

„Ja, Mama!“ rief ich, „und darum ist unser Vaterland so groß geworden, darum haben wir unsere Feinde schlagen können!“

Frau Sellmann lächelte. „Wie schade, daß Sie ein Mädchen sind!“

„Das hat Papa auch immer gesagt,“ antwortete ich.

„Sie wären gewiß Offizier geworden!“

„Ich weiß nicht, ob Berufsoffizier; im Blute steckt mir’s ja. Jedenfalls aber wäre ich irgend etwas geworden, und das mit Einsatz aller meiner Kräfte. Es muß schrecklich sein für einen Mann, ohne Beruf, ohne Beschäftigung dahin zu leben!“

„Sie gehen am Ende noch unter die Emancipierten?“

„Ich sehe nicht ein, warum ich als Mädchen zusehen muß, wie alles um mich her arbeitet, strebt, schafft –“

„Was möchten Sie denn werden?“ fragte die schöne Frau lächelnd und spielte mit der Schleife ihres Kleides.

„Irgend etwas, wobei man sich rühren muß, wobei einem die frische Luft um die Ohren weht; nur nicht in der Stube sitzen über Büchern, nur nicht als Lehrerin – –“

„Wie schade, daß wir kein Amazonenkorps haben!“ fiel Herr von Brankwitz ironisch ein, „das wäre so etwas: Uebungsmärsche, Felddienst, hin und wieder ein kleines Biwak – kurz, das Vaterland verteidigen mit Zunge und Schwert. Die Schneid’ wäre ja da.“

Herr Wollmeyer fand darin einen ausgezeichneten Witz, er lachte übermäßig laut. „Ich will Ihnen etwas sagen, mein Töchting,“ rief er und ließ seine Hand schwer auf meine Schulter fallen, „heiraten Sie einen Gutsbesitzer, da haben Sie frische Luft die Hülle und Fülle, können auf die Felder fahren, den Erntestand betrachten, können reiten, auf die Jagd gehen, und Tinte, Bücher und Gelehrsamkeit brauchen Ihnen nicht in die Quere zu kommen, wenn Sie nicht wollen!“

Ich antwortete nicht gleich, denn ich hatte sein Blinzeln zu Brankwitz hinüber gesehen. „Ich heirate nicht,“ antwortete ich kurz.

„Ja, das sagen sie alle!“ lachte er und rieb sich die Hände, „und wenn dann einer kommt, wenn überhaupt erst ’mal einer ein Wörtchen von Ring und Ehe spricht, dann sind sie alle dabei, alle, eine wie die andere. Was sagst Du dazu, Helene? Sieht sie aus wie ledigbleiben, wie Körbe geben? Ha! ha!“

„Aber wirklich, Bernhard,“ unterbrach ihn Mama, der meine [714] eiskalte Miene auffallen mochte, „sie denkt nicht an dergleichen – schone sie doch!“

„Na, wenn man achtzehn Jahre alt ist, kann man den Gedanken schon ins Auge fassen. Was meinen Sie dazu, Olga? Heutzutage, wo die Mädels so wohlfeil sind wie Heidelbeeren – denken Sie doch, meine Damen, es giebt in Deutschland nahezu eine Million Frauen mehr als Männer – da sollte doch jede froh sein, wenn einer kommt und – – Sie nehmen es doch nicht übel, Olga? Natürlich, es giebt immer Ausnahmen, es giebt Frauen, denen trotz der Minorität der Männer zwanzig auf einmal zu Füßen liegen. Ich hab’ Ihre Erfolge nicht vergessen; ich meine nur, wenn man so ein kleines unbedeutendes Käferchen, so ein Fräuleinchen von Habenichts ist und es bietet sich da – es wäre einfach eine Vermessenheit, Nein zu sagen. So ’was wird auch nicht passieren, wird nicht passieren, Helene, kann’s gar nicht!“

„Wenn das Fräulein von Habenichts seine gesunden fünf Sinne hat und überhaupt sich bewußt ist, keine Handelsware zu sein, sondern ein selbständig denkendes Geschöpf, kann’s doch passieren,“ sagte ich keck, „und ist sogar schon passiert im Laufe der Zeit.“ Mit diesen Worten beendete ich siegreich – wie ich meinte – das Wortgeplänkel, und das Gespräch kam in andere Bahnen, bis man sich nicht allzuspät trennte. Ich war froh, endlich allein zu sein.

Ein paar Minuten später klopfte es an meine Thür. „Mama, Du?“ fragte ich erstaunt.

„Nein, ich!“ rief Wollmeyers Stimme, „öffnen Sie, ich habe mit Ihnen zu reden.“

Er trat ein, sichtlich aufgeregt. „Erlauben Sie, daß ich mich setze,“ begann er und zog einen Stuhl zu dem Tisch, den ich mir an den Ofen geschoben hatte, um in dessen behaglicher Nähe an die Base zu schreiben. Dann eine Pause; einigemal setzte er zum Sprechen an und verstummte wieder. Ich hatte mich soviel als thunlich in den Lehnstuhl zurückgelegt, um möglichst viel Raum zwischen ihm und mir zu schaffen. Was ums Himmels willen sollte nun kommen?

„Ich mache mir gar keine Illusionen über Ihre Gefühle gegen mich,“ begann er endlich. „Sie lieben mich nicht, und ich, ich hätte eigentlich auch keinerlei Grund, mich zu Ihnen hingezogen zu fühlen. Aber trotzdem – die herzliche Zuneigung für Sie ist nun einmal da seit jenen Tagen, da Sie in kurzem Röckchen zu Hannchens Füßen mit den Puppen meines verstorbenen Töchterchens spielten.“

Was nun? Dachte ich befremdet.

„Ja, ja, so ist’s, liebes Kind,“ fuhr er fort. „Ich habe Sie väterlich lieb, und Sie – vermeiden mich, wo Sie können, und thun mir bei jeder Gelegenheit weh. Aber in einem Punkt, meine ich, werden wir uns doch finden, und das ist in der Liebe zu Ihrer Mutter. Diese Mutter beherrscht der einzige Gedanke: wie wird sich die Zukunft meiner Tochter gestalten? Sie verzehrt sich in Gram und Kummer darüber, sie weiß so gut wie Sie und ich, daß Sie nicht gerade die Allerstärkste an Gesundheit, daß Sie ganz arm sind und außerdem einen Charakter besitzen, der Sie wahrlich nicht befähigt, auf eigenen Füßen durchs Leben zu gehen. Sie sind eine stolze kleine Dame, meine gute Anneliese; ich gebe ja zu, daß Ihr Name recht wohlklingend ist, aber, sehen Sie, davon kann man doch nicht leben. Und wenn ich Sie sonst recht verstehe, so sind Sie auch nicht allzugern abhängig von einem Menschen, dem Sie so wenig Sympathie entgegenbringen wie mir?“

„Sicherlich!“ schaltete ich gelassen ein.

„Und wenn man dies alles nun ruhig erwägt, so ist es nahezu unbegreiflich, aus welchen Gründen Sie einen Antrag zurückweisen, der aus wahrer Neigung und Achtung hervorgegangen ist und der Sie nach jeder – aber auch nach jeder Richtung hin zufriedenstellen muß. Sie sollen nicht denken, Anneliese, daß ich Ihnen zureden will. Sie mögen mir’s glauben oder nicht – es wird mir schwer, ein Wort zu gunsten des Mannes zu sprechen, der Sie uns entführen will, aber ich halte es für meine Pflicht, dies zu thun, denn ich habe Ihr Glück im Auge, und zudem bestimmt mich der Wunsch Ihrer Mutter dazu. – Ich habe nun Brankwitz, der ganz verzweifelt ist, gesagt, es sei ein bißchen Koketterie von Ihnen; Ihr angeborener Widerspruchsgeist lasse Sie so spröde thun, und ich denke, damit werde ich nicht weit vom Ziel getroffen haben.“

Er machte eine Pause, putzte den goldenen Klemmer und sah mich an, als erwarte er eine Aeußerung. Aber ich schwieg und begann, unartig genug, meinen Bleistift zu spitzen.

„Ich wiederhole jetzt den Antrag, Anneliese, im Namen Ottos von Brankwitz, und füge noch hinzu, daß es nach jeder Richtung hin wünschenswert ist, Sie nehmen denselben an. Sie würden auf Damnitz leben in der Nähe Ihrer Mutter, und diese würde endlich in Ihrem Geborgensein die Beruhigung finden, die ihr, weiß Gott, sehr nötig ist.“

Mein Bleistift war gespitzt und ich wischte mir die Fingerspitzen an einem Stückchen Löschblatt ab, das ich aus der Briefmappe riß. Ich zitterte innerlich vor Angst und machte doch ein möglichst gleichgültiges Gesicht.

„Sie brauchen sich heute abend nicht zu entscheiden, Anneliese,“ fügte er freundlich hinzu, „sagen Sie mir bis übermorgen mittag Antwort und regen Sie, bitte, mit der ganzen Angelegenheit Ihre Mutter nicht auf!“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 43, S. 726–731

[726] Wollmeyers drohende Zumutung, mich für Brankwitz zu entscheiden, hatte mir die Zunge gelähmt. Ich griff mir an die Kehle – es war, als ob mich jemand erdrosseln wollte – und schwieg weiter.

„Also, bis übermorgen mittag erwarte ich Ihre Antwort,“ wiederholte er dringend.

„Mit welchem Interesse – – ich wollte sagen, was kann Ihnen daran liegen, ob ich Brankwitz heirate oder ob ich mich auf irgend eine andere Weise versorge, da ja doch die Versorgung ein Hauptgrund zu dieser Heirat sein soll, wie Sie selbst betonen.“

„Ich ein besonderes In – – Interesse?“ fragte er betroffen, „wie kommen Sie darauf? Lediglich Ihr Wohlergehen, Ihre gesicherte Zukunft – Ihre Mutter – –“

„Nun, ich dachte, es müsse Ihnen ganz besonders daran liegen, mich auf die genannte Art versorgt zu sehen. Um so besser, wenn es nicht der Fall ist; dann wird es Ihnen ja auch nicht schwer werden, wenn Sie Herrn von Brankwitz in meinem Namen danken und sagen, es bleibe bei der Abrede. Ich werde mir schon ganz allein durchs Leben helfen, und zwar so gut, daß Mamas Sorgen bald aufhören sollen und die Ihrigen dazu, Herr Wollmeyer.“

Er faßte plötzlich mein Handgelenk. „Haben Sie eine andere Neigung?“ fragte er hastig.

Ich fühlte, wie ich purpurrot wurde. „Ich habe noch nie an so etwas gedacht,“ stotterte ich. Aber vor meiner Seele stieg ein Bild auf, ein Phantasiebild, das Bild eines großen schönen Mannes mit treuherzig und fest blickenden Augen, und stolz und hoch, wie ein Mädchenkopf sich wohl heimlich den Einen ausmalt, und wär’s ein noch so vernünftiger Mädchenkopf; ein Bild, das so verzweifelt wenig Aehnlichkeit hatte mit dem verlebten Brankwitz, dessen Auge blöde durch das Monocle schaute und desseb Haarwuchs so sehr spärlich war.

„Eine so grundlose Ablehnung lasse ich nicht gelten,“ sagte er, gänzlich aus seiner bisherigen Liebenswürdigkeit heraustretend, „die Zeiten sind nicht danach. Ich habe als Ihr Vormund das Recht, Ihre Zukunft sicher zu stellen, und solche Aussichten wie jetzt bieten sich nicht zum zweitenmal. Ich sage Ihnen hiermit, daß diese Verlobung wünschenswert ist und mehr als das, daß sie notwendig ist. Ich lasse Ihnen Zeit bis übermorgen, zu trotzen – bis übermorgen mittag, verstanden? Dann bitte ich mir ein Ja aus, ein ganz kurzes sachgemäßes Ja! Ich habe durchaus keine Lust, mich auf lange und kindische Erörterungen einzulassen. Gute Nacht!“

Als die Thür hinter ihm ins Schloß gefallen war, blieb ich sitzen, als sei ich gelähmt. Irgend etwas Unheimliches spürte ich, eine Macht, die stärker war als ich, und eine zitternde Verzweiflung überkam mich. Herr von Brankwitz hatte den Rat seiner Schwester pünktlich befolgt, die Wirkung war da. Was sollte ich thun? Konnte man mich denn zwingen? Aber nein, ich würde noch vor dem Altar schreien: „Ich will nicht, ich will nicht!“ Wie unheimlich das alles war! O wäre doch wenigstens die Base hier!

Es schlug elf Uhr, da raschelte es leise an meiner Thür und nun kam Mama. Ich saß noch immer mit angstverzerrtem Gesicht da – im Grunde meines Herzens war ich ebenso scheu, ebenso weich wie andere junge Mädchen. „Ach Mama, Mama!“ stammelte ich.

Sie sah sehr blaß aus und müde, als sie vor mir saß. „Du bist noch so fleißig?“ fragte sie. „Warum sagtest Du uns denn gar nicht Gute Nacht?“

Weißt Du denn nichts? wollte ich rufen. Die übersprudelnden Worte, die sich mir auf die Lippen drängten, erstarrten aber, denn sie schien nichts zu wissen. Und wozu auch – sollte ich ihr noch mehr Sorgen schaffen? „Ach ja,“ stotterte ich, „es ist wahr, aber ich fühlte mich so müde nach dem Hochzeitslärm und überhaupt, ich bin so viel jetzt auf den Füßen.“

„Ja, wir sind das bunle Leben nicht gewöhnt, Anneliese.“

„Ich möchte einmal so recht, recht stillsitzen, Mama, gar keinen Menschen sehen.“

„Ach Kind, Du bist so jung, genieße doch Dein bißchen Jugend! Die paar Jahre gehen rasch dahin, und dann – – Du sahst so hübsch aus in dem gelben Kleide mit dem roten Anemonenkranz, Liebling! Olga Sellmann sagt es auch; sie wollte Dir übrigens noch Gute Nacht sagen, Anneliese. Ich glaubte, ich würde sie hier treffen.“

„Herr Gott, bin ich denn nirgends mehr sicher vor diesen Menschen!“ murmelte ich.

„Anneliese, wenn Du doch weniger schroff sein wolltest!“ klagte sie. „Woher hast Du dieses barsche Absprechen? Wir beide, Papa und ich, waren doch nicht so!“

„Woher? Ich weiß es nicht, Mama. Meine Zunge ist eben meine einzige Waffe und mein einziger Schutz.“

„Das klingt, als wärst Du fortwährenden Angriffen ausgesetzt. Es thut Dir doch niemand etwas, Anneliese, Dir doch nicht!“

Sie erhob sich seufzend. „Gute Nacht, mein Kind! Steh’ fröhlicher auf morgen, als Du Dich heute hinlegst.“

„Gute Nacht, Mama!“

Ich begleitete sie bis in das vordere Zimmer und sah ihr nach, wie sie durch den Flur schritt und im Treppenturm verschwand. Sie ging mit gesenktem Kopf, als grüble sie noch immer über ihr halsstarriges widerspenstiges Kind.

„Ach!“ rief da die Flötenstimme Olga Sellmanns durch die Halle, und ihr blonder Kopf schaute aus der gegenüber liegenden Thür, „sind Sie noch wach, Fräulein Anneliese? Ich komme einen Augenblick zu Ihnen, ich muß Ihnen noch Gute Nacht sagen.“ Sie verschwand für ein paar Sekunden und kam dann, ein Tuch über das weiße theatralische Negligé werfend, quer durch den Flur zu mir herüber. „Darf ich eintreten?“ Ich sagte nicht: „Bitte!“, ich ging nur langsam zurück und sie folgte mir.

„Ah! Hier wohnen Sie? Wie gemütlich, wie himmlisch altmodisch! So schaute es aus bei meiner Schwiegermutter; sehr nett zum Ansehen, aber nicht für lange – wie?“ Und sie stand mit der Lorgnette vor Papas Bild.

„Ich wünsche mir nichts Besseres,“ antwortete ich und dachte: was will sie denn nur? Sie wandte sich um, sah mich prüfend an auf die Aehnlichkeit mit dem Bilde, schüttelte den hochfrisierten Kopf, in dessen duftigem Haar noch der Goldstaub flimmerte, den sie zur Erhöhung des rötlichen Glanzes für die Hochzeitsfeier hineingethan und sagte. „Keine Spur von Aehnlichkeit!“

„Ich weiß es.“

„Aber setzen wir uns ein wenig,“ rief sie und sank in einen Lehnstuhl. „Plaudern wir ein bißchen! In diesem gottgesegneten Nest geht man ja schon mit den Hühnern zu Bette; ich bin gewohnt, um zehn Uhr erst aufzuleben. Kinder, was seid Ihr hier spießbürgerlich! Nein, diese Hochzeit, diese Toiletten – die Brautmutter voran – und die gute Komtesse! Die einzige wahrhaft elegante Erscheinung war – Anwesende sind immer ausgenommen, meine Kleine – war die Braut; in der That königlich, königlich! Hätte sie nur nicht ein so sentimentales Gesicht gemacht, als würde sie begraben anstatt gefreit.“

„Sie hatte vielleicht Ursache – es war so eine Art Begräbnis für sie,“ sagte ich.

„Puh!“ rief die rosige Frau, „zu gräßlich! Das klingt ja wie bei Heine! Wie heißt’s doch da?“ Sie schnippte mit den Fingern, kam aber nicht darauf, „so was von einer gestorbenen Liebe war’s und einem Leichenschrein! Ach, das ist ja alles Modesache, heut’ ist’s eben nicht mehr Mode. Wenn man einen Mann heiratet, den man nicht liebt, so ist doch lange noch nicht alles verloren! Sehen Sie mich an, ich nahm auch einen Gatten, der mir nichts bedeutete. Der Mann, den ich liebte, hatte nicht einen roten Dreier, um mich zu heiraten. Was thun? Ich war gescheit, ich nahm den Reichen. Der andere? Nun -“ sie lächelte, an mir vorübersehend, „wir blieben gute Freunde – man ist heutzutage ganz tolerant, und mein Mann war es auch.“

Ich sah sie verständnislos an. Ich war viel zu arglos dazu, um den vollen Sinn des Geschwätzes zu fassen, aber ich fühlte den schwülen ungesunden Hauch, der von der leichtfertigen Rede dieser großen üppigen Person ausging, die sich nun erhob und mit ihrem Lächeln und den eigentümlich flimmernden grünlichen Augen an mich herantrat. „Ich sehe, Sie sind müde, Anneliese, ich will gehen – also Gute Nacht! Ja, ja, es ist gar nicht so entsetzlich, verheiratet zu sein,“ sagte sie, mich am Ohre zupfend, „und wenn man’s vernünftig anfängt, so ist’s erst das wahre Leben. Man lebt ja nicht mehr in den Zeiten der Komtesse, wo es gleichbedeutend war mit dem Ende aller rosigen Jugendfreude und Freiheit – nein, [727] so sind wir nicht mehr, und die Männer auch nicht – bange machen gilt nicht, Sie kleiner reizender Wildfang! Gute Nacht!“

Sie hauchte einen Kuß auf meine Stirn und rauschte der Thür zu. „Gute Nacht!“ dann noch ein Kußhändchen, und sie war verschwunden.

Ich strich mir langsam über die Stirn. „Allmächtiger!“ sagte ich halblaut, „und in diesen Schmutz wollen sie mich ziehen, und ich soll es mir gefallen lassen? Und keiner, keiner ist da, der mir beisteht. Und wenn es ihnen gelänge, wenn meine Widerstandskraft erlahmte, wenn ich so leben müßte wie diese Frau, so lächeln, so denken lernte – –“ Ich lief im Zimmer umher, in dem Gefühl erstickender Angst, schlug die Läden zurück und riß die Fenster auf, damit das entsetzliche süße Parfüm entweiche, das mir übel machte.

Ach, nur ein Herz, dem ich’s sagen könnte! Bis übermorgen mittag Frist! Nein, ich wollte mich nicht dazu hergeben, ich wollte nicht!

Mit der kalten Luft kam wieder etwas Ruhe über mich. Ich schloß die Fenster und Läden und suchte mein Lager auf.


Am andern Morgen wurde ich nicht geweckt; man wollte mir wahrscheinlich Zeit lassen zum Ueberlegen und verzichtete auf meine Gesellschaft am Frühstückstisch. So schlief ich, bis um zehn Uhr Mama an die Thür klopfte, die ängstlich frug, ob ich nicht wohl sei. Als ich sie einließ, starrte sie mich an. „Um Gott, Du bist krank!“

„O nein, Mama, ganz gesund. Was wünschest Du?“

„Ich wollte Dich sehen. Wie Du nur fragst!“

„Liebe Mama, ich wäre in einer Viertelstunde hinaufgekommen und hätte Dir Guten Tag gesagt. Uebrigens will ich nachher die Komtesse besuchen; hast Du Lust, mich zu begleiten?“

„Ich weiß nicht, ob es geht.“

„Und dann auf den Friedhof zu Papa.“

Sie sah traurig zu Boden.

„Laß nur, Mama, die Lebenden haben das Recht. Ich grüße ihn von Dir.“

„Warum denn heute gerade, in dem Schnee, Anneliese?“

„Ich habe Sehnsucht, und Du weißt ja, von Tante aus ist’s so bequem und immer Bahn gefegt durch den Garten.“

„Der alte Herr von Tollen ist tot,“ sagte Mama nach kurzer Pause, „und die Lore ist wieder da.“

„Arme Lore!“

Sie nickte. „Grüße die Komtesse, Anneliese.“

„Danke!“

Ich hatte mich während dieser Worte angekleidet, hastig eine Tasse Thee getrunken, und dann gingen wir beide zusammen aus dem Zimmer; sie die Treppe hinauf, ich aus dem Hause.

Es war wunderbarer Schwee gefallen, das kleine Westenberg sah aus wie eine Braut in weißem silberfunkelnden Kleide. Hier und da klingelte ein Schlitten durch die Straßen, der mich zwang, auf das schmale Trottoir zu flüchten; auf den Rinnsteinen schlitterten die Jungen in ihren Holzpantoffeln und unter den Lastwagen knirschte der Schnee. Jedes Giebelchen, jedes Türmchen trug eine köstliche Zipfelmütze und die Dachrinnen waren mit funkelndem Eisbehang geziert. Es lag ein weihnachtlicher trauter Hauch über dem Ganzen; es erinnerte mich an ferne glückliche Tage, als ich noch mit Papa, dem Eislauf huldigend, auf dem stillen Flüßchen dahingefahren war, weit, weit, bis ins Hannoversche. O ihr schönen Zeiten! Und jetzt?

Ich dachte vor der Hand nicht daran, zur Komtesse zu gehen; ich suchte den Kirchhof auf. Hier schien heute erst ein einziger Mensch gegangen zu sein. Der große Mittelweg war in aller Morgenfrühe vom Schnee befreit worden, aber doch wieder leicht überschneit, und diesem Flimmer waren die Spuren von Füßen eingeprägt, von Männerfüßen, jedenfalls aber von feinem Schuhwerk. Der Totengräber konnte es nicht gewesen sein, der trug fürchterliche Nägelstiefel; vielleicht jemand von Tollens, der die Grabstelle ausgesucht hatte. Es war mir ein unangenehmer Gedanke, diesen jemand – es mußte doch einer der Söhne sein – hier zu treffen; ich kann so schlecht kondolieren, auch wenn mir das Herz zum Zerspringen voll ist, so will doch kein Wort über die Lippen. Ich schwenkte also links ab und ging durch tiefen Schnee zwischen den eng aneinander liegenden Gräbern hindurch zu Papas Ruheplatz hinüber. Ich hatte weiter nichts für ihn als einen Stechpalmenzweig mit roten Beeren; den legte ich auf den verschneiten Holzkasten, der als Schutz gegen Wintersunbill den Marmorstein bedeckte, schüttelte von den Zweigen der Cypresse die Schneelast ab und fühlte mich in dieser stillen toten winterlichen Umgebung verlassener denn je. Man kann lange fragen und klagen – so ein Grabhügel läßt keine Antwort durch; man kann lange wünschen: ich wollt’, ich läge da drunten statt deiner! und man muß doch leben, so lange Gott es will.

Ich ließ mein Auge von dem Grabe über die vielen andern Hügel schweifen bis zum Garten der Komtesse hinüber, deren hübsches kleines Haus so behaglich unter den zwei hohen Linden lag.

„Ich will doch hinüber,“ sagte ich halblaut, bückte mich noch einmal, um eine Epheuranke aus dem Schnee zu graben, und ging. Ich mußte an Hannchens Grab vorüber und sah hier dieselben Fußspuren und da stand auch jemand vor dem Hügel, ein Mann – anscheinend ein junger Mann. Er drehte mir den Rücken zu, hatte einen Fuß auf die Einfassung gesetzt und sah unbeweglich zur Marienkirche hinüber. Ich zögerte einen Augenblick, überlegend, wie ich dem Fremden ausweichen könne, da wendete er sich kurz um und wir standen uns in dem engen Pfad gegenüber.

„Verzeihung!“ sagte er, in eine Querreihe zurückweichend, und lüftete den Hut.

Einige Sekunden lang sahen wir uns an. Ein schönes junges Gesicht leuchtete mir entgegen, von braunem Bart umrahmt, und ein Paar lebhafter Augen betrachtete mich, die zuerst gleichgültig neben mir hin sahen, dann einen unendlich freundlichen Schimmer bekamen.

„Es ist ein wenig eng hier,“ sagte er, „ich hoffe, Sie werden vorbei können, mein Fräulein. Aber zuvor gestatten Sie mir wohl eine Frage – wer liegt unter dem Grabhügel, vor dem ich soeben stand?“ Und er wies zurück auf Hannchens Ruhestätte.

„Frau Stadtrat Wollmeyer,“ antwortete ich.

„Danke tausendmal!“ sagte er, mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der bestätigt findet, was er zu hören gewünscht hat.

Wieder eine Pause. Unwillkürlich umfaßte ich seine ganze Erscheinung mit meinen verwunderten Augen. Er erschien mir so ungewöhnlich – in Westenberg war so etwas noch nicht gesehen worden – schon sein Anzug, der Reisemantel von grauem Stoff, ein Hut von gleicher Farbe, eine höchst elegante Ledertasche über der Schulter und feine wildlederne Handschuhe – –

„Guten Tag, mein Fräulein!“ hörte ich ihn sprechen, und er lüftete den Hut über dem braunen glänzenden Scheitel.

Ich nickte nur stumm und verfolgte ihn mit meinen Blicken, so lange er auf dem Mittelweg zu sehen war. Auf einmal kam mir blitzartig ein Gedanke. „Robert Nordmann!“ schrie ich auf. „Robert Nordmann, der Base ihr Robert!“ und ich begann zu laufen wie ein wildes Schulmädchen, daß mir das Pelzkäppchen über die Stirn zurückrutschte. Dann überfiel mich eine glühende Scham. Um alles in der Welt, was ging mich Robert Nordmann an?

Ich zog die Pelzkappe zurecht und schritt langsam weiter. Lächerlich! Wie sollte Robert Nordmann hierher kommen! Das zu glauben, weil zufällig ein fremder Mann vor Hannchens Grabe gestanden hatte! Da hatte mir meine Phantasie wieder einen Streich gespielt! – „Annelieseken!“ würde die Base kopfschüttelnd sagen.

„Ach Base, Base, wärst Du hier!“ jammerte ich, und während all mein Leid mir doppelt schwer aufs Herz fiel, klinkte ich das Pförtchen auf zum Garten der Komtesse und trat ins Haus mit einem so niedergeschlagenen Ausdruck im Gesichte, daß selbst die alte Josephine sagte: „Sie sind keine richtige Gesellschaft heute für gnädige Komtesse, Fräulein von Sternberg; gnädige Komtesse macht alleweil’ auch so ein Gesicht wie Sie.“

Ich wagte nur ganz schüchtern anzuklopfen, und das überlaute zornige „Herein!“ weissagte mir nichts Gutes. Die alte Dame hatte sich in ein dickes Tuch vermummt und sah so giftig aus wie ein Bullenbeißer. „Guten Morgen, Tante!“ sagte ich kleinlaut.

„’n Morgen! Auf die nächste Hochzeit kannst Du allein gehen, mein Kücken! Wie jetzt die Hochzeiten sind, mag ich nichts mit zu thun haben, und wenn’s selbst Deine eigene wäre!“

„Hast Du Dich erkältet, Tante?“ stotterte ich.

„Erkältet? Ich erkälte mich nie. Alteriert habe ich mich, Leberkolik hab’ ich bekommen und – na, ’s ist nicht mehr zu ändern. O Ihr Heutigen, Ihr Heutigen! Mit Dir hab’ ich auch ein Hühnchen zu pflücken,“ schrie sie mich plötzlich an, „der sogenannte Herr von Brankwitz hat sich auf eine Weise Dir genähert, die Ohrfeigen verdient! Der Kerl sieht aus wie ein Käsematz mit einer Sirupssauce darüber. Aber nicht wahr, wenn ’s nur überhaupt einer ist!“

„Ach, Tante Komtesse, Tante Komtesse,“ bat ich, „höre mich doch nur an!“

[730] „Ich will nichts hören, ich will Dir nur sagen, wenn Deine Mutter zu ihrer ersten Dummheit noch eine zweite macht und duldet, daß diese Spatzenscheuche, dieser – na, ich will lieber schweigen – ihre Tochter erschnappt, so sind wir geschiedene Leute – bestell’ ihr das! Bei aller Hochachtung vor Herrn Wollmeyer – sein Neffe ist ein – –“ Sie bekam einen Hustenanfall.

„Tante, darf ich Dir denn erzählen?“

„Nein!“ donnerte sie mich an, „ich will nichts erzählt haben!“

„Du sollst mir aber helfen,“ rief ich jetzt noch lauter als sie, „ich soll ihn nehmen und ich will nicht, Tante.“

Sie war auf einmal ganz still. „So, so?“ kam es endlich heraus, „Du sollst, aber Du willst nicht? Wer will denn, daß Du sollst? Len’ wird doch nicht?“

„Meine Mama weiß nichts,“ stieß ich schluchzend hervor, „sie soll es auch nicht wissen, weil es sie so sehr aufregt, sagte man mir. Er, Wollmeyer, will bis morgen mittag die entscheidende Antwort haben; es giebt gar kein Nein, hat er gesagt, Tante.“

„Ach was, Schnack!“ antwortete sie; „das sind ja Redensarten, um Dir angst zu machen.“

Ich schwieg und kämpfte mit mir, ob ich ihr von dem Gespräch erzählen dürfe, das ich belauscht hatte. Aber das dumpfe Gefühl, irgend etwas Schreckliches, die bewußte Skandalgeschichte heraufzubeschwören, hielt mich davon ab. „Er hat so gesagt, Tante,“ stotterte ich nur, „und ich habe Angst vor ihm. Wenn ich nur mit Mama reden dürfte – Mama würde mir recht geben, sie kann ja gar nicht anders.“

„Es kommt mir sonderbar vor, daß Len’ nichts davon wissen soll,“ murrte sie; „Schwiegersöhne sind Angelegenheiten mit denen sich keine Mutter gern überraschen läßt, da will jede ihren Senf dazu geben.“ Und plötzlich warf sie mit einem Ruck ihr Tuch ab. „Streiten kann ich mich nicht mit ihm,“ rief sie, „er ist Stadtverordneter, und diese Sorte redet unsereinen in Grund und Boden, aber seinen Willen bekommt er nicht, Anneliese. Ernsthaft gesprochen, Kind, jetzt beichte, denn klar muß ich sehen, weil ich die Geschichte für ein Unglück halte. Wie ist’s gekommen? Heraus mit der Katze aus dem Sack!“ Sie saß kerzengerade da, mit der Miene eines Untersuchungsrichters.

„Hat er, der Brankwitz, sich Dir denn selbst schon erklärt?“

„Ja, Tante, bei der Wagenfahrt letzthin – und dann fing er gestern abend noch einmal an – nach dem Diner.“

Sie blickte starr vor sich hin. „Nu sieh, nu sieh das Kücken,“ sagte sie und machte jetzt ein Gesicht, als denke sie nach, ob ihr jemals etwas Aehnliches begegnet sei. „Daran bist Du selbst schuld,“ fuhr sie mich dann an, „allemal sind die Frauenzimmer schuld, wenn die Männer von Liebe zu schwatzen wagen und unverschämt werden, allemal, sag’ ich Dir. Mir ist keiner so unverschämt gekommen, ich kann’s beschwören.“

Ich blinzelte sie von unten herauf an, diese übergroße häßliche und doch so liebe Person, und meine Blicke blieben schließlich an der zur Faust geballten mannsgroßen Hand hängen, die sie auf den Tisch gelegt hatte. Ach ja, sie besaß etwas Achtunggebietendes, die Tante Komtesse.

„Was siehst Du mich denn so an mit Deinem Spitzbubengesicht, unter den Krokodilsthränen hervor, Du Krott?“ schalt sie. „Meinst wohl gar, die Trauben seien sauer gewesen? Hör’, ich könnte Dir Geschichten erzählen – es gab mehr wie einen, der die lange Komtesse gern gefreit hätte, aber – das ist altes Eisen wie ich selber. Ich spreche jetzt von Dir! Du bist schuld, Anneliese, und nun muß man Dich aus der Patsche ziehen – – wenn ich nur wüßte, wie!“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Du sagst einfach Nein!“ entschied sie endlich.

„Ja, das habe ich schon gethan und werde es wiederholen, Tante. Wenn Du – –“

„Wenn Du weiter nichts weißt – willst Du sagen? Sehr freundlich! Aber ich gebe Dir die Versicherung, Kücken, wenn Ihr Euch beide zusammenthut, Du und die Len’, da kann der Wollmeyer gar nichts durchsetzen, gar nichts; Du kennst die Macht noch nicht, die unsereiner auszuüben vermag durch passiven Widerstand. Ich sage Dir, Napoleon selber wäre mir gegenüber nicht Sieger geblieben – den Ersten meine ich – der Dritte ist ja ein glänzendes Beispiel für meine Behauptung, denn den hat seine Eugenie links und rechts gebracht, wie sie wollte.“

„Tante,“ sagte ich traurig, „Du weißt nicht, wie Mama sich geändert hat.“

„Aber nicht in der Liebe zu Dir, denn hier spricht ihr Mutterherz. Laß den Mut nicht sinken, Kind!“

„Und wenn – wenn Du Dich täuschest, Tante, wenn auch sie es wünschen sollte – was würdest Du thun an meiner Statt?“

„Ausreißen!“ sagte sie schnell, „das heißt,“ verbesserte sie sich, dunkelrot vor Aerger über sich selbst – „mach’ nicht solche Augen, als ob Dir ein Talglicht aufginge, Du Naseweis – ich meine damit, ob Du nicht vielleicht einmal verreisen willst, etwa nach Hamburg, wohin ich Dich damals schon bringen wollte, als Len’ sich verlobte. Wie? Ich werde mit Len’ sprechen und auch mit Wollmeyer; Du bist ja noch viel zu jung zum Heiraten. Ich treffe Deine Mutter heute abend beim Superintendenten, da red’ ich ihr ins Gewissen. Vielleicht sind die beiden auch dabei, der Brankwitz und die fragwürdige Schwester – hör’, Kücken, laß Dich mit der nicht ein, sie sieht gefährlich aus! Na, wie gesagt, das verstehst Du nicht, aber ich kenne Berlin, ich kenn’ es – aber das verstehst Du nicht. Also, ich thu’, was ich kann, Kleine; laß die Ohren nicht hängen! Jetzt kannst Du gehen, ich will mir einen frischen Kamillenumschlag machen, damit ich heute nachmittag zu der armen Tollen kann, und dann abends zum Whist. Ich darf sie nicht im Stich lassen mit ’nem Strohmann können sie ja wohl spielen, aber der Postdirektor fehlt heute, und mit Zweien, das kann hier keiner, denn, lieber Gott, dazu gehört Finesse, große Finesse!“

Ich küßte ihr die Hand und ging, aber mit ganz verwirrtem Kopf. „Ausreißen!“ hatte sie gesagt. Wenn alles nichts half, alles Weigern nicht, wenn Mama mich auch verlassen sollte, dann – – ich war jetzt ganz beruhigt.


Als ich nach Hause kam, lag ein Brief von der Base da, ein großer dicker Brief, er enthielt ihr Sparkassenbuch und die Bitte, ihr hundert Mark zu erheben und hinzuschicken. Ein lieber fehlerhafter alter Basenbrief, vor dessen Herzensgüte und Treue alle seine stilistischen Fehler in nichts zerflossen.

„Herzliebes wertes Fräulein Anneliese! Wenn Sie wollen so gütig sein, mich hundert Mark herunterzuholen und per Post an mich gelangen zu lassen; Adresse Dorothea Himmel in Langenwalde bei Quersleben, abzugeben bei Herrn Inspektor Hübner daselbst. Ich würde sehr dankbar sein, wenn Sie dazu schreiben wollen, ob Sie gesund und wohl auf seien und wie es sonstig geht, und ob die gnädige Frau Mama nicht gar soviel Plag’ hat mit die alten Küchengeschichten und ob die neue Köchin eiugeschlagen ist – ich habe soviel Herzbangen nach Ihnen, sonst geht’s mich gut. Ich wünsche immer, Fräulein Anneliese wär’ hier, so schön ist’s hier und so friedlich. Ich konnt’ auf der Mühle nicht wohnen, weil der Pächter so viel Platz braucht für seine große Familie, da bin ich im Schlößchen untergekommen, und was die Frau Inspektorin ist, giebt mir Essen für ganz billig. Um Weihnacht herum bin ich immer so traurig, dies Jahr besonderlich; ich habe gar zu wenig zu thun, immer bloß spinnen, da spinnen die Gedanken mit und im Kopf drinnen dreht es sich wie ein Rädchen.

Wenn’s Mai wird, sollten Fräulein Anneliese ’mal kommen, jetzt ist’s aber auch schön, so schöne Schlittenbahn wird Ihnen

gewiß gefallen. Leben Sie wohl, Fräulein Anneliese! So gewiß der Himmel über uns ist, so gewiß hat Sie bis zum Tode lieb
die alte Base Dorothea Himmel. 

P. S. Wenn Sie’s nicht übel nehmen – sollten Sie in Verlegenheit kommen mit Geld, so holen Sie sich man ruhig was auf dies Buch – man kann ja nicht wissen. Ich brauche ja nicht viel, nur so ein bissel vor Weihnacht, sonst bekomme ich alles, und alles bekommt ’mal Robert Nordmann, aber wer weiß, ob er noch lebt.“

Alte gute Base! Ich saß da mit dem Schreiben in der Hand, als das Stubenmädchen erschien und im Auftrage meines Stiefvaters fragte, ob ich oben speiseu wolle mit der Herrschaft oder ob ich vorziehe, hier unten zu essen.

„ Bitte, hier unten!“ entschied ich. Und ich dachte, als ich da allein saß, ob es Zartgefühl sei, das ihn veranlaßte, mich hier unten zu lassen, oder Angst vor mir.

Was aber mochte man Mama vorgeredet haben? Sie kam nach Tische ganz blaß und aufgeregt herunter. Am liebsten wäre ich ihr um den Hals gefallen und hätte ihr alles gesagt, aber dicht hinter ihr war diese Olga Sellmann, und die setzte sich auf den Fenstertritt und redete lauter Unsinn, nannte mich „Kleiner Eigensinn“, „Eremitin“ und dergleichen und that, als ginge diese Zurückgezogenheit nur von meinen Launen aus. Sie wich und [731] wankte nicht, obgleich Mama wie auf Kohlen stand und obgleich ich deutlich merken ließ, daß eine zuviel da sei.

Die berühmte Köchin rief Mama ab mit der Frage, ob sie die Gänseleber- oder die Krammetsvögelpastete in den Korb packen solle, der zu Superintendents geschickt werde.

Des Herrn Stadtrats gebildete Zunge sorgte, daß sie auch an dem Tische der minder bemittelten Bekannten etwas für ihren ausgezeichneten Geschmack vorfinde, und bei Superintendents war nicht zu fürchten, daß der Korb zurückkam wie einst bei der Komtesse. Die viel geplagte Frau Superintendent hieß stets die Sendung willkommen, die ihr und ihrer Wirtschaftskasse eine Last abnahm.

„Gehst Du mit heute abend, Anneliese? Du gehst doch mit?“ fragte Mama, im Begriff, mich zu verlassen.

„Nein,“ sagte ich, denn ich mochte der Komtesse nicht hinderlich sein, falls sie ihr Vorhaben, Herrn Wollmeyer ins Gewissen zu reden, ausführen wollte. Meine Mutter verabschiedete sich schweigend.

„Da kommen Sie vielleicht mit uns?“ fragte Frau Sellmann, „Otto und ich wollen uns den Jux machen, ins Theater zu gehen; ich sah noch nie eine solche Wandertruppe, die in Romanen immer so köstlich geschildert werden – ich möchte ’mal lachen. Kommen Sie mit?“

„Es wird ja gar nichts zum Lachen gegeben,“ antwortete ich. Ich hatte die Ankündigung der Eröffnung des Westenberger Stadttheaters im Saal zu den „Drei Pappeln“ heute schon an den Straßenecken gelesen. „‚Don Carlos‘ wird ja gegeben.“

„Als ob gerade das nicht zum Lachen sein wird,“ meinte sie. „Denken Sie, welch eine Eboli hier auftreten wird!“

„Nein, ich danke,“ sagte ich, „ich habe Kopfschmerzen und bleibe zu Hause.“ Da stand sie plötzlich dicht neben mir; sie hatte ein rotes Juchtenetui in der Hand, und an der Feder drückend, daß es aufsprang, hielt sie mir etwas Sprühendes, Flimmerndes unter die Augen. „Ist es nicht entzückend?“

Ein reich mit Brillanten geschmückter Armreif blitzte mir entgegen, in seiner Mitte ebenfalls aus Brillanten das Emblem unseres Wappens, die Greifenklaue, die eine Kugel in den Fängen hält; diese Kugel war eine wundervolle große Perle. „Nun?“ fragte sie.

„Es ist recht hübsch, aber Mama macht sich gar nichts daraus,“ antwortete ich, in der Meinung, es sei ein Weihnachtsgeschenk Wollmeyers für meine Mutter.

„Das kommt hier nicht in Betracht,“ erklärte sie leichthin, „dies da will mein Bruder verschenken.“ Und sie verwandte kein Auge von den funkelnden sprühenden Steinen.

Ich wandte mich achselzuckend ab. Wie plump und dumm! Man spekulierte darauf, daß mich die große Aufmerksamkeit, mein Wappen in Brillanten zu sehen, rühren würde.

„Reizender Geschmack!“ sagte sie und ließ das Etui wieder in ihrer Tasche verschwinden.

Ich hatte mich indes vor den Ofen gesetzt und stocherte in der Glut herum, eine Lieblingsbeschäftigung von mir, aber heute rein mechanisch geübt, denn meine Gedanken hatten plötzlich einen wunderlichen Seitensprung gemacht; sie waren auf etwas gekommen, das mich unangenehm, peinvoll berührte. Ich dachte nämlich, ob etwa der Fremde vom Kirchhof zu der Schauspielertruppe gehörte, die heute ihren Musentempel eröffnete. Es war, als ob mir mit dieser Annahme etwas sehr Wehes geschehe, ich mußte Gewißheit haben.

„Ich komme wahrscheinlich mit,“ sagte ich plötzlich zu Olga Sellmann, „das heißt, ich werde mir schon meinen Platz besorgen, Sie sollen sich nur nicht wundern, wenn Sie mich dort sehen – ich hole meine alte französische Lehrerin ab, das wird Mama erlauben.“

Frau Sellmann lachte eigentümlich. „Ich habe schon eine Karte für Sie, Anneliese, Sie werden uns doch nicht allein gehen lassen?“

„Ich habe mich doch anders besonnen, ich gehe nicht hin,“ stotterte ich, dunkelrot vor Zorn. Es stand ja auf diesem vollen, rosig lächelnden Gesicht so deutlich ein Triumph, ein Triumph, den sie mit ihrem Armband erreicht zu haben glaubte.

„Ich muß Briefe schreiben“ setzte ich kurz hinzu und ging zum Schreibtisch hinüber. Sie lächelte wieder, siegesgewiß. „Ich will nicht stören,“ lispelte sie und schwebte hinaus, als ob ich ein Fischlein wäre, das den Köder erschnappte und das sie aus grausamem Mitleid noch ein wenig in seinem Lebenselement lassen wollte. Für wie gewöhnlich mußten diese Leute mich halten!

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 44, S. 741–744

[741] Sobald es dämmerig wurde, holte ich das Geld für die Base. Ich war im ganzen doch beruhigter, ich hatte felsenfestes Vertrauen zu der Macht der Komtesse, und wenn ich auch in Bezug auf Mama etwas unsicher geworden war, wenn ich mir auch sagen mußte, daß sie das Uebermenschliche thun würde im Pflichtgefühl gegen ihren neuen Gatten – mich würde sie doch nicht wider meine Neigung in eine Ehe zwingen, diesen Glauben hatte mir die Komtesse erweckt. Sie war ja doch meine Mutter, ich ihr einziges Kind, ihr Alles, wie sie mich so tausendmal genannt hatte. Und standen mir Kämpfe bevor, nun, so würde ich nicht allein kämpfen.

Der Beamte auf dem Rathause empfing mich mit gebührender Höflichkeit und wollte mich sogar zuerst bedienen, obgleich eine Menge Leute mit ihren Büchern wartete. Dicht vor mir stand eine kleine runde Frau, die ungeduldig von einem Fuß auf den andern trat, aber respektvoll zurückwich, als sie mich erblickte.

[742] „Bitte sehr,“ sagte ich zu dem Beamten, „immer der Reihe nach, ich habe Zeit.“

Ich kannzr die kleine Frau, die nun mit mir zurücktrat und ebenfalls noch warten mußte; es war die Totengräbersfrau von St. Marien. „Guten Tag, gnä’ Fräulein,“ sagte sie zutraulich, „waren schon früh heute morgen bei uns.“

„Jawohl, Frau Sietmann,“ entgegnete ich, und auf einmal kam wieder der Gedanke an den Fremden gewaltig über mich, und selbst den Schein der Neugierde auf mich nehmend, die ich doch schrecklich gewöhnlich finde, fuhr ich fort: „Da war heute noch jemand auf dem Friedhof, Frau Sietmann, so ein großer fremder junger Mann; kennen Sie ihn vielleicht? Er stand an Frau Wollmeyers Grab.“

Das runde Gesicht vor mir verzog sich zu einem Lächeln, einem schmunzelnden breiten Lächeln, das mir die Frau völlig fremd und unheimlich erscheinen ließ; ich hatte sie in ihrem Beruf als Totengräbersgattin und Leichenfrau zumeist nur mit dem entsprechend wehleidigen Gesichtsausdruck gesehen.

„Worüber lachen Sie denn um Gotteswillen?“ fragte ich.

„Ach, seien Sie nicht böse, gnä’ Fräulein, ’s ist nur, weil mich der fremde Herr heut früh genau so ausgefragt hat. Ich stand da vor unserem Häuschen und putzte die Fenster, man will’s doch ein bissel ordentlich haben – übermorgen wird der Herr Major von Tollen begraben und werden massenhaft vornehme Herrschaften folgen – da kommt der Fremde den Mittelweg herauf, geht aber bei mir vorüber. Na, denk’ ich, Guten Tag kann einer auch wohl sagen, er muß doch wissen, daß ich hierher gehöre – da kehrt er auf einmal um und kommt direktement auf mich los. ‚Sagen Sie mal, liebe Frau,‘ fragt er, ‚wer war denn die Dame dort unten auf dem Kirchhof?‘ ,Ja, weiß ich’s?‘ hab’ ich geantwortet, ,hier kommen viel Damens her; wie hat sie denn ausgesehen? Da sagt er: ,Klein brunett‘ – was ja wohl schwarz heißen soll – ‚Augen hat sie so groß, wie man sie selten sieht, und unterm Pelzmützchen haben ihr allenthalben die krausen Löckchen hervorgeguckt.‘ ,Ja, das könnt’ Fräulein von Tollen gewesen sein, was die Käthe ist,‘ hab’ ich geantwortet, ,aber die kommt doch heut nicht auf den Kirchhof, das arme Ding, die fürcht’ sich höchstens, weil sie ihren Papa übermorgen hinaustragen. Und da hab’ ich an Sie gedacht. ,Nee, warten Sie man, mein Herr, das wird Sternbergs Anneliese gewesen sein!‘ Und nun ist das so, Sie sagen’s ja eben selbst, gnä’ Fräulein, daß Sie es waren. ‚Sternbergs Anneliese?‘ hat er mir nachgesprochen, als besänne er sich auf etwas. Da sagte ich, nun ja, sie hat das Grab vom Papa besucht, kommt in Wind und Wetter und schaut nach ihres Vaters Ruhestätte, und was ihre Mutter ist, die hat sich ja den Wollmeyer genommen in zweiter Ehe.‘ Da hat er eine Tasche herausgezogen und hat mir einen Fünfzigmarkschein gegeben, fünfzig Mark, gnä’ Fräulein. ,So!‘ hat er gesagt, ‚da besorgen Sie ’mal das Grab recht schön, liebe Frau, und ich danke für freundliche Auskunft.‘ Und dann ist er gegangen. ‚Welches Grab?‘ hab’ ich hinterher geschrieen, aber er hat sich nicht umgedreht und nicht geantwortet. Und nun will ich man eben das Geld auf die Sparkasse tragen, denn so was kommt doch nicht alle Tage. Ich brauch’ mir ja kein Gewissen daraus zu machen, wenn ich’s nehme, ich sorg’ für alle Gräber, für Arme und Reiche, und der ganze Friedhof sieht aus wie ein Lustgarten, gnä’ Fräulein, das muß jeder sagen.“

„Bitte!“ rief jetzt der Beamte, und Frau Sietmann stürzte mit ihrem Sparkassenbuch vor.

Nein, zu den Schauspielern gehörte der nicht. Fünfzig Mark! Ein Westenberger Schauspieler und fünfzig Mark verschenken! Und ich lächelte plötzlich so vergnügt wie die Totengräbersfrau vorhin. Robert Nordmann! klang’s in meiner Seele wie Finkenschlag im Frühling, Robert Nordmann, der Base ihr Robert! Wenn er es wäre, welche Freude für die alte Frau!

Lange hielt freilich diese Stimmung nicht vor, und als ich in der Dämmerung nach Hause kam, schalt ich mich selbst aus. Wie konnte man so albern sein! Die drückende Gegenwart überfiel mich wieder mit aller Macht. Mamas Hilfe erschien mir zweifelhaft und das „Ausreißen“ unmöglich, als ich in den sinkenden Abend hinaussah. Die Angst vor einer unbekannten Fremde, wie sie jeder verspürt, der zum erstenmal hinaus soll aus der alten Heimat und der gewohnten Umgebung in eine ungewisse trübe Zukunft, packte mich mit eisernen Klammern. Wie wird’s werden, was soll ich thun, um mich zu retten vor dem verhaßten Menschen?

Da sah ich über dem leuchtenden Schnee des Hofes eine lange Gestalt daherwandern und erkannte das Ungetüm von Kapuze und den Muff, daraus man ein halbes Dutzend der jetzige Mode herstellen könnte, und mein Herz stand still vor Schreck. Die Komtesse, der mein Geschick keine Ruhe ließ, kam, um Wollmeyer ihre Meinung zu sagen, bevor sie sich bei Superintendents trafen! Am liebdten wär’ ich davongelaufen und hätte mich versteckt. Welche Scene würde nun folgen, schon deshalb, weil ich der alten Tante mein Vertrauen geschenkt hatte! Ich ging mit gerungenen Händen im Zimmer umher, während sie nun oben saß und ihre Auseinandersetzungen begann.

Mir war zu Mute, als hätte ich ein Verbrechen begangen; ich wußte nicht, ob die Zeit stille gestanden oder ob Stunden vergangen waren, als jetzt draußen eine Thür aufgerissen wurde und ein rascher heftiger Männerschritt sich meiner Stube näherte. Ich hatte noch kein Licht, aber ich erkannte die starke Figur meines Stiefvaters, der jetzt hinter sich die Thür schloß.

„Wo sind Sie?' fragte er kurz.

Ich erhob mich aus dem Lehnstuhl am Ofen. „Hier!“ sagte ich, aber der Ton wollte kaum aus der Kehle.

„Gehen Sie zu Ihrer Mutter hinauf, sie will Sie sprechen.“

„Weiß Mama –?“ stieß ich hervor.

„Wenn Sie so taktlos sind, ihr die Komtesse zu schicken als Fürbitterin, wird sie es wohl wissen.“

„Ich habe die Komtesse nicht geschickt – ich habe ihr nur, weil ich mich mit jemand aussprechen mußte – weil –“

„Diese Eutschuldigung nützt nichts mehr! Meine arme Frau ist furchtbar aufgeregt, und ich erwarte von Ihnen, daß Sie das Mögliche thun, damit sie ruhiger wird. Kommen Sie und – bitte – vor allem keinen Widerspruch!“

Ich ging vor ihm her nach oben mit zitternden Gliedern. Was würde Mama thun? Würde ihr Mutterherz sprechen, würde sie mich retten? Ach, sie konnte ja nicht wollen, daß ich unglücklich werden solle, sie konnte nicht! „Sie ist im Schlafzimmer,“ sagte er hinter mir; und ich schritt über den Gang und klopfte an die Thür. Als keine Antwort erfolgte, drückte ich auf die Klinke und trat ein; er folgte mir unmittelbar.

Mein Lebtag werde ich den Anblick Mamas nicht vergessen. Das Zimmer war erhellt, von der Decke hing die angezündete Ampel und auf dem Toilettetisch brannten die Kerzen der dreiarmigen Leuchter. Mama war offenbar beim Ankleiden gestört worden. Sie ging auf und ab; die marineblaue seidene Robe, über die sie einen Frisiermantel gebunden hatte, rauschte und knisterte bei jeder Bewegung. Ihr Haar fiel halb gelöst über den weißen gestickten Batistmantel, und an den Schläfen krauste es sich so eigentümlich, als habe sie in bitterer Verzweiflung mit beiden Händen darin gewühlt. Das Gesicht war furchtbar verändert, aschfahl, die Augen eingesunken und wie abwesend blickend; von der Nase zum Mund eine unheimlich scharfe Linie. Sie schien mich gar nicht zu sehen in ihrem Umherwandern.

„Helene, hier ist Anneliese!“ rief mein Stiefvater laut.

„Mama!“ sagte ich und trat vor sie hin, „Mama, um Gotteswillen –“

Sie sah an mir vorüber und die Hände zuckten nach den Schläfen. „Ja, ja, ich gebe es zu!“ rief sie, „es ist gut, Du kannst gehen!“

„Aber Mama!“ jammerte ich, die gefalteten Hände ihr entgegenstreckend.

„Helene, sprich vernünftig, nimm Dich zusammen!“ Er zwang sie in einen Sessel. „Du findest es ganz vernünftig und den Verhältnissen angepaßt, wenn Anneliese die Hand von Otto von Brankwitz annimmt?“

Sie zitterte am ganzen Körper und blickte vor sich hin.

„Helene, rege Dich nicht auf – mache der Sache ein Ende, sprich!“ forderte er streng.

Da nickte sie heftig, automatenhaft mit dem Kopfe: „Ja – ja – ja!“ Das letzte war wie ein Schrei.

„Meine liebe Mama!“ schrie ich auf. „Nein, Mama, Du kannst nicht, Du willst es nicht!“ und ich stürzte hin zu ihr und lag vor ihr auf den Knien und packte eine Falte ihres Kleides und forschte mit Todesangst in ihrem Gesicht.

Da drängte sie mich zurück und nickte noch einmal, ohne mich anzuschauen. „Ja, es ist recht, es ist das einzige, was – es ist eine sehr passende Partie, es ist – Du wirst es einsehen lernen –“

[743] Ich sprang empor. Eines Wortes war ich nicht mächtig, stumm wandte ich mich der Thür zu. Hätte ich geahnt, wie es in ihrer Seele aussah, welch furchtbare Marter sie litt, vielleicht wäre ich nicht so gegangen, so voll leidenschaftlichen Trotzes, so namenlos unglücklich, so fest davon überzeugt, daß meine Mutter mich nicht mehr liebe.

„Anneliese!“ Mein Stiefvater kam mir nach. „Treten Sie hier ein!“ Er schob mich am Arm in sein Schreibzimmer. „Sie sehen,“ begann er, „wie die Nachricht, daß Sie eine so vorteilhafte Partie aufgeben könnten, Ihre Mutter erschüttert hat. Sie sank wie leblos zusammen, als die Komtesse ihr unter den heftigsten Vorwürfen entgegentrat. Ich hoffe, alle Ihre nichtssagenden nackten Ausflüchte sind nunmehr beiseite gelegt.“

Ich antwortete keine Silbe, ich stand vor ihm, aber sah nach irgend einem Bilde an der Wand. Was sollte ich auch antworten? „Wir werden die Sache also sofort – –“ Er schritt zur Klingel. Da war ich mit einem Sprunge neben ihm und riß seine Hand zurück. „Ich habe Zeit bis morgen mittag, erinnern Sie sich!“

„Lächerlich!“ entfuhr es ihm. Nach einem Blick in mein Gesicht aber sagte er: „Meinetwegen, wenn Sie so kleinlich denken, und, bitte, die äußerste Rücksicht meiner Frau gegenüber! Sie sind kein Kind mehr, und ich kann Ihnen deshalb die Mitteilung machen, daß Sie Aussicht haben, nicht der einzige Verzug Ihrer Mutter zu bleiben, Sie werden ihre Liebe dereinst mit einem Geschwister teilen müssen, also, ich muß dringend um Schonung ihres mir jetzt doppelt teuren Lebens bitten.“

Ich preßte die Hände gegen das Gesicht vor Schreck und Scham und ging der Thür zu. „Also morgen mittag!“ rief er mir nach.

Wie ich hinuntergekommen bin, wie ich die nächsten Stunden zugebracht habe, dessen erinnere ich mich nicht mehr genau, aber das weiß ich, daß sie schwerer waren als alle die schweren, die ich durchlebt habe, daß sie aus dem Kinde mit einem Schlage das schwergeprüfte willensstarke Weib machten.


Droben war es jetzt ganz still. Es mochte neun Uhr sein, als ich endlich den Kopf hob und mit brennenden Augen in die Dunkelheit starrte wie eine Verzweifelte. Welche Macht hatte die Gemeinschaft der Ehe, wenn sie selbst die Mutterliebe auszulöschen vermochte! Und in diese Knechtschaft wollten sie mich stoßen, ich sollte im ewigen Kampf mit einem seichten gesinnungslosen Menschen mein Leben verbringen! Ein ewiges vergebliches Kämpfen, bis die Lebenskraft gebrochen sein würde, denn ich war nicht so fügsam, so leicht zu beeinflussen wie Mama. ich war ja, wie die Komtesse sagte, aus Trotz, Widerspruch und Leidenschaft zusammengesetzt.

Ausreißen! klang’s in mir. Was blieb noch anderes?

Ich hatte, am Fenster stehend, den Friedrich fortlaufen, den Sanitätsrat kommen und wieder gehen hören; dann war schließlich der Wagen doch noch vorgefahren, vielleicht um Herrn Wollmeyer zu Superinteudents, Frau Sellmann ins Theater zu bringen. Mama lag sicher ruhig zu Bette; sie hatte ihr Schlafmittel genommen – sie nahm so entsetzlich oft Chloral jetzt – um mich würde sich vor morgen mittag niemand kümmern. Dann aber kam man, mich aufzufordern, ich sollte mich „nett“ anziehen, und dann würde die Komödie in Scene gesetzt werden, und der – der – –

Ich schloß die Augen und stellte mir vor, daß diese wachsbleiche Männerhand mit den dünnen Fingern und den übertrieben langen Nägeln nach der meinen greifen, daß ich nicht das Recht haben würde, sie zornig zurückzuweisen, daß er neben mir gehen, daß er „Anneliese!“ flüstern würde, daß er mich mit diesen verletzenden Blicken ansehen dürfte, so viel er wollte . . .

Ich trat vom Fenster zurück, suchte nach meiner Briefmappe und nach Streichhölzern mit zitternden Fingern und angstvollem Herzklopfen. Ich wollte an Mama schreiben, einen Abschiedsbrief. Mama konnte mich entbehren, sie würde ja ein anderes Kind in ihren Armen halten, ein junges zartes Leben; sie würde es so in den Armen tragen, wie sie mich einst trug auf der kleinen Photographie, die immer Papas Schreibtisch zierte, die er sein Madonnenbild nannte – auf der ich kaum zu erkennen war vor Spitzen und Schleifen und auf der Mama so entzückend aussah, wie sie sich herunterbog zu mir und lächelte. Und da erfaßte mich ein wahnsinniger, ein eifersüchtiger Zorn; ich nahm das Bild und schleuderte es auf die Erde, und dann suchte ich die Glasscherben wieder zusammen und tastete nach der Photographie, die unter die Kommode gefallen war, und als ich sie endlich gefunden hatte, da drückte ich sie an mein Gesicht und begann leidenschaftlich zu schluchzen.

Dieser Ausbruch brachte mich zur Besinnung. Ich wollte ja fort und ruhig, besonnen sein, das war jetzt das Nötigste. Ich zündete Licht an und schrieb an die Komtesse, denn ich hatte mir überlegt, daß ein Brief von mir möglicherweise nicht in Mamas Hände gelangen könnte. Die Komtesse setzte ich von meinem Vorhaben in Kenntnis:

„Ich gehe zur Base, sie wird mich vorläufig aufnehmen, liebe Tante Komtesse: ich weiß nichts anderes im Augenblick und habe keine Zeit mehr, zu überlegen. Sag’ Du’s Mama und sag’ ihr auch, wenn sie mich zwingen wollen, Herrn von Brankwitz zu heiraten, dann laufe ich auch von der Base fort, aber so, daß mich niemand findet. Ich werde, mit Hilfe der Base, mir sobald als möglich ein Unterkommen suchen, wo ich Wollmeyer nicht mehr zur Last falle. Liebe Tante, ich thue, was Du mir geraten hast, ich sehe keinen andern Ausweg. Um eins bitte ich Dich flehentlich, gieb mir Nachricht, wie Mama meine Entfernung aufgenommen hat und ob sie gesund ist. – Versteh’ mich nicht falsch und behalte lieb Deine Anneliese!“ 

Dieses Schreiben verschloß ich, versah den Umschlag mit einer Briefmarke und beschloß, es auf dem Bahnhof in den Postkasten zu werfen, dann erhielt die Komtesse es morgen früh. Und ruhig stand ich auf und begann, nach meinem Schultäschchen zu suchen, denn etwas anderes, um ein paar nötige Gegenstände einzupacken, hatte ich nicht. Was ich mitnahm, war ein bißchen Wäsche, die Photographie Papas, ein Neues Testament, in dem von Papas Hand eingeschrieben stand: „Herr, Deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, und Deine Wahrheit, so weit die Wolken gehen.“ Nie hatte ich den Trost, den solche Worte geben können, deutlicher empfunden.

Ich wußte, um zehneinhalb Uhr ging ein Zug nach Magdeburg zu; in Magdeburg würde ich den Anschluß nach Thüringen erfahren und morgen früh konnte ich bei der Base sein. Eine andere Zuflucht gab es vorläufig thatsächlich nicht, und ich hatte auch das Gefühl, als wäre sie die Einzige, die mich schützen könnte.

Nur dies Morgen nicht hier erleben! Das war’s, was zunächst geschehen mußte; dann weiter auf eigenen Füßen. Tausendmal lieber das knappste Brot, als –

Ich zog mein Jackett an, nahm Pelzmütze und Muff, hing die Tasche über den Arm und verließ das Haus. Dem unbändigen Gelächter nach, das aus der Dienerstube erscholl, hatt ich nicht zu befürchten, jemand im Hofe zu treffen. Mir begegnete auch niemand, auch auf dem ganzen weiten Weg von der Stadt nach dem Bahnhof traf ich keinen, der mich näher kannte; der eisige Wind hielt alles in den Stuben, und in Westenberg ging man überhaupt abends kaum mehr aus.

Den Hundertmarkschein der Base – ich mußte ihn schon benutzen – brauchte ich wenigsteus nicht an dem schlecht beleuchteten Schalter wechseln zu lassen; meine kleine Barschaft reichte zu einer Karte dritter Klasse bis Magdeburg. Ich fuhr dritter Klasse, weil ich nicht wußte, wann ich imstande sein würde, der alten Frau meine Schuld zurückzuzahlen. Ein junger Kassierer, der mich jedenfalls nicht kannte, gab mir die Fahrkarte, und ich hatte gottlob noch nicht lange auf dem windigen Bahnsteig gestanden, da kam der Zug angebraust.

Ich stieg in das nicht übermäßig besetzte Frauencoupé – ein schriller Pfiff, ein grelles Läuten und langsam setzte die Wagenreihe sich in Bewegung. Ich war in meinem Leben erst ein einziges Mal verreist gewesen, als kleines Kind nach Köln, der Heimat Mamas, und das bange Gefühl, das den Neuling im Reisen ergreift, überkam mich während der ersten Stunde mit vernichtender Gewalt. Ich hatte einen Fensterplatz und starrte in die schneehelle Nacht, in die der Zug hineinbrauste. Mit rasendem Gerassel ging’s durch die kleinen Bahnhöfe; in weiter Ferne blitzten Lichter von verschneiten Dörfern auf, oder zogen sich die schwarzen Striche der Kiefernwälder hin, dann wieder endlose unabsehbare Schneeflächen, auf denen der Dampf der Lokomotive einen Reigen gespensterhafter Figuren aufführte, und dazu das Pfeifen des Windes, der an der Wagenreihe entlang strich.

Neben mir faß schlafend ein junges Mädchen; sie hatte die Augen geschlossen und um ihren Mund spielte ein glückliches Lächeln. Sie hielt im Arm, fest an sich gepreßt, ein Paket, das ihr aber endlich bei einer Bewegung, die sie im Schlummer machte, entfiel. Sie erwachte und sah, daß ich mich bückte und es ihr aufhob; sie [744] dankte sehr freundlich und fing ein Gespräch an. Wo ich hin wolle? Wo ich her käme? Sie habe ja gar nicht gesehen, daß ich eingestiegen sei.

Ich antwortete kurz: „Nach Thüringen.“

„Nun, da reisen wir zusammen“ meinte sie, „ich will heim, um meine Aussteuer zu nähen; ich war bis vor kurzem in Stellung in Hamburg, und zu Weihnachten haben wir Hochzeit. Mein Vater ist Kantor in Quersleben.“

„Ich will auch in die Gegend,“ sagte ich, „Quersleben ist meine Endstation. Wenn Sie erlauben, machen wir die Reise miteinander.“ Sie nickte, wickelte ein Butterbrot aus und begann zu essen. „Darf ich Ihnen anbieten?“ fragte sie.

„Danke sehr, ich nehm’ es sehr gern an!“ Und ich aß mit der kleinen Kantorstochter Hamburger Schwarzbrotschnitten, denn ich hatte seit Mittag nichts genossen. Sie thaten mir wohl, diese Butterbrote und diese Freundlichkeit.

„Man bekommt gleich andern Mut,“ bemerkte die Kleine, „wenn man satt ist,“ und bot mir nochmals an. Leider glaubte sie nun das Recht zu haben, mich etwas auszufragen, begriff aber sehr bald, daß ich das nicht liebte, und beruhigte sich mit den Worten: „Sie wollen wahrscheinlich aufs Amt in Langenwalde, die Inspektorsfrau hat ja immer solche, die die Wirtschast lernen wollen.“

Als ich schwieg, schwieg sie auch, und dann schlief sie abermals ein und träumte von ihrem Schatz, denn sie lächelke wieder im Schlaf. Das Treiben auf dem Bahnhof in Magdeburg, wo wir übrigens eine Stunde zu warten hatten, verwirrte mich etwas; ich war ja, wie gesagt, Neuling im Reisen. Meine resolute Begleiterin aber verschaffte mir die Fahrkarte und sorgte, daß wir Kaffee bekamen, und um halb zwei Uhr fuhren wir glücklich wieder weiter. Um Neun früh sollten wir in Quersleben sein.

„Ich freue mich auf den Schnee in den Bergen,“ sagte die Kleine, „weil’s dann gar so gemütlich zu Hause ist. Und meine Mutter, die ist so glücklich, daß sie mich noch ein paar Wochen hat, ehe ich heirate. Bin so zwar auch nicht bei ihr gewesen, unsereiner kommt ja schon aus dem Hause, sobald er vierzehn ist, aber so vom Ladentisch weg hätt’ ich nicht mögen heiraten, wenn man seine Heimat noch hat.“ Ich hörte ihr zu mit brennenden Augen.

„Sie haben doch Ihre Eltern noch?' fragte sie.

„Nein mein Vater ist tot.“

„Ach, das thut mir leid! Aber die Mutter?“

Es mochte beim Zurückdrängen des Schluchzens ein eigentümlicher Laut aus meiner Kehle gekommen sein, denn sie fuhr erschrocken fort: „Gott, nun weinen Sie! Aber Sie müssen nicht weinen, mein Vater sagt immer, über Waisenkinder hält der liebe Gott einen erwa großen Parapluie.“

Ich mußte lachen bei diesem Gleichnis, und doch saßen die Thränen mir bedenklich nahe. Und nun kam die kleine Geschwätzige auf ihren Zukünftigen. „Nein, so ein braver Mensch, und so gar nicht oben aus und so sparsam, und wie er seine Sache versteht! In der ganzen Steinstraße hat keiner so schönen Reis und so delikaten Käse wie er, weil er’s Einkaufen versteht, wissen Sie. Und wie er die Kunden zu behandeln weiß, alle Köchinnen aus der Straße kommen nur in unsern Laden. Er ist man ein ‚büschen‘ klein,“ schaltete sie auf gut hamburgisch ein, „aber sie kommen doch. Nun und ich versteh’ ja auch mit dem Publikwm umzugehen und ob man nu Kaffeebohnen verkauft oder Weißwaren – Handel ist Handel, und wir werden schon machen, daß wir vorwärts kommen und daß wir ’mal auf unsere alten Tage in Blankenese oder da herum ein eigenes Häuschen haben, wo wir dann vor der Thür sitzen und uns ausruhen.“

Mir that die harmlose Plauderei wohl, nichts erfrischt so sehr, als wenn man im eigenen Elend sieht, daß doch noch Glück in der Welt ist; es giebt Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihm.

Und die Nacht verging, und der kalte weiße Wintermorgen fand uns schon auf der schmalspurigen Zweigbahn, die in die Berge führt. Nie im Leben hat mich so gefroren wie in dem Wagen mit den vereisten Fensterscheiben in deren Eisblumen meine Reisegefährtin ein paar winzige Löcher gehaucht hatte, durch die wir die hohen weißen Berge sehen konnten.

„Ja, hier ist’s freilich kälter wie dort unten,“ meinte die Kleine, „aber ’s ist nicht mehr weit, nur noch zwei Stationen. Sie haben sich aber auch gar so wenig warm angezogen für solche Reise, und nun wollen Sie noch mit der Post weiter?“

„Ja“ sagte ich, „nach Langenwalde.“

„Na, ich dacht’s ja schon. Aber da können Sie ja das Stückchen mit Hübner seinen Milchschlitten fahren, ’s ist gar nicht weit – das sollt’ mich doch wundern, ob Hübner sein Milchschlitten nicht da ist,“ setzte sie hinzu.

Anneliese von Sternberg auf dem Milchschlitten! Ich mußte lächeln, aber, siehe da, es kam so. Als ich mit eisigen Füßen und vor Kälte blau auf dem Perron des Querslebener Bahnhofs stand, der so malerisch von hiwmelhohen Edeltannen umgeben ist, da sah ich einen wunderlich ungefügen Schlitten mit zwei übergroßen Pferden bespannt, und aus dem Bretterkasten des Gefährtes blickte wie Silber die blecherne Milchkannen. Meine Reisegefährtin, die von einer vor Freude weinenden einfachen Frau in Empfang genommen worden war, kam zurückgelaufen und rief: „Rasch, Fräulein, ich will Sie zu Hübners Schlitten bringen; er ist zufällig heute selber da, der Hübner, sagt meine Mutter.“

Eben wollte der große breitschultrige Mann wieder auf den primitiven Kutschersitz steigen, da rief die helle Mädchenstimme: „He, Herr Hübner, hier haben Sie noch einen Passagier! Das Fräulein möchte mit nach Langenwalbe!“

Er wandte sich erstaunt um, und ich blickte in ein ruhiges verständiges Männergesicht, von braunem Vollbart uwrahmt, in dem der Reif voreilig silberne Fäden gezogen hatte. „Eine Dame nach Langenwalde? Na, da soll sie aufsteigen, kommt schneller hin wie mit der Post. – Tag, Fräulein,“ wandte er sich an meine Beschützerin, „na, wieder daheim? Das ist ’ne Lust für Mütterchen – schön guten Tag, Frau Kantor!“

Ich saß bald neben ihm, und ohne zu fragen woher und wohin? trieb er die Pferde an und wir fuhren in die winterliche Pracht hinein. Ich hatte noch nie Berge, noch nie so stolzen Wald gesehen, und trotzdem mir die Seele im Leibe fror und die Augen im Kopfe schmerzten, starrte ich doch wie bezaubert in diese Märchenwelt. „Wie schön, ach wie schön!“ sagte ich.

„Ja, ’s ist schön hier, auch im Winter,“ gab er zu, „das macht der ewig grüne Tannenwald, Fräulein. – Aber friert Sie denn nicht?“ fuhr er fort. Und er griff hinter sich und holte die noch warme Pferdedecke vor und ich ließ mich einmummen in die groben Tücher mit ihrem scharfen Geruch und hätte dem Manne die Hand drücken mögen, so wohl that mir diese Freundlichkeit. Und weiter, am vereisten Bache entlang ging es, immer feierlicher wurde es, immer stolzer strebten die Bäume empor, und wie Friedensglocken läuteten die Schellen der dampfenden Pferde. Sonst kein Laut weit und breit, immer nur der Dreiklang – kling! kling! kling! Eine ungeheure Müdigkeit überfiel mich plötzlich, während wir langsam bergan fuhren. Vergebens suchte ich ihrer Herr zu werden. Kling, kling, kling – zitterte der Glockenton durch die dünne Luft; ich sah noch ein paarmal, mich zusammenraffend, die verschneiten Bäume, hörte noch die Glöckchen, fühlte noch das Gleiten des Schlittens, und dann wußte ich von nichts mehr. Ich schrak erst jäh empor durch ein heftiges Schütteln; jemand hatte mich an der Schulter gepackt.

„Jesus, Annelieseken – aber Kind, Kind, wachen Sie doch auf!“

Und wie ich ganz benommen umherblickte mit den weit geöffneten Augen, da sah ich ein schloßartiges Gebäude, vor dessen Freitreppe der Schlitten hielt, und sah Personen auf dieser Treppe, sah den großen Mann, der mich hergefahren und die Frau, die mich schüttelte, neben mir im tiefen Schnee stehen, und das war die Base.

„Base!“ schrie ich auf und wollte emporspringen aber die Glieder waren mir wie gelähmt.

„Mein Gott, Fräulein Anneliese,“ jammerte die alte Frau, „wo komme Sie denn bei so ’ner Kälte her? Nun haben Sie sicher etwas erfroreu!“

Und dann fühlte ich mich emporgehoben von den Armen des großen Mannes. „So,“ sagte er, „nun in die Stube, Base, zum Auftauen; wir haben vierzehn Grad Kälte heute früh, trotzdem die Sonne über Berg und Thal lacht.“ Und als sei ich leicht wie eine Feder, trug er mich die Treppe hinauf, vorbei an ein paar kichernden Mädchen und einer lächelnden rundlichen Frau. Die Base folgte uns, die Hände wiederholt zusammenschlagend vor Bestürzung, und die große behagliche Frau rief uns nach, sie werde gleich Thee besorgen, die Base solle mich nur derweil ins Bett stecken. So kam ich durch die Halle die breite Treppe hinauf, und dann wurde eine Thür geöffnet und ich stand auf meinen Füßen, die ich vor Kälte kaum fühlte.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 45, S. 758–760

[758] Guten Morgen, Fräulein,“ sagte Herr Hübner, als er mich ins Zimmer der Base gebracht hatte, „wohl bekomm’ die kalte Fahrt! Ich hatt’ ja keine Ahnung, daß Sie zu unserer Base wollten. Hätt’ freilich auch nichts weiter thun können, als Sie daher bringen. Nur nicht gleich zu nahe an den Ofen,“ warnte er; dann ging er.

Und nun nahmen mich ein paar alte und doch so linde Hände in Empfong, die drückten mich auf das Sofa und zogen mir die Lederstiefel von den kalten Füßen und große Filzschuhe dafür an, ach so weich und warm! Und während ich schon halb wieder im Schlafe lag, wurde mir ein Kissen unter den Kopf geschoben und der Mantel ausgezogen, dann schluckte ich warme kräftige Brühe und dazwischen hörte ich die besorgte Stimme der Base und eine andere tröstende Stimme. „Ei, Kälte macht müde, Base, und sie ist die ganze Nacht gefahren.“

Dann sagte die Base: „Aber wie sie sich verändert hat! ’s ist gar nicht mehr das runde Kindergesicht.“

„Man kann nicht ewig ein Kind bleiben. Lassen Sie sie schlafen, Base, das Beste ist der Schlaf.“

Und ich schlief. Ich wachte erst auf, als es schon ganz dämmerig war; ach, und wie traut war das Erwachen! Der Feuerschein des Ofens spielte auf weißen, von dunklem Holzwerk durchquerten Dielen. durch die Fenster sahen hohe verschneite Tannen herein; an der weiß getünchten Wand über der geschweiften Kommode mit den blitzenden Messingschlössern tickte eine altmodische Uhr und im Lehnstuhl am Ofen saß die Base und spann. Ich rührte mich nicht, sondern ließ den wohligen Zauber voll über mich ergehen. Endlich trippelte sie durchs Zimmer, beugte sich zu mir nieder und lauschte, ob ich noch schlafe.

„Base,“ sagte ich, „ich bin ausgerissen! Sie haben mir ja erlaubt, zu kommen, und daß ich’s nur gleich gestehe, geborgt habe ich auch von Ihnen – zwanzig Mark, ich bringe nur achtzig mit aber, sehen Sie, ich konnte mir von niemand Geld geben lassen zu dieser Reise.“

„Ich weiß schon, ich weiß alles, Anneliese, wenn Sie nur nicht krank werden!“

„I Gott behüte! Aber woher wissen Sie denn, daß – –“

„Es ist eine Depesche gekommen.“

„Ich gehe nicht wieder zurück, Base!“ rief ich, mich mit einem Ruck aufrecht setzend.

„Nein, nein!“ beruhigte mich die alte Frau, „Sie sollen sogar vorläufig hier bleibeu, Fräulein Anneliese; da steht’s: ‚Meine Tochter wünscht für einige Zeit in Langenwalde zu bleiben. Bitte, ihr den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen. Koffer folgen. Wollmeyer.‘“

Ich starrte wortlos in das Gesicht der Base, das nur noch undeutlich zu erkennen war. Was wollte er nur? Sollte ich bleiben – oder nicht?

„Base,“ sagte ich endlich, „so geht es nicht; ich muß weiter, „ich kann nicht bleiben. Wissen Sie nicht eine Stelle für mich auf Gottes weiter Erde, wo ich Herrn Wollmeyer nicht wieder zu begegnen brauche? Ich bin hierher geflüchtet, aber nur um Rat von Ihnen zu holen und um eine vorläufige Hilfe – –“

„Was um Gotteswillen ist denn geschehen?“ fragte sie, und nun brauste das ganze Leid der letzten Tage über meine Lippen wie ein Sturzbach. Sie unterbrach mich nicht, sie stand regungslos vor mir und hörte zu.

„Ich habe mir das alles gedacht, Anneliese,“ war das einzige, was sie sagte, als ich geendet hatte.

„Und was soll ich thun, Base?“

„Bleiben Sie nur vorläufig ruhig hier, Anneliese, ganz ohne Bange und Furcht. Hier geschieht Ihnen nichts,“ sagte sie einfach. „Wir werden ja sehen, was weiter folgt. Seien Sie aber ganz ruhig; er thut vorläufig gar nichts, glauben Sie mir. Denken Sie doch: um der Mama willen dürfen Sie jetzt nicht fort in die Welt – das sehen Sie doch ein?“

„Und wenn er herkommt – mit Brankwitz!“

„Er kommt nicht!“ erklärte sie bestimmt. „Vorläufig bleiben Sie hier, und wir reden nicht von der Soche. Sie müssen erst wieber anders aussehen.“

„Ach, Base, wenn ich in solcher Ungewißheit lebe, da werde ich nicht gesünder.“

„Ungewißheit? Keine Spur! Sie meinen wohl, ich helfe Sie verheiraten an den? Nein, Anneliese, eher –“ und sie trat einen Schrizt näher zu mir und ihre Stimme bebte eigentümlich, „eher thue ich etwas, das . . . das –“ Sie brach ab. „Aber das wird nicht nötig sein,“ murmelte sie, „er überlegt sich’s!“

„Sehen Sie, Base,“ sprach ich weiter, „der Brankwitz, der liebt mich ja gar nicht, er sagt’s nur so, er hat irgend einen andern Grund, warum er mich heiraten will. Er denkt wahrscheinlich, ich bekäme dereinst Wollmeyers ganzes Geld.“

Sie schüttelte den Kopf. „Gott weiß, was er denkt, aber nebenbei haben Sie ihm auch gefallen. Wenn er hätt’ nach Geld freien wollen, da hätt’ er’s gewiß schon lange thun können. Es giebt genug Mädchen, die sein ,von‘ teuer bezahlen würden.“

„Base, ich bitte Sie!“ flüsterte ich, peinlich berührt.

„Was denn?“

„Base, ich muß Ihnen noch ’was erzählen – ich wäre sicher nicht davongelaufen, aber – ja, Sie können mir gewiß Näheres berichten: in welcher Beziehung steht denn nur Wollmeyer zu Herrn von Brankwitz?“

Die alte Frau seufzte. „Weshalb, Fräulein Anneliese?“

„Ich habe gehört, wie Frau Sellmann sagte, ihr Bruder solle ihm nur drohen mit – mit was, das weiß ich eben nicht – dann würde mein Stiefvater schon alles dransetzen, daß ich einwillige.“

Sie sah plötzlich totenblaß aus, die alte Frau, und ihre Lippen preßten sich fest aufeinander.

„O, es ist da irgend etwas, etwas Unheimliches, erzählen Sie mir’s, Base!“

„Es ist nichts,“ antwortete sie heiser.

„Ja, o ja! Ich bin kein Kind mehr – sagen Sie es mir!“

„Nein, Anneliese, ich kann nichts sagen, und wenn ich’s könnte, ich thät’s nicht verraten. Und sehen Sie, es giebt Sachen – Sachen – ach, Gott behüte und bewahre Sie davor und jeden andern Christenmenschen!“

„Sind denn Wollmeyers und Brankwitzens verwandt?“

„Nein, nein! Aber liebes Fräulein Anneliese, fragen Sie nicht weiter! Es kann eine Last schon sehr schwer sein, wenn einer sie trägt, tragen mehrere daran, so wird sie immer schwerer, immer schwerer, und was einer noch schleppt, darunter erliegen zwei. So ist’s hier. Lassen Sie mich’s allein weiter tragen, lieb Kind, Sie sind ja noch viel zu jung, Sie würden es auch gar nicht verstehen. Quälen Sie mich nicht, Annelieseken!“

„Base, ist’s denn etwas Schlechtes? Kann ich dadurch gezwungen werden. den schrecklichen Menschen zu heiraten?“

„Nein, nein, um fremder Schuld willen sollen Sie nicht leiden,“ sagte sie, „ich bin noch da, Annelieseken, und so lange ich lebe, da werden Sie nicht der Preis – der – ach, was schwatz’ ich denn, es ist ja gar nichts, nein, gewiß nicht! Seien Sie ruhig, Sie können hier so sicher sein wie in Abrahams Schoß!“

„Nein, das glaube ich Ihnen nicht!“

„Jawohl, das können Sie glauben. Alte Geldgeschichten werden sie gemeint haben, die Brmnkwitzens, zwischen Kaufleuten kommt so ’was vor, wissen Sie. Dem Brankwitz seinem Vater hat einmal die Mühle gehört, damals, als Wollmeyer verkaufen mußte, und dann hat Wollmeyer sie zurückgekauft und da hat’s etwas gegeben wegen Mein und Dein, was weiß ich! Kommen Sie, Anneliese, essen Sie, Sie werden hungrig sein!“ Und sie strich mir das wirre Haar aus der Stirn, redete von allem Möglichen, schraubte dabei die Lampe höher und trug mir ein Abendbrot herbei, so zierlich und nett, daß auch der gesättigtste Mensch Appetit bekommen hätte, und der Thee duftete aus der alten Zinnkanne, die so blank wie Silber gescheuert war. Dann brachte sie mich zu Bett wie ein kleines Kind; das Bett war ein Himmelbett und stand im Nebenraum, einem großen dreifenstrigen Zimmer mit altmodischen Fichtenmöbeln und getäfelter Decke, und die Wäsche roch ganz fein nach Lavendel, und ein Nachtlicht brannte, damit ich mich nicht fürchten sollte, und eine riesenhafte kupferne Wärmflasche war da in den schneeweißen Kissen, die ich gleich [759] hinauswarf, und ein Glöckchen auf dem Tisch am Bett, um die Base zu rufen.

„Ach,“ sagte ich schlaftrunken, „wie kann man nur in die Stadt ziehen, fort aus so herrlicher Gegend und einem so gemütlichen alten Hause? Da verstehe ich nun wohl, daß Frau Hannchen die Sehnsucht nicht los geworden ist.“

„Ja, es giebt mancherlei, was die Menschen wandern heißt,“ antwortete sie. Sie machte sich plötzlich in der Nebenstube zu schaffen; sie hatte wohl Angst, ich möchte aufs neue sie ausfragen.

„Base,“ rief ich nach einer Weile, aus dem ersten Hinüberdämmern auffahrend, „Base, kommen Sie rasch, ich muß Ihnen etwas erzählen!“

Sie kam auf ihren weichen Pantoffeln. „Schlafen Sie doch, liebes Annelieseken,“ bat sie.

„Nein. Base. Denken Sie nur, gestern war ich auf dem Kirchhof, und da stand jemand an Hannchens Grabe, ein großer schöner, schlanker junger Mensch, und mir ist, als hätte er Aehnlichkeit gehabt mit der Photographie von Robert Nordmann.“

Sie antwortete nicht; sie hielt den Atem an und ich fühlte, wie ihre Hand zitterte, die auf der meinen lag.

„Ja, und da dachte ich, ob’s nicht vielleicht Ihr Robert gewesen sein könnte,“ fuhr ich zögernd fort.

Sie blieb lange still, endlich sagte sie: „Weil da einer grad’ an ihrem Grabe gestanden ist? Ach, Annelieseken, ach, ich wollt’, Sie hätten’s mir nicht erzählt. Nun bildet man sich wieder ’was ein, und es wird ja doch nimmer wahr!“ Und sie ging leisen Schrittes hinaus, und im Nebenzimmer hörte ich sie weinen und mit sich selbst flüstern.

Dann erlosch plötzlich das Licht nebenan, und es ward still, ganz still, und nun kam der Schlummer.


Das Erwachen am andern Morgen war nicht ungetrübt. Ich hatte schwer und ängstlich von Mama geträumt, sie sei krank geworden und gestorben, und meine Schuld sei es gewesen, hatte sie mir im Sterben gesagt, und weil der alte thörichte Aberglaube mir in den Sinn kam, daß das, was man in der ersten Nacht an einem fremden Orte träume, unfehlbar wahr sei, stand ich zu allem andern noch unter dem Druck dieser Angst und konnte an nichts denken als an das blasse verzerrte Gesicht Mamas. Meine Phantasie malte mir unglaubliche Situationen aus. Ich überlegte mir Mamas ganzes Gebahren nochmals, ich erzählte auch der Base ausführlich, wie merkwürdig aufgeregt sie gewesen sei und wie es ihrem ganzen Charakter zuwiderlaufe, mich zu einer Verlobung zwingen zu wollen. Sie hatte doch früher immer gegen mich und gegen andere geäußert, nie werde sie sich in eine Herzensangelegenheit zu- oder abredend einmischen, und sei es auch bei ihrem eigenen Kinde; das müsse ein jedes mit sich selbst abmachen Die Base war auch recht niedergeschlagen und gab mir kaum eine Antwort. Sie versuchte dann im Laufe des Tages mich etwas aus meinem Hinbrüten aufzurütteln, indem sie mich in dem alten Herrenhause umherführte. Aber die meisten Stuben und Säle waren unmöbliert und die Kälte in den seit Jahren unbewohnten Räumen so eisig, daß sie wieder davon abstand. Ich stieg dann mit ihr die Treppe hinunter, sagte der Frau Inspektor Hübner Guten Tag – Hübners bewohnten das linke Erdgeschoß – und sah mir das halbjährige Kindchen an; die Geschwister waren in der Schule und einer gar schon drunten in Gotha auf dem Gymnasium. Die Base und Frau Hübner zeigten mir auch den Milchkeller, die Obst- und die Flachskammer, ja sogar in den Kuhstall locktnu sie mich, und die Augen der alten Frau bekamen einen feuchten Schimmer, als ich auf ihre Frage, ob es mir gefalle, antwortete: „Sehr, Base, es ist sehr schön hier!“

„Und schauen Sie, Fräulein Anneliese, dort über dem Bach drüben, das große Gebäude, das ist die Mühle, und dort hinter dem Lindengipfel die zwei Fenster im Giebel, da habe ich meine Jugend verlebt.“

Wir standen in dem offenen Hofthor des Herrenhauses, wie es genannt wird, und ich ließ meine Augen hinüberschweifen. Es war ein so trauliches Winterbild, dieses spitze verschneite Giebeldach der Mühle mit der riesigen Linde, dem gefrorenen Bache, und als Staffage der mit weißen Säcken beladene Frachtschlitten mit den kräftigen Pferden davor. Dahinter stiegen die Berge empor, und seitwärts dehnte sich das Thal mit dem Dörfchen, aus dessen Schornsteinen sich der bläuliche Rauch emporkräuselte. Das Kirchlein lag höher am Berge und blickte wie eine wachsame Mutter auf die Häuser und Hütten hinunter.

„Das ist Langenwalde,“ sagte die Base, „und das große Haus nicht weit von der Kirche ist die Schule, da bin ich oft gewesen, wie Nordmanns noch dort wohnten, kaum fünfundzwanzig Minuten ist’s von hier. Es ist lange her.“ Sie seufzte. „Auf der Landstraße dort kam er manch liebes Mal gelaufen, der Junge, und holte sich von der Pate einen Groschen oder ein Stückchen Kuchen – ich hab’ ihn nämlich über die Taufe gehalten, Annelieseken! Da kam er denn auch an dem schrecklichen Tage mit so todesbangen Augen zu mir: ,Base, die Mutter – sollst zur Mutter kommen! Die Mutter ist krank!‘ Und wie ich, das Kind an der Hand, atemlos ins Schulhaus trete, da hat sie schon keine Besinnung mehr, und sie hat sie auch nicht wieder bekommen. Ein Schlagfluß ist’s gewesen, und nach drei Tagen war sie tot – und dann ging’s so weiter ins Unglück hinein.“

„Ja, ja, Base, ich weiß, das waren die Streitigkeiten um Mein und Dein, die Du gestern angedeutet hast, und die Brankwitzens waren dabei.“

„Ja, der Vater hat dann die Mühle gekauft – das Gut hier gehörte ihm ja schon, Anneliese,“ sagte sie kurz. „Vorher hatte es ein adliger Herr aus Gotha, aber der scheint mehr Jäger als Landwirt gewesen zu sein – so heruntergewirtschaftet war’s . . . man konnte es um ein Billiges haben. Na, und als dann Wollmeyers wieder zu Gelde kamen, hat er die Mühle zurückgekauft und das Gut dazu – das ist alles. Und das wissen Sie ja auch schon!“

Ich schwieg, ich wußte, daß es nicht alles war, aber auch, daß ich jetzt nicht mehr davon erfahren würde. Mich fror und ich verlangte nach oben.

„Die Erkältung meldet sich,“ sagte die Base.

Und dann saß ich am Fenster und schaute in die Schneelandschaft und sah das Dörfchen liegen und die einsame Landstraße und sah, wie gegen drei Uhr schon die letzten Sonnenstrahlen die Berggipfel verließen. Die Base spann und schwieg, sie mochte eingesehen haben, daß es das Beste sei.

„Base“ sagte ich endlich, „ich halt’s nicht weiter so aus mit meinen Gedanken, ich muß etwas thun, ich muß fort!“

„Aber, Fräulein Anneliese, so warten Sie doch nur erst Briefe ab und Ihren Koffer, Ihre Bücher,“ tröstete sie. „Und was die Hübner ist, die leiht Ihnen auch ihr Pianino, wenn Sie’s wollen, sie hat’s schon gesagt.“

Ich ging im Zimmer auf und ab wie ein Gefangener in seiner Zelle. Einsamkeit ist ja wundervoll, aber dazu gehört das völlige Gleichgewicht der Seele.

„Wann kommt denn der Briefträger, Base?“

„Um sechs Uhr abends.“

„Noch zwei Stunden!“ seufzte ich.

Die Base ging fort, dann kam sie wieder und brachte einen kleinen Teckel. „Der ist lustig, Annelieseken, der ist, als hätt’ er Menschenverstand.“ Und wirklich, der kleine Geselle unterhielt mich dann so urkomisch, daß ich die Wartezeit leidlich überstand.

Richtig, ein Vrief von der Komtesse! Er war gestern nachmittag zwischen vier und sechs Uhr zur Post gegeben, konnte also das Neueste über die Wirkung meiner Flucht enthalten. Ich riß den Umschlag auf und las:

 „Meine liebe Anneliese!“

Das klang ja sehr feierlich!

„In meinem Leben mische ich mich nicht wieder in die Familienangelegenheiten anderer Leute, denn es ist nicht angenehm, wie Du Dir denken kannst, von Herrn Wollmeyer, sozusagen, darum gebeten zu werden, Dich fernerhin nicht mehr mit meinem Rat zu unterstützen. Du hast leider, mein liebes Kind, meinen Rat befolgt, Du bist ausgerissen. So habe ich das aber selbstverständlich nicht gemeint, ich wollte Dich nach Hamburg bringen wie Du weißt, dann hätte es Art gehabt. Was blieb mir übrig? Ich ging nach Empfang Deiner Zeilen zu Len’. Sie lag noch im Bett, und Dich hatte noch niemand vermißt, das Stubenmädchen war mit dem Thee zwar an Deiner Thür gewesen, hatte sich aber dann, in der Meinung, daß Du schliefest, wieder zurückgezogen. Ich befand mich demnach in der beneidenswerten Lage, die erste Ueberbringerin der Alarmnachricht zu sein. Ich setzte mich also ans Bett zu Len’ – Dein Stiefvater frühstückte mit seinen Gästen, [760] hatte man mir gesagt – und richtete Deine Bestellung aus. Len’, die sehr unruhig war, als ich kam, schien wunderlicherweise durch Deinen Geniestreich beschwichtigt zu werden; sie legte sich wie kraftlos in die Kissen zurück und faltete die Hände. Ich kann’s nicht beschwören, aber ich hab’ gehört, wie sie ,Gott sei Dank!‘ murmelte. Darum brauchst Du aber nicht zu denken, mein kleines Schaf, daß Du wirklich etwas Geniales ausgeführt hast! Len’ hatte sich wahrscheinlich nur vor der Scene gefürchtet, die unvermeidlich war, wärst Du geblieben. Ich sage auch, im Grunde hast Du recht, aber wie Sache hätte doch mehr comme il faut gemacht werden können! Mit Deinem Stiefvater, der plötzlich erschien, kam nun aber die Scene. Er war sehr aufgebracht, mein Kind. Ich habe schon viele zornige Männer in meinem Leben gesehen, aber ’s ist ein Unterschied; auch im Zorn kann man seine Haltung bewahren. Es giebt jedoch Menschen, die bei einer Kalamität sich benehmen wie die gereizten Stiere, brutal; sie trampeln nieder, was ihnen unter die Füße kommt, gleichviel, ob Freund oder Feind. Dein Stiefvater glaubte also, Deine Mutter habe Dir den Gedanken eingegeben, zur Base zu flüchten; Len’ that mir leid, und ich beeilte mich daher, das rote Tuch zu schwenken, nur seinen schnaubenden Zorn auf mich zu lenken. Ich sagte ganz kurz: ‚Sie irren sich, Len’ ist unschuldig, ich habe Anneliese zu der Reise veranlaßt!‘

Du weißt, Kind, ich fürchte mich nicht; Deiner Mutter halber will ich auch das Meiste nicht gehört haben, was er mir sagte, verstehst Du? Ich blieb ganz ruhig, denn zornigen Menschen gegenüber ist das Kühlbleiben stets ein Vorteil. Er kam auch sehr bald zu sich, fing an, um Entschuldigung zu bitten, mir die Hand zu küssen, sprach von ersterbender Verehrung für mich und seiner Sorge um Dich, da er doch Dein Vormund sei, und verfiel schließlich von selbst auf das einzig Richtige, nämlich Dich vorläufig in Gottesnamen in Deinem selbstgewählten Asyl zu belassen. Man wird hier also sagen, daß der Sanitätsrat Luftveränderung für Dich gewünscht habe. Als Wollmeyer gegangen war, um der Base zu telegraphieren, da packte mich Len’ am Mantelkragen und beschwor mich, Dich zu bitten, um Gotteswillen nichts zu unternehmen ohne ihr Wissen, bevor sie persönlich mit Dir gesprochen habe. Ich hoffe nun, daß Du keinerlei romantischen Gelüsten nachgiebst; es ist sehr bunt da draußen in der Welt, mein Kücken, und Du bist am wenigsten diejenige, die sich ohne weiteres zurechtfindet. Außerdem – hast Du Rücksichten auf die Gesundheit Deiner Mutter zu nehmen! Sie wird Dir übrigens schreiben. Wollmeyer wünschte den Grund Deiner Abneigung gegen Br. zu wissen. Ich sagte ihm nur, das sei doch schließlich nicht so unbegreiflich, übrigens ließen sich ja Sympathien und Antipathien nicht ergründen, kurz und gut, Du hättest erklärt, Du liebtest ihn nicht. Jedenfalls sah er das nicht ganz ein, denn er zuckte die Schultern. – So, nun hätte ich Dir nur noch zu sagen, mein liebes Kind, daß ich Dir wünsche, die Angelegenheit löse sich gut auf. Wenigstens ist ein Waffenstillstand erreicht.

Ich will sehr gern dann und wann Deine gute Mama besuchen, kann Dir aber nicht verhehlen, mein Kücken, daß ich mich um diese## Angelegenheit nicht mehr kümmern werde. Man soll nicht blasen, was einen nicht brennt, weißt Du. Josephine muß mir eben wieder Kamillenumschläge machen; Galle und Leber sind schlechte Bundesgenossen für ein Herz, das so geartet ist wie das meine, und dreiundsiebzig bin ich nun auch gewesen vor zwei Monaten. Ich gebe Dir den Rat, bleib’ Deinem Gefühle treu; bist zwar ein Tollkopf, hast aber richtige Gedanken. – Erkälte Dich nicht, da oben ist’s schon mehr Sibirien; hab’ mir ’mal auf einer Schlittenpartie in den Thüringer Bergen das rechte Ohr erfroren. Grüße die alte Base, sie soll gut aufpassen auf Dich. Es

umarmt Dich, meine liebe Anneliese,
Deine alte Freundin  
Henriette Komtesse von D.“ 

Der Brief brachte mir keinen Trost, konnte mir keinen bringen – im Gegenteil! Die Komtesse wollte nichts mehr von der Angelegenheit wissen, sie verließ mich; Wollmeyer hatte sie verletzt, die Sache aber nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben. Was gab’s da anderes, als allmählich mich vorzubereiten auf eine Flucht, eine ganz weite, in die Fremde? Aber als was? Durch Mama war ich aus meinen Studien gerissen worden, die ich allerdings auch meiner Krankheit wegen hätte aufgeben müssen – – Ja, als was? Ich hatte kein Examen gemacht, ach, und Lehrerin werden ist so schwer! Ich schüttle mich bei dem Gedanken heute noch ebenso wie damals – aber was half es? Ich wollte Musik weiter treiben, Musik war mir das liebste unter allen meinen Studien gewesen. Wenn man nur nicht so gänzlich ohne Kenntnis des Lebens geblieben wäre! So ohne eine einzige Seele da draußen, die mir die helfende Hand hätte bieten können! Außer der alten ungebildeten treuherzigen Frau besaß ich niemand.

Es waren dumpfe, trübe Tage, die nun folgten. Mein Koffer war gekommen, mit Kleidern und Wäsche, aber die Bücher hatte man mir nicht mitgesandt, ebensowenig meine Noten. Ich schrieb darum, erhielt aber keine Antwort. Ich war gewöhnt, mich geistig zu beschäftigen, ich las immer viel – Papas Bibliothek stand mir zur freien Verfügung, ich spielte gern und oft Klavier und vermißte das alles nun bitterlich. Frau Hübner brachte mir ihre „Bibliothek“, es waren ein paar Jahrgäuge einer illustrierten Zeitung und eine Sammlung Kalender. Die Base riet mir, beim Pfarrer einen Besuch zu machen, es seien da sicher Noten, Bücher und auch junge Mädchen. Ich fand die Frau Pastorin und ihre Töchter – ich glaube fünf ober sechs – in eifriger Näharbeit bis über die Ohren, die Kleinen strickten um die Wette, und sie sangen dazu. „Es ist ein’ Ros’ entsprungen.“

Da packte mich ein wunderliches Gefühl inmitten dieses trauten Familienkreises. Mit einem wahren Heißhunger nach Glück und Liebe kehrte ich heim, setzte mich mit meinem Teckel aufs Sofa und schluchzte vor Sehnsucht nach Papa. „Base, wäre doch das Fest vorüber! Im vorigen Jahre war’s noch schön, obgleich ich krank lag. Ich weiß nicht, wie ich sie überstehen soll, diese Tage, wo man wie sonst nie ein Verlangen hat nach einer Heimat, nach einem Menschen, den man liebt. Wären sie doch vorüber, diese Tage, wär’ doch alles vorüber!“

Von Mama kamen ab und zu Briefe, sehr gehalten und voller Redewendungen, die ich sonst an ihr nicht gekannt hatte. Sie machten mir den Eindruck, als müßten sie bei Herrn Wollmeyer die Censur passieren, bevor sie abgesandt wurden. Von Brankwitz kein Wort, aber ich wußte ja, es war nur ein Waffenstillstand.

Die Base suchte mich durch allerlei kleine Arbeiten, um die sie mich bat, von meinem trostlosen Grübeln abzulenken, aber ich war nicht imstande, meine Gedanken zu bannen; unablässig sann ich auf einen Ausweg zu meiner Rettung. Wie konnte ich in meinem Kummer auch Interesse haben für Frau Hübners Butterfässer, für ihre neugeborenen Kälber, für die Apfelschnitze, die man abends auf lange Fäden reihte, um sie zum Trocknen an den Ofen zu hängen, wo sie aussahen wie Guirlanden. Die paar Bücher, die mir Pfarrers geborgt, waren auch bald ausgelesen; mir neue zu holen, dazu verspürte ich keine Lust. Das Einzige, was mich aufrecht hielt, waren die einsamen Spaziergänge in der herrlichen ernsten Winterpracht. Stundenlang, jeden Tag lief ich umher mit dem Teckel zur Seite – ja, das war schön, das wirkte groß auf das Herz, das gab Mut! Aber dann, dann kam wieder halbe Tage lang das Schnurren des Spinnrads der Base, kamen die endlosen Abende, und die alte Frau und ich wußten uns nichts zu sagen; wir hatten jede dieselbe Not und alle unsere Gespräche gingen auf ein Thema hinaus – wie wird’s werden?

So kam Weihnachten heran. Ob ich wohl Nachricht von der Komtesse erhalten würde? Ich hatte ihr einmal geschrieben und ihr gedankt; eine Antwort war nicht erfolgt. Aber zu Weihnachten würde sie doch gewiß schreiben! In Mamas Briefen wurden weder sie noch andere Westenberger erwähnt – ich lebte wie in der Verbannung, immer eines Ueberfalles gewärtig.

Der Heilige Abend erschien, ehe ich’s gedacht. Bei Hübners drunten war der Gymnasiast angekommen; Herr und Frau Hübner hatten ihn abgeholt, und die heimkehrenden Pferde keuchten vor dem hochbepackten Schlitten. So viel Weihnachtspakete habe ich nie wieder auf einer Stelle gesehen. Der Postbote hatte einen Mann bei sich, der allerlei Kistchen in einer Kiepe auf dem Rücken trug, und ihm selbst hingen noch, mit einem Strick zusammengebunden, drei bis vier Stück über die Schulter. Ich sah dies alles beim Spazierengehen; gleich nach dem Mittagbrot war ich fortgewandert. Draußen in der freien Natur fühlte ich am wenigsten den Druck auf meiner Seele.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 46, S. 773–778

[773] Diesmal schritt ich nicht dem Dorfe zu, sondern in entgegengesetzter Richtung, ich mochte all die Weihnachtsvorbereitungen nicht sehen, was kümmerten sie mich! Auf der Landstraße inmitten der großen Wälder wurde ich am wenigsten an sie erinnert. Und so wanderte ich mit raschen Schritten thalabwärts; ein paar Holzschlitten begegneten mir, auf jedem lag ein Weihnachtsbäumchen. In der Luft hing viel Schnee, und einzelne weiße Flocken taumelten auch schon hernieder. Meine Stimmung wurde immer banger, immer trostloser; mein junges Herz schrie förmlich auf vor Sehnsucht. Ich hatte ja gar nichts, gar nichts in der Welt – Mama liebte mich nicht, nein, sie liebte mich nicht mehr; aus Sorge um mich hatte sie sich verkauft und hatte mich unglücklicher gemacht mit diesem Opfer, als ich es in Hunger und Not geworden wäre. Und das war das Schlimmste, sie hatte ihre Seele mit verkauft, sie empfand nicht mehr, daß sie half, mich elend zu machen, sie fühlte wie ihr Gatte, und wenn wirklich noch ein Restchen von Liebe für mich in ihr war, so würde auch dies sich bald einem andern Gegenstand zuneigen. Ach, wie schrecklich der Gedanke, einen Bruder oder eine Schwester zu haben, die man nicht lieben kann, die man hassen muß! O, ich haßte die Geschwister jetzt schon von ganzer Seele, wie nur ein liebebedürftiges verstoßenes junges Menschenkind zu hassen vermag. Und wie sie es verstanden, alle, alle, mich zu foltern! Ein Gefangener war besser daran, der durfte arbeiten für künftige Jahre der Freiheit – ich saß unthätig da. Ich hatte kein bestimmtes Ziel vor Augen, war wie ein unmündiges Kind, dessen Willen man nicht beachtet, weil es eben kindisch ist, und dem ein Urteilsvermögen nicht zugebilligt wird. Nicht ’mal einen Pfennig Geld besaß ich.

Mama hatte ich nicht darum bitten wollen, die Base auch nicht; auch nur ein kleines Weihnachtsgeschenk für die alte treue Seele zu besorgen war ich außer stande gewesen. Was sollte mir auch Geld, mochten sie denken. Man gab mir Kleidung und Essen und mehr wäre vom Uebel gewesen, ich hätte ja damit ausreißen können! Nur Zeit ließ man mir, Zeit in Hülle und Fülle, um über mich nachzudenken, um möglichst gründlich einzusehen, welch eine Thörin ich gewesen war, den reichen Freier auszuschlagen.

Ich ballte die Hände im Muff. Da rede man noch vom freien Willen eines Menschen, eines Frauenzimmers obendrein! Lag es in meiner Macht, mich dieser Lage zu entziehen? Sicher nicht. Auf welche Weise denn? Nicht einmal das Reisegeld bis zur nächsten größeren Stadt hätte ich gehabt, nicht ’mal so viel, um in den allerbescheidensten Gasthof zu gehen, bis ich eine Stellung gefunden, oder um ein Vermittlungsbureau oder eine Anzeige zu bezahlen. Ich konnte mich doch nicht auf der Landstraße weiter betteln. Es klingt so einfach: durch eigene Kraft, auf eigenen Füßen durchs Leben! Wie schwer ist es aber für ein Mädchen, das nicht von frühester Jugend auf dazu erzogen ist! Man hatte mich so erziehen wollen, aber das Kranksein, das unselige Kranksein! O, bettelarm war ich an Habe, an Schutz, an Liebe!

In diesen Gedanken hatte ich nicht darauf geachtet, welch [774] große Strecke ich gewandert war, und stand nun plötzlich an der Stelle der Waldstraße, wo sie sich um einen schroff vorspringenden Felsen windet und auf der anderen Seite steil nach einer Schlucht zu abfällt, geschützt durch eine einfache niedrige Mauer. Der letzte Tagesschein lag über der tannenbewachsenen Schlucht, über den Bergen, die rings umher aufstrebten; eine große ergreifende Einsamkeit umgab mich. Nichts rührte sich in diesen Wäldern, nur die Schneeflocken tanzten ihren stummen Reigen um mich her. Ich hielt den Atem an und lauschte. Ein Bangen überkam mich plötzlich – so still alles, so totenstill, nicht das Brechen eines Zweiges, nicht der Knall einer Peitsche, kein Schuß, der widerhallte in den Wäldern. Selbst der Wilderer jagte heute nicht – es ist Weihnachten, Frieden auf Erden für jede Kreatur, Frieden und Freude und ein trautes Sichfinden und Beieinanderbleiben – nur für mich nicht!

Da schüttelte mich ein wildes Herzeleid. Ich setzte mich auf das Mäuerchen in den Schnee und die Thränen rannen mir heiß aus den Augen. Wenn mich der liebe Gott lieb hat, dachte ich, läßt er mich hier nicht allein, dann schickt er mir jetzt etwas – etwas – einen Trost, ein Zeichen, daß es besser wird. Und so lange bleibe ich hier sitzen, und sollte ich darüber erfrieren. Finden sie mich hier tot – nun, so ist alles gut.

Und dann ließ ich mein naß geweintes Taschentuch sinken – es klangen Glocken herauf zu mir, abgetönte Schlittenglocken, wie sie die Postpferde hier trugen und ich begann zu überlegen, ob ich nicht mit zurückfahren solle, wenn Platz vorhanden wäre, denn es war stark dämmerig geworden und ich hatte noch weit nach Hause. Und plötzlich schmetterte das Posthorn durch den Wald.

„O Tannenbaum, o Tannenbaum –“

klang es so frisch, so weihnachtlich!

Aber das war doch nicht die gewöhnliche Post? Da bogen sie um die Ecke, die Postpferde, vor einem hübschen Schlitten, der Schwager mit dem Federbusch auf dem Hut nach Herzenslust blasend, und im Schlitten – ich wandte mich enttäuscht ab – ein gewöhnlicher – ich sah noch einmal hin – ein ganz gewöhnlicher Soldat, weiter nichts. Mögen sie voranfahren, dachte ich und rührte mich nicht.

Einen Augenblick verstummte Blasen und Schellengeläut, einen Augenblick nur; dann erklang es wieder, und langsam wandte ich mich dem Heimweg zu. Aber da stand plötzlich dieser Soldat vor mir, ein großer schlanker Mann, die Mütze etwas zur Seite gerückt auf dem krausen Haar, ein Tannenzweiglein zwischen den Lippen. Und nun nahm er dieses Zweiglein aus dem Munde, legte die Hand an die Mütze und fragte. „Fräulein Anneliese von Sternberg?“

Ich starrte ihn wortlos an, erstaunt, verwirrt. Dann erkannte ich das hübsche frische Gesicht, die treuherzigen ernsten Augen – ja, er war es, der Fremde vom Westenberger Kirchhof, von Hannchens Grab. Ich wischte mir eine Schneeflocke aus den Wimpern und fühlte, wie meine Hand zitterte.

„Die bin ich,“ stotterte ich.

„Darf ich Ihnen einen Platz im Schlitten anbieten?“ fragte er weiter, „Sie entschuldigen meine Dreistigkeit, gnädiges Fräulein, aber der Weg ist noch weit und es dunkelt schon – Sie wollen doch sicher nach Langenwalde zurück?“

Ich konnte nichts weiter erwidern als ein halblautes Ja und schickte mich an, neben ihm zu gehen, dem Schlitten nach, der eben dort unten hielt.

„Es ist ein richtiger Weihnachtsabend,“ begann er unbefangen im Weiterschreiten „ein richtiger deutscher Weihnachtsabend.“ Und er lächelte dabei in eigener stiller Weise. Dann half er mir in den Schlitten und langsam ging es bergan. Der Schwager blies ein anderes Lied, ein altes Soldatenlied, das mein Vater zu pfeifen pflegte und das die Rekruten singen, wenn sie ausgehoben worden sind und mit farbigen Schleifen an den Mützen durch die Straßen ziehen, ein Lied, von dem ich nur die Melodie und die erste Strophe kannte:

„Was grüßt so traulich aus der Ferne,
Das liebe teure Vaterhaus?“

Da nahm er wieder das Tannenzweiglein in den Mund und biß darauf, als fühlte er einen körperlichen Schmerz, den er auf diese Weise unterdrücken wollte, und sich. zu mir wendend, sagte er lächelnd: „Ein Deutscher verlernt nicht das Heimweh, selbst wenn die Heimat ihn verstoßen und ihm Steine gegeben hat statt Brot – Herr Gott, das ist alles noch ebenso wie damals, und es muß nun grade so schön schneien, und die drei einzelnen Tannen da oben auf der Höhe müssen auch noch stehen! Schwager, wenn’s möglich ist, hören Sie auf, man wird ja zum kleinen Jungen, man vergißt, daß man – daß man – –“

Der Postillon setzte das Horn ab und sah sich verwundert nach uns um.

„Verzeihen Sie, Fräulein von Sternberg,“ wandte sich mein Nachbar an mich, „es giebt Augenblicke, in denen die Seele Mühe hat, ihr Gleichgewicht zu behalten. – Hören Sie nicht auf mich, wenn ich sentimentales Zeug rede, aber lachen Sie auch nicht darüber!“

„Waem soll ich den lachen?“ fragte ich. „Ich lache nie über jemand, der seine Heimat lieb hat.“

„Wissen Sie denn, daß dies meine Heimat ist?“

Und da kam plötzlich jene kecke Stimmung über mich, die mich rücksichtslos sagen ließ, was mir durch den Kopf zuckte. „Ich denke wohl, Herr Robert Nordmann.“ Ich hatte ihn dabei angesehen, und das Herz schlug mir wie wahnsinnig.

Er wandte mir ein leicht erblaßtes Gesicht zu. „Erklären Sie mir, woher wissen Sie?“ fragte er.

„Ach, ich bitte Sie,“ lachte ich, „wenn man alle Tage erzählen hört von diesem Robert, jeden Abend hört, wie ein Paar alte Frauenlippen inbrünstig beten, daß der liebe Gott ihn beschützen möge und zurückführen und wenn einem morgens immer gesagt wird: ‚Sehen Sie, Annelieseken, aus dieser Tasse hat er getrunken und sehen Sie, diese Beule hat er in den Löffel gebissen und von diesem Apfelbaum hat er seine ersten Aepfel genascht und wegen der Großmutter von der alten Katze hat er einst Ohrfeigen von mir bekommen, weil er das Unglückstier in seinen Kahn setzte und auf dem Mühlgraben schwimmen ließ. Und, Annelieseken, schauen Sie, das hat er für mich ausgesägt und das Gedicht hat er einst als Neujahrswunsch hergesagt, und, Annelieseken, das ist die Kappe, die hat er noch tags vorher aufgehabt, ehe er fortgegangen ist auf Nimmerwiederkehr. Und so hat er ausgesehen und – –‘ Da hat man doch das Porträt so ziemlich! Und dann steht da jemand plötzlich an Hannchens Grab, der hat so braune Haare und solche Augen, wie sie die Base immer beschreibt – nun, gehört da so große Findigkeit zu dieser Entdeckung, mein Herr?“

Er antwortete nicht, er lächelte bloß vor sich hin.

„Nur eines ist mir nicht klar,“ fuhr ich fort, „die Uniform. Sind Sie gekommen, um sich zu stellen, Ihr Jahr abzudienen?“

„Ja,“ sagte er einfach, „spät genug! Aber ich konnte nicht früher, ich durfte meinen alten Vater nicht verlassen.“

Ich hörte gar nicht, was er sprach, mein Herz jubelte plötzlich auf und ich dachte an den alten Schutzengel, die Base. „Die Base,“ rief ich, „was wird die Base sagen! Sie dürfen ihr so nicht in die Stube fallen, Herr Nordmann,“ fügte ich hinzu, „sie stürbe vor Freude. Soll ich sie vorbereiten?“

Ich hatte gar nicht mehr das Gefühl, daß ein Fremder neben mir sitze, ein Mann, mit dem ich soeben das erste Wort gewechselt hatte; ich war einfach glücklich in dem Gedanken an die alte Frau und bemerkte nicht, daß er still wurde, daß er mich sprechen ließ. Beschämt hielt ich plötzlich inne. „Verzeihen Sie!“ stotterte ich.

„Verzeihen? Was denn? Daß mir die alte Heimat einen Weihnachtsgruß schickt aus solch liebem Mädchenmunde? Sprechen Sie nur, spreche Sie weiter, Fräulein von Sternberg!“

„Nein,“ sagte ich verwirrt, „ich störe Sie in Ihren Erinnerungen.“

„Durchaus nicht! Ich will auch keine Erinnerungen in diesem Augenblick, sie sind trübe und schwer.“

„Aber warum kamen Sie nicht früher zur Base?“

„Ich wußte nicht, daß sie hier oben sei, und habe erst allerhand Erkundigungen eingezogen in Westenberg, zudem – es mußte mein erstes sein, mich der Militärbehörde zu stellen; es galt, lange Hinausgeschobenes nachzuholen. Sie sehen, ich stecke schon im bunten Rock, da hat man wenig eigene Zeit. Meinen sonstigen Verwandten beabsichage ich erst dann einen Besuch zu machen, wenn ich des Königs Rock wieder ausziehe. Wir haben einander wenig zu sagen, Ihr Herr Stiefvater und ich. Und dies Wenige –“

„Sie wissen, daß er Mama –“

„Ich weiß, ja; seit ganz kurzer Zeit weiß ich’s.“ Es klang wunderlich; der weiche Ton war fast scharf und absprechend geworden; er schien wenig einverstanden mit dieser Heirat.

[775] „Mama würde sich sehr gefreut haben,“ stotterte ich.

Er lenkte, die Antwort unterlassend, das Gespräch ab. „Bin neugierig, ob ich noch alles so finde wie vor Jahren, die Mühle, das Schulhaus und das Schlößchen. Ich glaube, so lange ich fort bin, war ich jede Woche einmal im Traum hier, und wie deutlich erschien mir alles, wie klar stand es mir vor Augen! – Wenn Sie wüßten,“ fuhr er fort, „wie schmerzlich es mir war, daß ich nicht sofort herübereilen konnte, als der Krieg erklärt wurde! Ich war zu jung, war mitten in meinen Studien und durfte auch meinen Vater nicht verlassen, der schon sehr kränkelte. Er war geradezu lebensgefährlich erregt über meine Absicht, nach Deutschland zu gehen. So blieb ich denn in Cambridge, wo ich die Universität besuchte, und begnügte mich mit den Zeitungsberichten, die ich angesichts der Photographien unserer berühmten Helden in meinem Zimmer verschlang, und – ich muß es bekennen – unter heißen Thränen der Entsagung. Als dann die Kaiserproklamation erfolgte, war ich wie toll, und als echter Deutscher bekneipte ich mich zum erstenmal in meinem Leben sträflich. Sie sehen mich entsetzt an, Fräulein von Sternberg? ’s ist nicht schön, ich weiß es, aber die Begeisterung hatte an dieser Illumination mehr schuld denn der Wein. Am andern Tage natürlich Kopfweh – und trotzdem das beglückende Gefühl: ein deutscher Kaiser, ein einiges Reich!“

„Was studierten Sie denn?“ fragte ich, lachend über seine Schilderung.

„Rechtskunde!“

„Sie sehen gar nicht aus wie ein Jurist.“

„Ich mache auch vorläufig keinen Gebrauch davon, mein Fräulein, ich bin für gewöhnlich Müller.“

„Wie? Was?“ stotterte ich.

„Müller,“ wiederholte er, „Mehl, Weizenmehl. Ja, aber Sie müssen dabei nicht an so ein Idyll denken wie das vor uns – schauen Sie, da ragt eben das Dach und die Linde über die Höhe – Himmel, noch ganz wie einst, und das Storchnest ist auch noch da! Nein, so ein Idyll am rauschenden Bächlein mit dem klappernden Rad ist’s nicht – Dampfbetrieb ist’s bei uns und lange nüchterne Gebäude mit mächtigen Essen stehen da, und drinnen surrt und klappert es, und zwischen dem Räderwerk hantieren tausend geschäftige Menschenhände. Keine Mühlenpoesie freilich, der Müllerbursch hat keine Zeit, für die schöne Müllerin zu schmachten, dem Bach seine Liebe zu klagen und Vergißmeinnicht zu pflücken. Eins greift dort ins andere, eins schiebt das andere, bis der weiße feine Staub wohlverpackt auf den Schienen dahinrollt in die Bäckereien der Großstädte.“

„Und dabei und Sie Jurist?“

„Auf besonderen Wunsch meines verstorbenen Vaters. Ich höre jetzt sogar Vorlesungen in meiner Garnisonstadt.“

„Woher kommen Sie denn?“

„Von Halle, gnädiges Fräulein. Ein bißchen alt, der Student, nicht wahr? Aber es ging nicht anders. Halt!“ rief er plötzlich dem Postillon zu, „ich steige hier aus. Die Dame fahren Sie vor das Herrenhaus, kehren dann im Gasthof ein und lassen sich Essen und Trinken geben! Also, Fräulein von Sternberg, bereiten Sie die alte Frau vor, ich möchte trotz der Dunkelheit vorher durch das Dorf gehen, ich hätte sonst keine Ruhe, und ich will mir auch Quartier bestellen.“

„Aber wohnen Sie denn nicht im Schloß?“ fragte ich erstaunt.

„Nein!“ antwortete er kurz, „auf Wiedersehen! Ich muß erst noch die Schwelle des Hauses begrüßen, wo ich mich mit den Dorfjungen balgte und an dessen Fensterscheiben ich meine Nase platt drückte.“

Er war währenddem aus dem Schlitten gestiegen, grüßte, und ich sah, wie er einen Kranz aus der Schachtel nahm, die neben dem Postillon auf dem Bocke stand, dann ging er rasch fort, und nun wußte ich, wohin er wollte – zum Grabe seiner Mutter.


Ich stürzte nur so aus dem Schlitten, als ich vor dem Langenwaldener Hause hielt, und über den Hof ins Schloß, so daß ich beinahe Frau Hübner umgestoßen hätte, die ein großes Holzbrett voll duftiger Wecken trug.

„Mein Gott, sind die Wölfe hinter Ihnen, Fräulein von Sternberg?“ schalt sie lachend. „Sie sind lange ausgeblieben, die Base läuft vor Angst aus einer Stube in die andere.“

Ich hörte das nur noch undeutlich, denn ich wae die Treppe hinaufgerannt, als ob ich wirklich verfolgt würde. Dann stand ich still, um mein Herzklopfen zu beruhigen und des raschen Atmens Herr zu werden. Wie sollte ich sie denn nur vorbereiten? Jede diplomatische Fähigkeit ging mir ab, und ein Weihnachtsmärchen zu ersinnen, das verstand ich nicht; es erschien mir selbst ja alles so unglaublich, so wunderbar. Wäre er doch lieber gleich mitgekommen!

Und dann faßte ich mir doch ein Herz und trat ein. Die alte treue Seele saß müßig am Ofen – das Spinnrädchen durfte heute nicht angerührt werden – und hatte ganz rot geweinte Augen.

„Annelieseken,“ sagte sie vorwurfsvoll, „kommen Sie endlich? Um ein Uhr sind Sie fortgegangen, und jetzt ist’s gleich Sechs. Ich habe eine Todesangst ausgestanden.“

„Base, meinten Sie, ich sei davongelaufen?“ rief ich lachend.

„Ei, was muß man denn Ihnen nicht zutrauen?“ schalt sie. „Und da sind Kisten und Pakete gekommen, vier Stück, und ich habe auch ein kleines Bäumchen geputzt und die Kisten geöffnet, Sie brauchen’s nur auszupacken. Da drinnen steht alles, aber ehe ich die Weihnachtslichter anbrenne, müssen Sie Thee trinken.“

„Ach, Base,“ brachte ich mühsam hervor und preßte ihre Hand, daß sie vor Schmerz Gesichter zog, „ach, Base, nicht böse sein, ich bin ja nur ausgegangen, um ein Weihnachtsgeschenk für Sie zu besorgen.“

„Herrje, so ’was!“ sagte sie, „das ist doch unrecht. Haben Sie denn Geld, Fräulein Anneliese?“ setzte sie dann wie erschreckt hinzu.

„Zwanzig Pfennig, Base! Aber sehen Sie, Auslagen habe ich, Gott sei Dank, nicht zu machen brauchen für meine Christbescherung, und doch ist’s das Liebste, das Sie sich wünschen – ich kenne ja Ihre Wünsche. Bitte, keinen Kuchen jetzt, nachher, später – ich kann jetzt nicht essen. Später, beste Base! Aber nun raten Sie – ganz hoch! Ich habe nämlich etwas auf der Landstraße gefunden und das hab’ ich aufgelesen, oder vielmehr – es hat mich aufgelesen, sonst wäre ich noch nicht hier, und das bekommen Sie. Können Sie's denn noch nicht erraten?“

Die alte Frau schob die Brille zurück, die sie noch vom Gesangbuchlesen trug, und warf einen besorgten Blick auf mich, die ich Pelzmütze, Jackett und Galoschen auf einen Stuhl geworfen hatte und vor Aufregung wie ein ausgelassenes Füllen umhersprang.

„Etwas, was Sie immer für unmöglich hielten, obgleich es Ihr größter Wunsch ist, Base,“ quälte ich sie weiter, „etwas Lebendiges – so groß ist’s!“ Und ich reckte mich auf den Zehen und hielt den Arm empor.

Sie warf mir nur einen schmerzlichen vorwurfsvollen Blick zu. „Ach, Anneliese, spotten Sie doch nicht über mich!“

Ich fiel ihr um den Hals. „Gott sei dafür, liebste Base, ich spotte gewiß nicht!“

Da schob sie mich mit beiden Händen zurück und sah leichenblaß in meine Augen. „Annelieseken!“

„Base!“

Und dann tastete sie nach dem nächsten Stuhl. „Es ist ja nicht wahr! Was ich meine, meinen Sie nicht – nein, nein, ’s ist nicht wahr, das ist ja gar nicht möglich!“

„Doch!“ platzte ich los, „doch – Ihr Robert –“ Dann hielt ich inne, denn die alte Gestalt sank wie gebrochen in den Stuhl und hielt mir ihre zitternden Hände entgegen.

„Ich überleb’s nicht, wenn’s nicht wahr ist!“ schluchzte sie. „Anneliese, ach, liebes Fräulein Anneliese!“

Und nun hatte ich Mühe und Not, sie zu beruhigen, denn sie weinte und weinte, ganz still, immer dabei leise den Kopf schüttelnd. Sie war noch mitten drin, da klopfte es, und ich lief hinaus zur andern Thür, ich wollte nicht stören; ich hörte nur noch den Klang seiner Stimme: „Grüß Gott, Base! Meine alte gute – –“ Und dann hatten sie sich wohl umfaßt und das Wort erstickte in dem Kuß, den sein Mund auf ihre weinenden Augen preßte.

Ich saß in meiner Swbe, ohne mich zu rühren. Eine Lampe brannte auf der Kommode, auf dem Tisch standen die vier Kisten mit den Weihnachtsgaben, und das Tannenbäumchen der Base rauschte mit seinen Blattgoldfähnchen. Ich ahnte nicht, was da mit dem großen schmucken Soldaten in mein Leben getreten war, ich fühlte mich nur so glücklich, sein hübsches Gesicht, sein freimütiges Wesen gefielen mir so gut, und daß er herübergekommen war, um seiner Militärpflicht zu genügen, das hatte mich als Soldatentochter geradezu begeistert. Wenn man den [776] Brankwitz dagegen nimmt, dachte ich, und „Scheusal!“ setzte ich hinzu. Was nur der Wollmeyer sagen wird, wenn er erfährt, daß Robert Nordmann – – ja, da war wieder das Unheimliche, das sich meinem Wissen entzog! Der Schleier der Vergangenheit, der eine Schuld barg! Und Robert Nordmanns Mutter war mit hinein verflochten und sein Vater. Ach, sein Vater, der war ja bestraft, der sollte ja –

Ich empfand plötzlich wieder diese niederdrückende unheimliche Angst – sein Vater hatte gesessen, war der Unterschlagung verdächtig – die ganze Freude an der Begegnung war mir mit einemmal genommen. Aber was konnte er dafür? Pfui, Anneliese! schalt ich mich. Und er sprach so ruhig von seinem Vater. Ob er tot war, der Mann, ob er nicht doch schuldlos war?

In Gedanken versunken, hob ich den Deckel von einer Schachtel ab. Ein betäubender Blumenduft quoll mir entgegen, prachtvolle frische Rosen, Orangeblüten und Veilchen. Für mich? Von wem? Ich sah den Postvermerk: Cannes. Ah, Brankwitz! Mein Erstes war, die Schachtel zu nehmen, um sie aus dem Fenster zu werfen, da fiel mir auf, daß das Paket als Wertsendung bezeichnet war. Nun untersuchte ich den Inhalt näher, und da kam ein wohlbekanntes Etui von rotem Juchtenleder zum Vorschein, das meinen Namenszug in Goldpressung trug. Das Armband! Er wagte es, mir das Armband zu schicken, den ersten Vorboten des wieder beginnenden Kampfes! Der Waffenstillstand neigte sich also seinem Ende zu. Gab’s denn kein Entrinnen?

Ich will es nicht, ich will es nicht haben! stieß ich hervor, warf die Blumen in die Schachtel zurück und setzte den Deckel darauf. Wohin damit? Die Adresse des Absenders war mir unbekannt. Cannes? Wieviel Fremde sind in Cannes! Behalten wollte ich es auch nicht, es hätte eine falsche Deutung zugelassen. Ich werde es Herrn Wollmeyer schicken mit der Bitte, es seinem Neffen zurückzustellen, beschloß ich. Herrn Wollmeyers Kiste rührte ich nicht an, auch Mamas Sendung nicht. Dann kam die Base und holte mich.

„Jetzt müssen Sie etwas essen, Anneliese,“ sagte sie, „und den Baum nehme ich mit in meine Stube, damit auch der Junge etwas davon hat.“

Und nun saßen wir zu Dreien an dem weiß gedeckten Tisch, dem „Jungen“ gegenüber ich, die Base zwischen uns. Die Weihnachtslichter warfen ihren Schein über das traute Zimmer und aus den Punschgläsern kräuselte duftiger Dampf. Die alte Frau konnte vor Freude und Aufregung kaum essen, sie nötigte uns nur immerzu, und dann fragte sie mich: „Ist es nicht wie ein Traum, Annelieseken?“

„Ja, Base, wahrhaftig!“ Ich sah den schlanken Mann dort an, der mir so fremd war und doch so vertraut. Wie hübsch er mit der Alten verkehrte, wie ernst und wie herzlich klang sein Lachen! Er streichelte der Base die Hand und erinnerte sie an kleine Geschichten aus ferner Zeit, und als sie wie unter schwerer Last den Kopf senkte, da sagte er freundlich: „Kopf oben, Altchen! Sieh’ mal, es hilft doch nichts. Und mach’ Dir keine so trübe Gedanken, es wird sich alles ganz glatt abwickeln, glaub’ mir’s! Vorläufig ist’s noch nicht so weit – so lange ich im bunten Rock stecke, unternehme ich nichts.“

„Ach, Robert, das bringt mich noch ins Grab – ich wollt’, ich läge da, wo das Hannchen liegt,“ klagte sie.

Ich saß dabei in peinvoller Verlegenheit und wagte nicht, ein Auge aufzuschlagen. Da war es – das Schreckliche!

„Hör’ mal, Base, sei vernünftig,“ ermahnte er ernsthaft, „Dich brauche ich noch. Soll ich etwa – –“

„O Jesus, nein nein!“ wehrte sie. „Wenn ich nur wüßte, wie’s enden soll!“

„Gut, gut! Prosit, Base! Lassen wir Deutschland leben und alle, die das Herz auf dem rechten Fleck haben! Ihr Wohl, Fräulein von Sternberg!“

„Ach Gott, das Annelieseken!“ murmelte die Base.

„Wie meinst Du?“ fragte er hastig, und als ich ihn erschreckt ansah, flammte eine jähe Röte über seine Stirn auf der ich jetzt deutlich eine tiefe Falte gewahrte, die ihm ein älteres Ansehen gab als vorher. Dann aber verstummte auch er, setzte das dampfende Punschglas auf den Tisch zurück und schaute an mir vorüber, als interessierte ihn der alte grüne Kachelofen augenblicklich am meisten auf der Welt.

„Nun bist Du wohl böse?“ fuhr die alte Frau leise fort, mit niedergeschlagenen Augen, die knochigen Hände auf dem Tischtuch gefaltet. „Robert, ich mein’s ja nur gut. Laß doch, rühr’ nicht daran Robert, Du stichst in ein Wespennest!“

„Base, Base, was ist aus Dir geworden!“ sagte er nun. „Ist Dir so wenig gelegen an Recht und Ehre? Verstehst Du nicht, was ich meine? Doch, Du weißt’s, Du willst es nur nicht wissen, aber ich sage Dir, früher setze ich meinen Fuß nicht wieder auf das Schiff, ehe nicht in jeder Zeitung zu lesen steht, daß – –“

„Pst, um Gotteswillen!“ unterbrach die Base den jungen Mann, der erregt aufgesprungen war. „Denk’ doch an die Anneliese! Ach, Annelieseken, gehen Sie lieber in Ihre Stube – Robert, überlege doch, Wollmeyer ist ja nicht allein, er hat doch jetzt –“ und ihre Blicke hingen in Seelenangst an mir.

Der Neffe antwortete nicht; er war ans Fenster getreten und starrte in die Nacht hinaus. Ich erhob mich zum Gehen, da wandte er sich, und schweigend sahen wir uns in die Augen.

„Verzeihen Sie mir, gnädiges Fräulein,“ bat er, „bleiben Sie! Wenn Sie jetzt fortgehen, werden die Schatten der Vergangenheit uns erdrücken, die alte Frau und mich. Ich verspreche Ihnen, ganz sanft und artig zu sein; es ist nur alles so fürchterlich lebendig geworden und wenn eine Wunde, die niemals heilen will, wieder frisch aufgerissen wird, dann ist der Schmerz stärker als zuvor. – So, Base, nun sei gut!“ Er klopfte ihr freundlich auf die Schulter. „Jetzt reden wir nicht mehr von früher, jetzt blicken wir nicht in die Zukunft, wir wollen der Gegenwart froh werden. Base, stecke frische Kerzen auf die grünen Zweige, die alten sind heruntergebrannt, und dann erzähl’ mir ein Kindermärchen aus alter Zeit, ein Weihnachtsmärchen! Es war einmal – Wie? Du weißt keines mehr?“

Die alte Frau schüttelte den Kopf, während sie einen Wachsstock in längliche Stückchen zerschnitt und wir einen Platz am Ofen für sie zurecht machten. „Nun, dann will ich eins erzählen,“ lachte er, und wir setzten uns zusammen, alle Drei; er auf der Ofenbank und ich auf dem Fußschemel vor der alten Frau in ihrem Lehnstuhl.

„Es war einmal ein kleines Mädchen,“ begann er neckend, „das lief am Weihnachtsheiligenabend seiner Wärterin davon und saß am Straßenrand im Schnee und weinte.“

„Das ist ja gar nicht wahr!“ sagte ich verlegen.

Er achtete aber nicht darauf und fuhr fort: „Da kam ein Schlitten angefahren, und da saß ein Mann drin, der sah ihre Thränen und nahm sie mit in den Schlitten und sagte: ‚Ich will Dich nach Hause bringen.‘ Und er ward so froh, als sie neben ihm saß, denn er war traurig und einsam gekommen und die Gespenster der Vergangenheit hatten sich in seinen Schlitten gesetzt und ihn gefragt mit blassen Lippen und toten Augen: ,Weißt Du dies noch? Weißt Du jenes noch?‘ Da hat er gemeint, das Herz müsse ihm zerspringen vor Angst. Als aber das kleine Mädchen eingestiegen war, flohen die Schatten vor dem leuchtenden Blick der dunklen Augen, den selbst die Thränen nicht hatten trüben können. Und dafür kam allerlei lustiges lachendes Gesindel, flachsköpfig und barfuß wie Dorfkinder, das lief neben dem Schlitten her und kletterte auf die Pritsche und setzte sich auf die Pferde zwischen die Schlittenglocken und kicherte und lachte und fragte ebenfalls: ,Weißt Du dies noch und das noch? Denkst Du noch an den Christbaum in Deines Vaters Hause, an die Weihnachtskuchen, die die Mutter Dir ins dicke Fäustchen gab? Denkst Du noch, wie Du dem Fuchs nachgeschlichen bist durchs Tannendickicht und wie Du den Vögeln des Waldes ihr Pfeifen abgelauscht hast? War’s nicht herrlich, wenn durch die duftenden Tannen die Sonnenstrahlen spielten? War’s nicht wunderbar, wenn sie sich in Sturm und Wetter bogen, die starken Bäume?‘ Und da hatte der Mann sie plötzlich wieder lieb, seine schöne grüne Heimat, und vergab ihr, daß sie ihn einst verstieß. Und in des Mädchens Augen waren auch die Thränen versiegt und ihr Mund lächelte wieder. Die kleinen Gesellen hatten alles Herzeleid in die Flucht geschlagen, alle die bösen bleichen Gespenster. Aber dann ist das kleine Mädchen ausgestiegen und der Mann ist allein auf den Kirchhof gegangen, an das heiligste schmerzvollste Grab, das es auf Erden geben kann für jeden Menschen, an das Grab seiner Mutter. Und da standen sie wieder neben ihm, die bösen Geister, und schüttelten ihn mit übermenschlicher Kraft<, sie folgten ihm durch die Gassen des Dorfes, peitschten seine arme Seele, schrieen ,Rache, Rache!‘ und drangen mit ein in den Frieden einer trauten Stube, ja sie [778] wollten selbst vor den Lichtern des Christbaumes und unter dem Druck zweier alter Frauenhände nicht still werden; sie achteten auch nicht des kleinen Mädchens, das mit niedergeschlagenen Augen und blassem Geacht dasaß, bis – bis sie die Augen aufhob und den verfolgten Mann anschaute. Da zerstoben sie, wie der Nebel zerfließt. Es liegt ein Zauber in Menschenaugen, in jungen reinen Menschenaugen.“

„Guck’ mich ’mal an, Annelieseken,“ sagte die Base, als er geendet, und ich mit nie gekannter Verwirrung auf meinem Bänkchen saß, „hast Du ’was Besonderes in Deinen Augen?“

Er lachte herzlich und laut und ich lachte fröhlich mit.

„Ach ja so, das sollte ein Märchen sein. Und lch hab’ gedacht, Du meintest Anneliese! Ja, lacht nur, lacht nur, Kinder! Ihr habt’s beide nötig, auch Sie, Anneliese. Ein Gottesglück, daß bei der Jugend Regen und Sonnenschein wechseln wie im April.“ Und sie nickte mit dem alten sorgenschweren Gesicht. „Wie alt seid Ihr denn beide? Anneliese wird neunzehn, und Du? Es war ja doch wohl im Anfang der fünfziger Jahre, als Du auf die Welt gekommen bist, Robert? Bald nach die große Teuerung war’s, aber auf Deiner Taufe merkte man davon nichts, da hatten wir Kalbsbraten und Forellen, die waren aus dem Mühlenfischkasten. Hab’ sie selbst gekocht, wie wir aus der Kirche gekommen sind, ganz blau, und jede hatte ein Blättchen grüner Petersilie im Maul. Und Du lagst so hübsch in Deinem Kissenbund, so recht wie ein Prinz, und hast Dich so brav betragen in der Kirche; und ich habe Dir das alberne Löffelchen geschenkt, das liegt noch in meiner Kommode.“

Leise redete die alte Frau so vor sich hin, wie ein zweites Märchen klang es. Draußen flockte der Schnee, der Weihnachtsschnee; meilenfern war alles Leid, aller Kummer, alle drohende Zukunft, wie auf einer einsamen glücklichen Insel weilten wir, und alle üblen Geister hatten uns verlassen. Nur einer war geblieben, unsichtbar, und doch ahnte ich seine Nähe, ohne sie zu begreifen; ein böser kleiner geflügelter Schlingel mit Pfeil und Bogen, der Rosen knospen ließ selbst in tiefer Winternacht – ja, ja, er war da, aber noch verstanden wir ihn nicht, ganz gewiß nicht.

Als das immer leiser werdende Plaudern der alten Frau verstummte, als der Schlummer sie übermannte, blieb es ganz still im Zimmer, denn wir beide sprachen kein Wort. Plötzlich sprang er empor und ergriff meine Hand. „Schlafen Sie wohl, mein gnädiges Fräulein! Werd’ ich Sie morgen wiedersehen? In der Kirche?“

Ich nickte. Dann war ich allein mit der alten Frau; der Schall seiner Tritte verhallte auf der Treppe. Die Base erwachte plötzlich und war ein wenig ärgerlich, daß man sie hatte schlafen lassen, ging aber doch mit glückseligem Gesicht in ihr Bett. Ich stand noch lange am Fenster und sah einer langsam dahinschreitenden Männergestalt nach, bis sich die Straße hinter den Häusern des Dorfes verlor. Dann warf ich mich in die Kissen, aber schlafen konnte ich nicht.


Am andern Tage schien eine erbarmungslos grelle Wintersonne über das weiße Laad und schmolz mit ihren Strömen von Licht, die in jedes, auch das kleinste Winkelchen drangen, allen Märchenzauber hinweg. Die Base sah um Jahre gealtert aus in der hellen Morgenbeleuchtung; sie war in mein Zimmer gekommen und beobachtete mit trüben Augen, wie ich die Rosenschachtel aus Cannes wieder postfertig machte und an meinen Stiefvater adressierte. Ich war sehr traurig; ich hatte vorhin Mamas Kiste ausgepackt und ihr außer einem sehr oberflächlich gehaltenen Brief ein paar nichtssagende Geschenke entnommen, Sachen, wie sie ein Mensch schenkt, dem das Geben eine Unbequemlichkeit ist, der ärgerlich das erste beste kauft und giebt. Erstlich ein ledernes Täschchen mit Näheinrichtung, wie sie zu Dutzenden in den Galanteriewarenhandlungen hängen; zweitens ein Tagebuch, in rotes Leder gebunden; drittens Glacéhandschuhe, hier oben kaum zu benutzen; dann ein eingerahmtes Kabinettbild des alten Kaisers, wie er sich über die Wiege seines Urenkels beugt, die sehr schlechte Wiedergabe eines sehr schlechten Bildes; ein bissel Näscherei und ein bissel rosa Briefpapier mit blauen Veilchen in den Ecken.

So schenkte Mama früher nicht. Die armseligen Kleinigkeiten, sie waren immer mit Verständnis, mit so zartfühlender Liebe ausgewählt gewesen – letztes Jahr gab sie mir Papas winziges Eisernes Kreuz, das er im Knopfloch zu tragen pflegte, wenn er in Civil ging. Ich hing es, zu Thränen gerührt, an meine Uhrkette und war so glücklich darüber. Ein einziger solcher Beweis, daß sie mich noch liebte, und ich wäre heute herzensfroh gewesen, aber – sie hatte an anderes zu denken. Mein Stiefvater schrieb mir, sein Weihnachtsgeschenk erwarte mich daheim, Mama habe bereits Sehnsucht nach mir und in der ersten Hälfte des Januar werde er mich persönlich abholen.

„Es wird Unangenehmes drauf kommen, Annelieseken,“ sagte die Base, als sie die Schachtel hinuntertrug, um sie Herrn Hübner zu übergeben. Und als sie zurückkehrte, wiederholte sie: „Es wird Unangenehmes kommen, wenn er die Schachtel aufmacht – wie soll’s nur noch werden. Ich hatte mich alles so anders gedacht. Ich kann mich gar nicht freuen über den Jungen, Annelieseken; das Beste wär’, man läg’ da drüben unter dem weißen Schnee.“

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 47, S. 789–795

[789] Gleich nach Tische kam der „Junge“, und die Base konnte doch nicht anders, als stolz zu ihm aufsehen und ihm zunicken. „Ein schmucker Kerl bist geworden, Robert,“ sagte sie bewundernd.

Er war früh in der Kirche gewesen und hatte uns vermißt.

„Die Anneliese hat die Zeit verschlafen“ entschuldigte die Base. „Sie ist das lange Aufbleiben nicht gewöhnt; wir haben eine Predigt für uns gelesen.“

„Ich war nach der Kirche beim Pfarrer und in der Schule. ’s ist noch ebenso wie früher und doch alles anders, Base. Und dann bin ich am Mühlbach entlang gewandert und habe mit einem Mühlknappen Bekanntschaft geschlossen. Da sind ja bedeutende Neuerungen gemacht, Hochmüllerei, Porzellan-Walzenstühle und eine recht stattliche Handelsmüllerei; das Mehl gehe bis nach dem Posenschen hinunter, sagt er. Uebrigens,“ fuhr er fort, „ist heute ein Tag, daß man mit vollen Zügen atmen muß, so recht zum Spazierengehen geschaffen. Wie ist’s, Base?“

„Ach, Robert, mit meinen alten Beinen! Du würdest bald ungeduldig werden. Aber Anneliese – gelt, Fräulein Anneliese, Ihnen macht’s Spaß?“ wendete sie sich an mich.

Er sah mich fragend an; er saß am Fenster und die Sonne schien über seinen braunen Krauskopf, und unter dem Schnurrbart blitzten seine Zähne beim Lächeln. „Sie sind ja gut zu Fuß, Fräulein von Sternberg – aber macht’s Ihnen auch Vergnügen, mit solch fremdem Menschen die Waldwege abzukleppern? Der Schnee ist tief, und bis zum Futterhäuschen im Heimbachgrund ist’s eine gute Stunde.“

„Ich fürchte mich nicht vor Schnee und weiten Wegen,“ sagte ich, „und freue mich, neue Spaziergänge kennenzulernen.“ Damit verließ ich das Zimmer, um mich für den weiten Weg anzuziehen.

So gingen wir diesen Tag zusammen und den nächsten und den darauf folgenden und erst in der Dämmerung kehrten wir jedesmal heim. Die Base ließ uns ruhig miteinander hinauswandern, die gute Seele hatte keine Ahnung, was die Welt von einer Ehrendame verlangt; sie redete eifrig zu, die schönen Stunden zu Ausflügen zu benutzen. Sie saß derweil am Fenster und las oder spann und erwartete uns mit heißem Thee und freundlichen Worten. Dann blieb Robert zum Abendessen, wozu die Base ihn einlud, und wir spielten „Dame“ oder ein einfaches Kartenspiel mit der alten Frau, um Nüsse wie die Kinder.

Alle seine Lieblingswege lernte ich kennen, und während wir so dahinschritten, erzählte er von Chicago, von dem großen Unternehmen, das sein Vater gegründet hatte und das jetzt in den Händen eines vorzüglichen Geschäftsführers gut genug aufgehoben sei, so daß er selbst ohne Sorge fern bleiben könne. Einmal auch waren wir übermütig wie Jungen und bewarfen uns über und über mit Schneebällen, und ein andermal saß ich wie ein Kind im Handschlitten und ließ mich von ihm spazierenfahren. Nicht einen Augenblick hatte ich das Gefühl, daß ich etwas thue, was gesellschaftlich für unmöglich gilt. Es war mir, als ginge ich an der Seite eines Bruders oder Vetters, neben jemand dem man vertraut gleich sich selber.

Die Base schaute wie fragend in unsere lachenden [790] Augen, wenn wir zurückkamen und wenn wir unbefangen weiter plauderten und uns neckten, dann seufzte sie.

Der Tag vor Sylvester war gekommen, am erstem Januar mußte Robert Nordmann wieder abreisen. Da machten wir uns noch einmal, zum letztenmal, auf den Weg, etwas stiller als sonst, denn die Base hatte geweint. Sie begleitete uns die Treppe hinunter und sah uns vom Hofthor aus nach, bis wir im Wald verschwanden. Sie hatte die Hand über die Augen gelegt, so blendend war der Schnee.

„Nun sitzt sie wieder da und macht sich Sorgen,“ sagte ich zu meinem Begleiter, der nachdenklich neben mir schritt.

„Die braucht sie sich leider nicht erst zu machen, Fräulein von Sternberg,“ antwortete er, „die sind schon vorhanden, aber ich kann sie ihr nicht abnehmen. Ich möchte alles thun für die gute alte Frau, aber das, was sie verlangt, darf ich nicht thun. Denken Sie nur, gestern abend, nachdem ich fortgegangen war, haben ihre alten ungelenken Finger an mich geschrieben und heute in aller Morgenfrühe brachte Hübners Gymnasiast das Schriftstück. Ich habe bis jetzt noch nichts Schriftliches von der Base in Händen gehabt, und ich hätte lächeln mögen, wenn mir’s nicht so – so herzbrechend wahr und klar wäre, was sie alles schreibt. Uebrigens, Fräulein Anneliese, Sie haben’s ihr angethan, ihr drittes Wort ist: mein armes Annelieseken!“

„Was habe ich zu thun damit?“ fragte ich rasch.

Er sah mich an. „Eigentlich nichts, und doch –“

„Aber wieso denn?“

„Nehmen Sie sich in acht, da kommt ein Graben – hopsa!“ rief er und stützte mich. „Der Schnee macht alles Ungleiche gleich, Fräulein Anneliese,“ fuhr er fort, „kommen Sie näher an meine Seite – so – und geheu Sie etwas laugsamer, bitte! Es ist so schön unter diesen Weihnachtsbäumen, die der Herrgott selber aufgeputzt hat. Sehen Sie, wie die Tannenzapfen vom Rauhreif blitzen, just wie wenn sie oben in der Lausche aus Glas gesponnen wären und was hat der Schnee für wunderbar blaue Farbentöne im Schatten!“

„Was hab’ ich mit den Sorgen zu thun, die sich die Base um Ihretwillen macht?“ fragte ich hartnäckig.

„O, Sie vergessen – Sie gehören jetzt zur Familie, weiter nichts,“ scherzte er.

„Ich gehöre nicht zur Familie Wollmeyer,“ rief ich ärgerlich. „Und das ist’s auch nicht – Sie wollen mir ausweichen.“

„Sie gehören doch zur Familie Wollmeyer,“ sagte er plötzlich sehr ernst, „und eines Tages werden Sie mich nicht mehr leiden mögen und wenn ich Sie fragen würde: gehen Sie mit in den Wald spazieren? so würden Sie mir den Rücken kehren – kehren müssen, denn ich werde Ihnen erscheinen wie ein Kirchenschänder –“

„So ein Unsinn!“ rief ich und warf ihm eine Handvoll Schnee am Gesicht vorüber, „jetzt will ich nichts mehr davon hören.“

„Aber nicht wahr,“ fragte er, ohne meine Neckerei zu bemerken, „man kann auch seine Feinde achten und verstehen, Fräulein von Sternberg, nicht wahr?“

„Gewiß – aber nicht lieben,“ sagte ich unbedacht, und Herr Wollmeyer stand vor meinen Augen, der achtungswerteste Bürger Westenbergs, wie die Komtesse ihn einst genannt hatte, und nach meiner Ueberzeugung mein bitterster Feind. „Es ist sehr schwer, was Christus für unsere Feinde verlangt, die Liebe; ob viele Menschenherzen es vermögen, ihre Feinde zu lieben?“

„Nicht lieben – das wäre das Beste in diesem Falle – das Beste!“ sagte er leise, „oder ein großes Kämpfen würde beginnen, ein Kämpfen, dem man kaum gewachsen ist.“ Und als ob er sich herausreißen wollte aus diesen Gedanken, fing er an zu pfeifen, einen Marsch oder irgend etwas Lustiges, und dann sprach er von gleichgültigen Dingen.

Ich aber wußte plötzlich, was er meinte, und als wir in der Nähe des Futterplatzes standen und heimlich ein paar Rehe beobachteten, die zierlich das Heu aus der Raufe nahmen, sagte ich unvermittelt: „Einen Fall weiß ich, der Sie mir als meinen Feind erscheinen ließe, selbst wenn ich Sie verstände und achtete.“

Er sah mich groß und fragend an.

„Wenn Sie etwas thäten, das dazu beitrüge, meine Mutter noch unglücklicher zu machen als sie schon ist!“

„Sie ist unglücklich?“ klang es leise zurück.

„Ich glaube, sie muß es sein – Sie wissen es so gut wie ich, daß sie es sein muß.“

Er sah wieber zu den Rehen hinüber. „Ich möchte Ihrer Mutter die Hände unter die Füße breiten“ sagte er.

Ich zitterte vor Angst und Aufregung. „Erzähleu Sie mir doch alles,“ bat ich. „Daß Ihnen Unrecht geschehen von dem Wollmeyer, dem Manne meiner Mutter, das hat mir die Base anvertraut, das weiß ich –, aber –“

„Heute nicht, ach, heute nicht!“ unterbrach er mich. „Lassen Sie mir doch diese paar Tage voll Frieden, bitte, bitte! Wenn Sie wüßten – seit dem Weihnachtsabend – was ich seit dem Weihnachtsabend durchgekämpft habe, Sie fragten mich nicht.“

Er ging hastig einige Schritte vorwärts und kam dann ebenso hastig zurück; sein hübsches frisches Gesicht hatte einen so vergrämten qualvollen Zug, daß es völlig verändert schien. Ich stand am Stamm einer Buche; er hatte mit einer Gerte, die er unterwegs abgeschnitten, den Schnee von einem Baumstumpf entfernt, nun setzte er sich darauf und stützte den Kopf in die Hand.

„Seien Sie versichert, daß Sie kein vorschnelles liebloses Urteil zu erwarten haben. Sagen Sie es mir!“ bat ich wieder. „Sie können sich nicht denken, wie ich unter der Unkenntnis aller dieser Verhältnisse leide; Sie wissen nicht, in welch peinlicher Lage ich mich überhaupt befinde. Sie kann durch Ihr Hinzukommen kaum schwerer werden und wenn auch – mir ist die schlimmste Gewißheit lieber als dieses Ahnen, Fürchten.“ Ich war dicht vor ihn getreten. .„Bitte!“ wiederholte ich noch einmal.

„Es kann nicht schwerer werden, sagen Sie – vielleicht für Sie nicht, für mich aber hat Ihr Hinzukommen so viel erschwert –“

„Ach, sprechen Sie nicht so weiter, sagen Sie mir doch einfach die Wahrheit!“

Da griff er nach meinen Händen, und sie an seine Augen haltend, sprach er leise. „Er hat meinen Vater ehrlos gemacht – Sie wisseu, wen ich meine. Mein Vater hat sein Weib, seine Heimat verloren durch diesen Bubenstreich. Drüben hatte er zwar Glück, was man so Glück nennt: er erwarb ein Vermögen, der arme schüchterne Schullehrer, und hinterließ ein bedeutendes Kapital, eine der größten Fabriken Chicagos, aber die Sehnsucht nach Deutschland quälte ihn bis zur Stunde, wo er die Augen schloß. Und diese Sehnsucht habe ich geerbt; acht Wochen nach seinem Begräbnis bin ich abgereist. Das letzte Wort, das mein Vater zu mir sprach, war: ,Mach’ mich wieder ehrlich drüben, reise hin! Du kannst es, Du bist nicht so ein ungewandter Mensch, wie ich es war. Du hast alles dazu, hast die Kenntnisse, das Geld, die Jugendkraft.‘ Und ich bin gekommen, ich habe nicht allein alles das, was mein Vater aufzählte, ich habe auch die Beweise, daß man meinen Vater schuldlos verdächtigte, das heißt, die Base muß sie haben. Ich bin gekommen in der Absicht, drüben meine Zelte abzubrechen und sie in Deutschland wieder aufzubauen, wenn möglich hier in der Heimat. Ich bin gekommen, weil ich krank war vor Sehnsucht nach meinem Vaterlande, weil mir bei aller Arbeit und allem Erfolg immer nur das eine vorgeschwebt hat, ein deutsches Heim im deutschen Land. Und dazu muß ich meinen ehrlichen Vaternamen wieder haben, weil – – ach, lassen Sie mich aufhören, Fräulein von Sternberg!“

„Und um dies zu erreichen wird meine Mutter einen gebrandmarkten Namen tragen müssen,“ antwortete ich ruhig.

Er ließ meine Hände sinken. „Sehen Sie, da sind wir –“ murmelte er.

„Sie meinen, ich mißbillige Ihr Vorgehen?“ fragte ich. „O, ich würde Sie nicht verstehen, wenn Sie anders handeln wollten, Robert Nordmann!“

„Anneliese!“ sagte er leise.

„Was geht meine Mutter, was gehe ich Sie denn an?“ sprach ich weiter, laut und hart, und die Brust that mir weh, aus der diese Worte kamen. „Die Ehre Ihres Vaters, Ihres Namens, die muß Ihnen die Hauptsache sein. Ich begreife, daß es peinlich für Sie ist, mich kennengelernt, freundlich mit mir geplaudert zu haben, aber seien Sie versichert, ich verstehe Sie vollkommen, ich würde zweifellos – ja, das weiß ich bestimmt – ich würde ebenso handeln. Und nun kommen Sie, lassen Sie uns heimgehen; die Sonne ist fort und mich friert.“

Er erhob sich, schwerfällig wie ein alter Mann; als wär’ er nicht mehr der nämliche elastische Mensch, so ging er neben mir, ohne ein Wort zu sprechen. Rasch, die ganze Landschaft in fahle Schatten tauchend, kam die Dämmerung, der Schnee knirschte unter unsern Tritten und die Sterne stiegen am kalten klaren Frosthimmel [791] empor in funkelndem Glanz. In den Häusern des Dorfes brannten schon die Lichter, als wir aus dem Walde traten und den Feldweg dahinschritten. Neben dem blaugrauen Schneelicht des Winterabends erschienen die erhellten Fenster tief orangerot. Auch die Base hatte schon ihr Lämpchen angezündet; sonst wartete sie stets damit, bis wir kamen, heute war alles anders. Sonst fröhliches Geplauder, heute gingen wir nebeneinander ohne ein Wort. Der rosige Schleier der Unbefangenheit, der bis jetzt unsere Beziehungen umspielte, den wir fest, sehr fest gehalten hatten, er war zerrissen; nüchtern und kalt, mit verzerrtem Gesicht sah die Zukunft uns an.

Ein paarmal versuchte er zu sprechen, aber es war nur ein kurzer Laut, den er hervorbrachte. Am Hofthor blieb er stehen. „Gute Nacht, Fräulein von Sternberg!“

„Wie, Sie wollen nicht mit heraufkommen?“

„Darf ich denn noch?“

„Was denken Sie von mir! Weil Sie Ihres Vaters Wunsch erfüllen, weil Sie eine Rechtfertigung suchen für ihn, soll ich, die Sie vollkommen versteht, böse sein? Ich bitte Sie, Herr Nordmann, sehen Sie völlig ab von dem, was ich dabei empfinde, in Ihrer Macht liegt’s nicht, Mama ein trauriges Schicksal zu ersparen. Weder Sie noch ich tragen die Schuld an dem, was kommen mag.“

„Das ist wahr, aber es wird mir schwer, Sie so traurig zu sehen.“

In diesem Augenblick rief die Base aus dem Flurfenster nach uns.

„Kommen Sie, verderben Sie der alten Frau nicht den Sylvesterabend!“ bat ich, vorangehend.

Mit schweren Schritten kam er hinter mir drein.

„Anneliese,“ sagte die Base, „zwei Briefe sind da.“

„Von Mama?“ fragte ich und ergriff beide Schreiben zugleich. Nein, sie waren nicht von Mama; das eine zeigte die Handschrift meines Stiefvaters, das andere die der Komtesse. Ich habe immer das Unangenehmere zuerst erledigt, so erbrach ich zunächst Herrn Wollmeyers Brief.

„Reisen Sie am ersten Januar so frühzeitig von Langenwalde ab, daß Sie den um zehn Uhr fälligen Schnellzug erreichen. Wir erwarten Sie abends neun Uhr hier. Die Base wird Sie begleiten.   Wollmeyer.“

So, das war ja sehr diktatorisch! Die Zähne zusammenbeißend, öffnete ich den Umschlag des anderen Schreibens.

 „Mein liebes Kind!

Ich erwarte von Dir, daß Du diesmal nicht widersetzlich bist. Len’ braucht Dich; sie ist sehr still, sehr teilnahmlos, sie hat entschieden Sehnsucht nach Dir. Also komm bald! Ich bin wie zerschlagen von allem Weihnachtstrubel, habe Deine kleine Hilfe vermißt dieses Jahr. Auf Wiedersehen! Es grüßt Dich
Deine Tante Komtesse D.“  

„Wir sollen morgen nach Westenberg reisen, Base, ganz früh.“

„Wie?“ fragte die alte Frau.

Ich wiederholte die nämlichen Worte.

„Meine Güte, wer sagt denn das?“ rief sie ärgerlich.

„Herr Wollmeyer.“

„Aber das ist ja gar nicht möglich!“ klagte sie, die Hände zusammenschlagend.

„Es muß möglich sein, Base, denn Mama hat Sehnsucht nach mir.“

„Ist sie krank?“

„Ich weiß es nicht.“

„Und ich soll mit? Erst soll ich fort aus Westenberg, jetzt soll ich wieder hin!“

„Gewiß zum Schutz für mich, Base. Ich könnte ja ganz gut allein reisen, aber – hier steht’s schwarz auf weiß.“

„Große Güte, wie soll ich nur fertig werden. Wir müssen ja schon um fünf Uhr fort morgen früh,“ jammerte sie und lief, so eilig sie konnte, in das Nebenzimmer.

Robert Nordmann hatte indessen bewegungslos am Ofen gestanden.

„Ich werde helfen müssen,“ murmelte ich und schickte mich an, der Base zu folgen. Aber sie litt mich nicht drinnen. Ich solle um Gotteswillen gehen, sie verliere sonst ganz den Kopf; sie werde schon alles allein einpacken, sie und die Rike von Hübners. Keine Möglichkeit ihr zu helfen; so kam ich wieder zurück und setzte mich an das Fenster der Wohnstube. Es war dunkel, denn die alte Frau hatte die Lampe mitgenommen, dunkel und still, bis auf das Ticken der Uhr. Der Mann am Ofen regte sich nicht.

Wie im Schlaf hatte ich diese letzten Wochen verlebt in den stillen Bergen, wie im tiefen Schlaf, der mir einen schönen kurzen Traum geschenkt. Nun war das Erwachen gekommen, ein böses Erwachen; die Süßigkeit des kaum entschwundenen Traumes machte die Wirklichkeit noch öder. Was würde nun werden? Wann würde Robert Nordmann seine Abrechnung halten? So lange er die Uniform trug, nicht, hatte er gesagt – Mama hatte eine Gnadenfrist, bevor sie erfuhr, daß sie eines Betrügers Frau sei. Ueberleben würde sie das nicht, ich fühlte es, aber niemand konnte es ihr ersparen. Unwillkürlich faltete ich die Hände. Einen Ausweg – einen Ausweg, lieber Gott!

Die Thür zum Nebenzimmer öffnete sich jetzt ein wenig. „Ach, Robert,“ rief die Base, „einen Augenblick!“

Langsam ging er hinüber und verschwand in ihrem Schlafzimmer. Weder sie noch ich hatten acht darauf, daß die Thür nicht wieder fest geschlossen wurde. Ich hörte zunächst ein leises Gemurmel, völlig unverständlich für mein Ohr, dann seine laute ruhige Stimme. „Und wenn es tausendmal so wäre, wie Du sagst, Base, erst recht müßte ich dann so handeln. Oder glaubst Du, ich böte einem geliebten Mädchen den besudelten Namen? Denkst Du, ich ertrüge es, die Leute mit Fingern auf uns zeigen zu sehen, zu hören, wie sie sagen: ,Das ia ja der Nordmann, dessen Vater steckbrieflich verfolgt ist, weil er gestohlen hat, des Nordmann, der gesessen hat!‘ Und nun bitte ich Dich, lassen wir die Erörterungen. Du verwirrst mich mit Deinen Einwürfen, und ich habe einen klaren Kopf jetzt nötiger denn je.“

Ich war gegangen, um die Thüre zu schließen, damit ich von dem Gespräch nichts mehr vernähme. Sie merkten es nicht, nun ich es that. Aber ich hatte genug gehört. Ach, deshalb! Er liebt, er will sich verloben. Es schien mir mit einmal so kalt im Zimmer, daß mir die Zähne zusammenschlugen.

Plötzlich vernahm ich die Stimme der Base, welche tief aufseufzte. „Wollte Gott, ich wäre tot! Ach, Robert, Robert! Meine Anneliese, meine arme kleine Anneliese!“

Da sprang ich empor in zorniger Aufwallung, die mich meiner ruhigen Ueberlegung völlig beraubte; mit einem Ruck war ich drinnen und stand mit drohender Gebärde vor der alten Frau. „Wir wollen kein Mitleid, ich nicht und die Mama nicht!“ rief ich. „Herr Nordmann handelt wie recht und billig, und wenn er sich von Ihnen bereden läßt, diesen Wollmeyer zu schonen, so würde ich selbst vor diesen hintreten und sagen, daß er betrogen hat!“

Die Base war auf mich zugeeilt und faßte meine Schulter. „Jesus, Annelieseken! Robert, nun hat sie es gehört!“

Er kam herüber und nahm meine Hand. „Leben Sie wohl, Fräulein Anneliese,“ sagte er, dann wandte er sich und ging. Ich sah noch, wie die Thür hinter ihm zufiel, vor meinen Augen wogte ein roter feuriger Schein, ich tastete nach der Base wie nach einem Halt, dann schwand mir die Besinnung.

Als ich wieder erwachte, lag ich auf meinem Bett; die Lampe war tief heruntergeschraubt und auf einem Fußschemel hockte die alte Frau. Sie hatte eine Schüssel mit Wasser neben sich stehen, in der eine Kompresse lag. Bei meiner Bewegung fuhr sie empor und beugte sich über mich.

„Annelieseken, reden Sie doch man bloß ein Wort. Kennen Sie mich denn, Annelieseken?“

Mühsam besann ich mich. „Wo ist Herr Nordmann?“ fragte ich dann hastig.

„Ach Gott„ Kind, regen Sie sich doch nicht auf! Er ist fort. O, Anneliese, wär’ er doch drüben geblieben, wär’ er doch nie wieder gekommen!“ jammerte sie.

„Er thut recht!“ sagte ich kurz.

„Ja, ja!“ schluchzte sie. „Aber darum ist’s doch so schwer!“

„Gehen Sie zu Bett, Base, bitte, bitte! Ich bin müde und möchte schlafen.“

Endlich ging sie. Ich lag in dieser Neujahrsnacht wachend und hörte die Glocken der Kirche, die um Mitternacht geläutet wurden. Wo mochte er sein? Und dann barg ich den Kopf in die Kissen und mir rannen schwere heiße Thränen aus den Augen.

O, thörichte Anneliese, für Dich giebt’s kein Glück!


Am andern Morgen bei völliger Finsternis reisten wir ab; die Base bis zur Unkenntlichkeit vermummelt in Hübners alten Jagdpelz, den er ihr für die Schlittenfahrt zur Querslebener [792] Bahnstation geliehen hatte. Das Wetter hatte umgeschlagen, ein unnatürlich lauer Wind fuhr durch die Bäume, und der Schnee auf den Wegen war weich und naß. Hübners hatten das Frühstück besorgt und packten uns mit betrübter Miene in den Schlitten. Mir war grenzenlos bang zu Mut, als ich den guten Menschen die Hand zum Abschied reichte, so wie einem sein mag, der aus sicherem Hafen auf das wilde bewegte Meer hinausfährt. Ach, wie öde war es in mir geworden seit gestern!

„Adieu, gnädiges Fräulein, wir wünschen, daß sich die Frau Mama bald wieder ganz wohl fühle,“ sagte Frau Hübner.

Die Pferde zogen an. Die Schlittenglocken klangen erst etwas wirr durcheinander, dann schickten sie regelmäßig ihren Dreiklang in die Nacht hinaus, die Laterne des Gefährts warf ihren Schein über den Weg, und vorwärts ging’s in den Kampf des Lebens.

Die Base schien zu schlafen, sie saß da in dem riesigen Pelz, ohne sich zu rühren; der Kutscher vorn auf dem Bock schlief wohl auch und die Pferde trotteten schlaftrunken den wohlbekannten Weg dahin. Da bewegte sich etwas hinter mir und, mich erschreckt zur Seite wendend, gewahrte ich einen Soldatenmantel und darüber ein wohlbekanntes Antlitz unter der Militärmütze. Robert Nordmann hatte sich auf den Schlitten geschwungen.

„Sie?“ fragte ich.

„Ich will Ihnen Lebewohl sagen,“ flüsterte er. „Einmal müssen Sie mir die Hand noch geben, müssen versprechen, daß Sie ein freundliches Andenken bewahren wollen an – diese Tage zwischen Weihnachten und Neujahr.“ Seine Stimme klang bewegt, seine Augen hatten einen ernsten bittenden Ausdruck.

„Was auch kommen möge,“ sagte ich, „immer werde ich an diese Tage denken.“

„Immer?“

„Immer, Herr Nordmann.“

Der Schlitten glitt weiter mit der schlafenden Base, dem nickenden Kutscher, hinein in den windigen Wintermorgen. Kein tröstlicher Stern am Himmel, nichts als das Licht der Laterne, das den Weg dürftig erhellte; so wie wir in die Zukunft hineinsahen, so war es auch um uns her – kein Stern, kein heller Schein.

„Anneliese,“ flüsterte er dicht an meinem Ohr, „Anneliese, vergessen Sie nicht, daß ich bei dem, was kommeu muß, tausendmal unglücklicher sein werde als Sie.“

„Aber warum?' murmelte ich und hatte die Empfindung, als ob der Wind, der eben meinen Schleier vom Gesicht wirbelte, glühend sei, so klopfte mir das Blut in den Schläfen.

„Warum? Wissen Sie es wirklich nicht, Anneliese?“

Ich bog den Kopf zurück, wenden konnte ich ihn nicht, so knapp war der Platz neben der Base, und ich hätte sie nicht wecken mögen in diesem Augenblick, um die Welt nicht. Ich konnte es nicht hindern, daß mir ein paar Thränen über die Wangen liefen, thörichte heiße Thränen. „Sie sollen nicht unglücklich sein, Sie sollen es nicht so schwer nehmen,“ sagte ich halb erstickt.

Da fühlte ich meinen Kopf zwischen seinen Händen und fühlte brennende Lippen auf meinen Augen. „O wir Zwei,“ sagte er, „wir armen Zwei!“ Und dann ein Kuß auf meinen Mund, ein langer Kuß - - -

Der Platz hinter mir war leer, noch ebenso dicht die Finsternis; vor meinen Augen aber war es hell geworden, nicht wie von der aufgehenden Sonne, nein, wie von einer scheidenden, die in höchster Purpurglut hinter schweren dunkeln Wolken versinkt. „Leb wohl!“ sagten die glühenden Strahlen, „jetzt kommt die Nacht.“ Und von Scheiden und Meiden klangen die Schlittenglocken durch den sturmgeschüttelten brausenden Wald, während ein noch schlimmerer Sturm an meiner Seele rüttelte. O wir Zwei, wir armen Zwei! Leben und Tod in einem Atemzuge! Wir hatten uns gefunden, uns zu verlieren – um fremde Schuld!

Ich kann’s heute nicht mehr sagen, wie ich den Reisetag überstand. Die ganze Welt erschien mir anders; um viele Jahre gealtert kam ich mir vor, wie jemand, der weiß, daß er sterben muß mitten in der Maienzeit. Ich dachte nicht mehr an ein Hinausgehen unter fremde Menschen, ich wollte nur noch eins: bei meiner armen Mutter bleiben, so lange Gott uns zusammenließ, ihr in den kommenden schweren Zeiten ein Trost zu sein und heimlich das kleine Fünkchen Glück zu hüten, das mir der liebe Gott geschenkt, wenn es auch nie zur Flamme werden durfte.

So saß ich da, erschöpft von der seelischen Erregung, unfähig, zu sprechen. Die Base, die in dem warmen Coupé den Pelz nicht mehr trug, schwieg ebenfalls, und die Falten ihres Gesichts waren tiefer denn je. Am Bahnhof in Westenberg erwartete uns der Wagen, aber sonst empfing uns niemand. Die Herrschaft habe Besuch, sagte der Kutscher. Schweigend rollten wir durch die finstern Gassen und hielten vor dem Hause. Die obere Fensterreihe war erleuchtet, aber nur ein Stubenmädchen erschien uns zu begrüßen. Hüstelnd trippelte die Base voran in unsere Zimmer.

„Mama war hier,“ sagte ich, als ich eintrat. Man hatte geheizt, den Tisch gedeckt, und unter der brennenden Lampe stand ein Veilchensträußchen. Und ehe ich noch den Mantel abgeworfen hatte, kamen auch Schritte durch das Vorzimmer, liebe, liebe Schritte, und im nächsten Augenblick lag mein Kopf an ihrer Brust.

„Meine liebe Anneliese,“ flüsterte sie, „nun bist Du wieder da!“

„Und bleibe bei Dir, Mama, immer, immer,“ sagte ich mit einem Ausdruck, in dem die ganze Erregung meines Herzens lag.

Sie strich langsam über meine Stirn und antwortete nicht. „Das wäre wohl schön,“ meinte sie endlich und sah wie abwesend an mir vorüber, „aber - aber - –“

„Ach, kein ,aber‘, liebe Mama! Wir wollen nichts weiter thun als die Gegenwart genießen, das heißt – unser beider Zusammensein. Ihr lebt doch gewiß jetzt recht still?“ setzte ich verlegen hinzu, denn die Base hatte mir gesagt, daß Mama mich gewiß so vermissen würde, weil sie viele Zeit in ihrem Zimmer auf dem Ruhebett zu verbriugen genötigt sei.

Sie sah mich verwundert an. „Ach nein, Anneliese, wir haben häufig Gäste, und deshalb. ist’s mir so lieb, daß Du da bist und mir ein wenig zur Seite stehst; und der Base bin ich auch sehr dankbar, daß sie mitgekommen ist. Sie nimmt mir gewiß wieder manche Last ab.“ Sie sagte das alles so müde, so apathisch, als lohne es sich kaum, darüber zu sprechen. Dann fragte sie etwas lebhafter, und eine Purpurglut überflog das schmale leidende Antlitz: „Du hast ja Wollmeyer das Geschenk von Brankwitz zurückgesandt?“

„Ja, Mama. Hattest Du das anders erwartet?“

Sie wand verlegen das Taschentuch in den Händen, und ein Zittern ging durch ihre Gestalt. „Ach – ich –“ dann stockte sie.

„Hattest Du Unannehmlichkeiten dadurch, Mama?“ fragte ich und faßte besorgt nach ihrer Rechten.

„Nein,“ gestand sie mit niedergeschlagenen Augen, „denn ich habe – Du wirst verzeihen, Anneliese – ich habe zufällig die Sendung abgefangen; ich behielt sie zurück, weil ich dachte – ich fände es richtiger, wenn Du das Geschenk vielleicht Brankwitz selbst zurückstellst, oder durch die Base, denn Bernhard – siehst Du – er – er –“ Sie zitterte noch mehr, und die heißen schlanken Finger zwischen den meinen zuckten.

„Rege Dich nicht auf, Mama; Du hast gewiß recht,“ stimmte ich ihr bei. „Hätte ich seine Adresse gewußt, so würde ich natürlich gleich direkt – – sage mir nur, wo der taktvolle Absender gegenwärtig ist, dann will ich es sofort thun.“

Sie sah mich an, hilflos wie ein krankes Kind. „Ich kann Dir nicht Auskunft geben, Anneliese; er ist von Cannes abgereist, aber –“ und sie sprach es ganz leise, „in wenigen Tagen kommt er her.“

„Hierher?“ Ich mochte es heftig und angstvoll gerufen haben.

Sie schwieg mit bekümmertem Gesicht.

„Mama,“ bat ich, auf sie zutretend, „sage mir doch nur eines, beruhige mich doch – ich kann den Gedanken nicht fassen, daß Du, die mich immer lieb hatte –“, ich verstummte, denn eben trat Wollmeyer über die Schwelle. Er sah rot und erhitzt aus wie stets, wenn er gut gegessen und getrunken hatte.

„Helene, aber ich bitte Dich!“ rief er vorwurfsvoll, „die Landrätin steht da am Klavier und dreht ihr Notenblatt zwischen den Fingern – komm, komm, wer soll sie sonst begleiten? – Guten Abend, Anneliese, wir sprechen uns morgen. Ist die Base mitgekommen? Schön! Hat mir vermutlich viel Neues zu erzählen? Also gute Nacht! Komm, Helene!“ Sie gingen.

„Alles noch ebenso,“ sagte ich, zu Papas Bild hinübersehend, „nur ich bin eine andere geworden.“

Und auf einmal klopfte es, just als die alte Frau und ich beim Thee saßen, derb an die Thür und die Komtesse kam herein.

„Schau, schau!“ rief sie, „wieder ins Nest geflogen?“ Und sie küßte mich, drückte mich wieder in meineu Stuhl und setzte sich neben mich. „Laßt Euch nicht stören beim Essen, ich will nur ’mal die Krabbe hier sehen. Wie geht’s, meim Kückem? Hör ’mal, ich glaube, Du bist gewachsen, und hast ganz ernsthafte Augen bekommem!“ Sie griff mir unter das Kinn und hob mein Gesicht. [794] „Wo ist Deine gottgesegnete Frechheit geblieben, meine Kleine?“ fragte sie weich. „Siehst aus wie ein gezähmtes Rehchen; ist das die Wirkung der Klausur da droben?“ Und dann begann sie zu fragen und zu erzählen, und da hörte ich denn dies und das.

„Brankwitzens werden also erwartet; Dein Stiefvater giebt einen Ball, ein Kostümfest; die Einladungen werden schon ausgesandt. Du mußt Deiner Mutter ein wenig helfen, Anneliese; Du mußt überhaupt sorgen, daß sie mit mehr Mut ins Leben sieht.“

„Ja, Tante.“

„Seit wann bist Du denn so fügsam, daß Du gleich Ja und Amen sagst?“ fragte sie erstaunt. „Früher hättest Du entschieden dagegen gesprochen! Hoffentlich bist Du es nicht auch in dem bewußten Punkt, oder haben sie Dich gezähmt da droben?“

„O nein, Tante.“

„Na, dann ist’s gut. Und weil Du jetzt gewissermaßen verständig geworden bist, will ich Dir ’mal etwas erzählen. – Wissen Sie nicht, Base,“ unterbrach sie sich, „ob der Brankwitz einen Bruder hat oder ob’s außerdem noch Brankwitzeus giebt in Berlin?“

„Hat keinen Bruder, Komtesse,“ murmelte die Base, „ist das einzige Exemplar. Hat auch, so viel ich weiß, außer seiner Schwester überhaupt keine Verwandten.“

Dann legte sie den Löffel über die geleerte Tasse, ein Zeichen, daß ihre Mahlzeit beendet sei, faltete die knöchernen Hände zum stillen Dankgebet, nahm das Geschirr zusammen und verließ mit einem altmodischen Knix die Stube.

„Eine von denen, die immer seltener werden,“ sagte die Komtesse, ihr nachblickend. „Na, nu hör’ aber! Du warst noch nicht lange fort, da klingelt es eines Morgens bei mir und gleich darauf stürzt die Josephine in mein Zimmer und kann vor Freude kaum Zipp! sagen. Hinter ihr drein, mit seinem bekannten gutmütigen Lachen kommt mein Neffe, was man so ‚Neffe‘ nennt. Kennst ihn wohl noch; war damals als Fähnrich hier und ist mit Dir auf der Schützenwiese Karussell gefahren. Herr Gott, so’n langes Etwas vergißt man doch nicht! Du warst freilich ein kleines Hühnchen zu der Zeit. Na also, der ist jetzt schon Premier bei den Garde.Dragonern, ein Bild von einem Menschen. Hm! Ich wollte nur sagen, wie wir da beim Nachtisch sitzen und er einen Apfel kunstgerecht schält, das war schon immer seine Stärke, und wir hecheln die ganze Verwandtschaft ein Bissel durch, da fällst Du mir ein – bist ja auch ein Stück von meinem Herzen, Du gottlose kleine Range! ,Hör’ ’mal, Fritz,‘ sage ich – er heißt eigentlich Friedrich Dietrich und wird Fritz Dietz genannt – ‚kennst Du nicht zufällig einen Herrn von Brankwitz in Berlin? Ich weiß ja, Berlin ist groß, aber er muß doch in Sportskreisen verkehren, denn er kennt alle Kapazitäten und wirft nur so um sich mit Fachausdrücken.‘ Da wird sein rundes fideles Gesicht ganz lang, und über den Augen ziehen sich die Brauen zusammen und der Schnurrbart steht ganz wagerecht, wie bei meinem unvergeßlichen Teckel die Borsten auf dem Rücken, wenn er sich ärgerte – ,Brankwitz? Allerdings kenne ich den Kerl, ist ja der gemeinste Kravattenfabrikant in ganz Berlin!‘ ,Na, na,‘ sag’ ich, ,dann werden wir wohl nicht denselben meinen.‘ ,Ich weiß von keinem andern; ich wollt’, sie hätten ihm erst ’mal das Handwerk gelegt,‘ schimpft er. ,Ich mein’, dieser hat Geld wie Heu und will Damnitz kaufen und die Anneliese Sternberg heiraten.‘ ‚So?‘ macht er gedehnt, ,dann mag ’s ein anderer sein, sonst könnt’ sich diese Anneliese lieber gleich ersäufen!‘ Na, wir haben dann weiter nichts mehr davon geredet, es ist ja doch wohl nicht möglich, daß es der ist, den wir beide kennen. Aber manchmal, siehst Du, Kind, manchmal kriege ich beim Nachdenke über die Geschichte so’n schwüles Gefühl! Laß Dich um Gotteswillen nicht übertölpeln! Doch eines sag’ ich Dir trotz alledem, ich mische mich nicht mehr drein.“

„Sei ruhig, Tante, ich quäle Dich nicht wieder; übrigens glaube ich wie Du, das muß ein anderer sein.“

„Wird wohl so sein – aber man macht sich manchmal Gedanken. Gute Nacht, Kind! Wenn Du Zeit hast, besuch’ mich ’mal, wirst sie freilich schwerlich haben. Dein Stiefvater scheint Westenberg auf den Kopf stellen zu wollen, und ich wünsche nur, daß alle die Vorbereitungen nicht umsonst gemacht werden.“

Ich sah sie fragend an.

Das alte Gesicht der Komtesse lächelte unsagbar drollig. „Er hofft auf eine Dekoration; irgend einer, meinte der Landrat, habe ihn dazu vorgeschlagen. Na meinetwegen, ich gönn’ ihm den roten Adler–. oder den Kronenorden vierter Güte; er hat ihn verdient, schon um meine Weihnachtskinder. Gute Nacht, Kleine – jedes Tierchen hat sein Pläsierchen.“

Keine Ahnung von dem Sturm, der heranziehen wollte, bei allen diesen Leuten! Woher auch? – – – –

Am andern Morgen erschien Herr Wollmeyer in meiner Stube. Er zeigte sich sehr scherzhaft aufgelegt, fragte, wie es mir droben gefallen habe, richtete ein paar freundliche Worte an die Base – ob sie auch gern wiedergekommen sei, und es wäre ihm doch lieb, daß er wieder eine verständige Person im Hause wisse für die kommenden Zeiten, „und kurz und gut, wir wollen uns wieder vertragen Alte – was?“

Sie sah ihn mit geradezu unheimlichen Augen an, wie eine Sphinx, und etwas wie Furcht vor der einfachen Frau kam über mich.

„Was an mir liegt – aber ich halte das Steuer nicht in Händen,“ antwortete sie feierlich.

„Du alte Unke, das weiß ich auch, daß ein Höherer die Lenkung besorgt,“ lachte er. „Heraus mit der Sprache, was habt Ihr denn da oben den lieben langen Tag gemacht? Wenn es nach Brankwitz gegangen wäre, hätte ich Euch schon zu Weihnachten erlöst, aber Strafe muß sein, sagte ich zu Helene.“ Und wieder lachte er jovial.

„Es wär’ schade gewesen,“ erwiderte die Base ruhig, und ihrem kreidebleichen Gesicht sah man die mächtige innere Bewegung an, „’s wär’ schade gewesen, wir hatten so schöne Weihnachten.“

Der Ton fiel ihm auf, er sah sie stutzend an. „Na?

„Hab’ mein Lebtag nicht gedacht, daß ich die Freude noch erleben sollt’,“ fuhr sie fort und wischte mit zitternder Hand ein paar Krumen von dem Frühstückstisch, „wünschte nur, Hannchen hätt’s auch noch erlebt, daß der Robert wieder da ist.“

Er war aufgesprungen, jetzt genau so fahl wie die alte Frau.

„Der Robert?“ fragte er. „Ach – deshalb!“

„Robert Nordmann,“ nickte sie.

Er zuckte die Achseln und bemühte sich, einen geringschätzigen Ausdruck anzunehmen, obgleich aus seinen Augen noch der Schrecken über diese unerwartete Nachricht sprach. „Da wird man in die Tasche langen müssen,“ sagte er, „sollst wohl seine Fürbitterin sein – wie?“

„Hat mir nichts davon gesagt,“ antwortete sie, ohne eine Miene zu verziehen.

„Also an Weihnachten hattest Du diese Freude bereits?“ forschte er, und sein Schreck verwandelte sich in Zorn. „Wie kommt’s denn, daß ich diese angenehme Neuigkeit erst heute erfahre?“

„Ich wußte wirklich nicht, daß es eine Neuigkeit für Sie sei, Wollmeyer,“ gab sie unbeirrt zurück, „hab’ gemeint, der Befehl an uns, zurückzukommen, hänge mit der Anwesenheit Roberts zusammen.“

„Anwesenheit?“ Er ward blaurot vor Zorn. „Wie lange hat er sich denn dort umhergetrieben?“

„Weiß nicht. Wir sind vor ihm abgereist.“

„Und legt sich dort vor Anker in meinem Hause, ohne mir ein Wort zu gönnen?“ brauste er auf, entschieden froh, einen faßbaren Grund für seinen Zorn zu haben.

„Er hat im Gasthof gewohnt,“ unterbrach ihn die Base.

„So! Und hat herumgeschnüffelt und gehorcht und sich einen Ueberschlag gemacht, wie hoch die Summe sein kann, um die er mich angehen soll! Das kenn’ ich, sonst wär’ er ehrlichen geraden Weges zu mir gekommen.“

„Er hat nur Sehnsucht gehabt nach seiner Heimat,“ war die Antwort.

Ich saß lautlos auf meinem Stuhl und preßte die Hände gegeneinander, zitternd vor Erregung. „Sehnsucht nach der Heimat?“ wiederholte er. „Dazu hat er auch alle Ursache, damit nur ja das Andenken nicht erlischt, das sein Vater hinterlassen hat.“

Die alte Frau zuckte zusammen wie unter einem Peitschenschlag. „Sie wissen Wollmeyer,“ sprach sie langsam, „daß die Langenwalder sich für den alten Nordmann noch heute totschlagen ließen und die, deren Lehrer er war und die jetzt herangewachsen sind, erst recht. Das Andenken Nordmanns da droben ist gut – trotz allem.“

„Das Pack hält’s allemal mit solchen,“ antwortete er. „’s ist der Geist der Zeit, daß man gegen die anständigen Menschen Partei nimmt. Und nun ’mal heraus mit der Sprache – was will der Bengel in Deutschland?“

„Seiner Militärpflicht genügen.“

„Was? Wie?“ Er lachte auf. „Das sieht der Sippe ähnlich! Immer den Mantel der Gottesfurcht und der Vaterlandsliebe über das, was faul ist! Das wird ja den Langenwaldern rasend imponiert haben, wenn er da in Uniform einherstolziert ist. Ja [795] die Nordmanns, die verstehen’s! Nun, und welches Regiment hat denn die Ehre, den tapferen Jüngling in seinen Reihen zu sehen?“

„Er steht in Halle, weil er zu gleicher Zeit noch ein paar Vorlesungen hören will über Strafrecht,“ sagte ich jetzt gelassen.

„Ah, da sind Sie ja auch, mein Fräulein! Sie erfreuten sich gleicherweise dieses interessanten Besuches? Hübscher Junge geworden, was? In Amerika wächst so etwas sich aus; ein paar fremdländische Manieren, ein bißchen fremdländisches Sprechen – und der famose Kerl ist fertig. Hat Ihnen wohl sehr in die Augen gestochen, wie?“

„O ja – es gefällt mir, daß er gekommen ist, um sein Jahr abzudienen.“

„Und die Rechte zu studieren! Damit will er vermutlich nach seiner Rückkehr den Amerikanern die Augen blenden. Freiwilliger und Student, über die Mitte der Zwanzig hinaus! Netter Gedanke!“ Er lachte wieder. „Hätt’ früher daran denken sollen.“

„Hat er auch! Er ist schou seit Jahren Doctor juris und würde gewiß schon früher herübergekommen sein, wenn er seinen Vater hätte verlassen können,“ antwortete ich.

„Ah, er scheint ja den verehrten Damen recht gründliche Märchen erzählt zu haben; Sie sind doch sonst nicht so leichtgläubig, Anneliese! Aber nun endlich zur Sache – wieviel will er von mir, oder hast Du die Freigebige gespielt und Deine paar Thaler weggeschenkt, Alte? Na, ’s wird schon so gewesen sein!“

„Ich glaub’ nicht, daß er gerad’ ans Schenken denkt,“ sagte sie mit eigentümlicher Betonung.

„Ach, er meint vielleicht, er habe ein Recht, zu fordern? Da könnte man ihm bald deutlich das Gegenteil beweisen. Uebrigens kommt es mir nicht auf ein paar hundert Mark an, wenn er’s auch nicht verdient hat durch sein Benehmen. Willst Du ihm das schreiben – meinetwegen! Aber bemerke gleich dabei, mit dem Reisegeld hierher soll er sparsam sein. ’n Morgen! – Anneliese, Sie sagen wohl nachher Ihrer Mutter Guten Tag?“

Er ging. Stumm sah ihm die Base nach. Als er die Thür hinter sich schloß, sank sie auf den nächsten Stuhl, und ihre zitternden Hände griffen ineinander. „O Gott, o Gott!“ jammerte sie leise. Ich trat zu ihr und strich ihr über das welke Gesicht; sie dauerte mich, die alte Frau, denn sie kämpfte zwischen der Liebe zu ihrem Neffen und der Liebe zu Mama und mir – des einen Sieg war des andern Verderben. Sie achtete auch nicht auf meine Liebkosungen; sie stand auf und ging in ihr Stübchen.

Welch eine Wirrnis um mich her – trotz des Winters schwüle Gewitterluft! Und dabei ein Treiben, als sei das Haus des Herrn Stadtrat Wollmeyer die Residenz eines kleinen Fürsten. Immerfort Besuche, immerfort Tischgäste. Wenn ich zu Mama kam, fand ich sie, einen Katalog vor sich auf dem Schreibtisch, Kotillontouren aussuchend oder Sträuße bestellend oder an die Schneiderin schreibend.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 48, S. 805–810

[805] Und die Tage gingen weiter, unruhig, voller Nichtigkeiten, dem Einzelnen keine Stunde der Sammlung, der geistigen Ruhe schenkend. Ich war einmal bei der Komtesse gewesen, da traf ich Frau von Tollen, gebeugt, traurig, nicht wiederzuerkennen. Lore sei mit ihrem Onkel nach Italien gereist und die Scheidung im Gange, erzählte mir die Komtesse hinterher.

„Warum trennen sie sich?“

„Ach Kind, das ist ’was Häßliches und die Tollen bat mich um Diskretion – frage mich nicht!“

Arme Lore! – –

Nur die halbe Stunde, die ich während der Nachttoilette abends noch in meiner Stube mit der Base zubrachte, gehörte mir. Stumm nestelte sie mir die Kleider auf und bürstete mein Haar, alles so zart und liebkosend wie immer. Wir sprachen kaum miteinander, aber wir dachten dasselbe: Robert. Und ich blickte dann mitunter fest in ihre kleinen Greisenaugen – hatte sie den Kuß gesehen, den süßen, traurigen Kuß des sich Findens und Verlierens? Kein Zug ihres Gesichtes, kein Wort verriet es mir. Freundlich sagte sie nur mitunter: „Wo Menschenverstand nicht mehr aus und ein weiß, hat Gott noch alleweil’ ein Pförtlein. Müssen nicht so blaß aussehen, Anneliese. Schauen Sie nur in den Spiegel, das ist gar nicht mehr Ihr altes Schelmgesicht!“

Nein, das war es nicht mehr, ich sah es selbst. Etwas Blasses, Längliches blickte mir da entgegen, mit Augen, unter denen tiefe Schatten lagen, und ein fest geschlossener Mund, der alle Neigung verloren hatte, vorwitzig zu antworten. Die Lippen waren auch keine Kinderlippen mehr, aber das wußte nur er und ich und der Sturm, der an uns vorübergebraust. Und das Lachen hatten sie verlernt in wenigen Sekunden – wohl für immer, denn wann sollten sie es wieder lernen?

„Ach Base, wie soll es werden?“

„Der Herr hat gesagt: ‚Sorget nicht!‘ Wenn ich nicht an seine Hilfe glaubte, ich lebte längst nicht mehr,“ antwortete sie.

„Aber das Unabwendbare kommt ja, muß ja kommen.“

Sie schwieg, denn auch sie wußte – es mußte kommen.

„Base, haben Sie Nachricht von ihm?“ erkundigte ich mich stockend.

„Nein,“ war die kurze Antwort.

Morgens in aller Frühe war die Base schon auf den Beinen, sie lief treppauf und treppab und nahm alle Wirtschaftssorgen Mamas auf ihre alten Schultern. Und [806] Herr Wollmeyer wurde täglich nervöser und aufgeregter, und die Base murmelte etwas von „Verrücktwerden“ vor sich hin, als er von ihr verlangte, sie sollte sich dem Kostümfest zu Ehren in das Gewand einer altdeutschen Bürgersfrau stecken, so als Schaffnerin in Riegelhaube, faltigem Tuchrock, Halskrause und weiter weißer Schürze, in ein Gewand, wie es Frau Schwerdtlein im „Faust“ getragen.

„Wer ist denn die?“ fragte die alte ehrliche Seele, „hab’ meintag nichts von der gehört. Er soll mich zufrieden lassen!“

„Er soll mich zufrieden lassen,“ sagte auch die Komtesse, die eines Abends im Mamas Zimmer trat. Wir saßen da beide in der Dämmerung zusammen und sprachen über gleichgültige Dinge. „Er soll mich zufrieden lassen, Len’; über Mummenschanz und Verkleidung bin ich hinaus. Was ist ihm denn eigentlich eingefallen? Jeder Spatz auf dem Dache pfeift von Wollmeyers Kostümfest! Wenn Ihr noch junge Leute wär’t – aber so! Du hättest alle Ursache, recht still zu leben.“

Mama antwortete nicht.

„Und dann, Len’, noch eins! Wie kamt Ihr dazu, bei dem Erbmundschenk von Pauersleben Besuch zu machen? Ich bin überzeugt, daß Seine Excellenz recht freundlich zu Wollmeyer gewesen ist am letzten Geburtstag des Kaisers, aber – aber –“

Mama zuckte die Schultern ein wenig und schwieg, während eine Schamröte über ihr Gesicht flog.

„Na, nichts für ungut, Len’,“ fuhr die Komtesse unerbittlich fort, „ich meine nur, daß alles seine Grenzen hat. Pauerslebens – sie, die Excellenz, war nämlich vorhin bei mir – scheinen sich sehr zu wundern; Du kennst sie ja, Len’! Gegen Dich haben sie ja nichts, aber Wollmeyer ist ihnen doch schließlich völlig fremd, und versteh’, Len’ –“

„Ich verstehe ja, ich verstehe, Komtesse, aber ich kann es nicht hindern!“ rief Mama nervös.

„Ich will Dir ’was sagen, Len’ – Du bist ein weiblicher Waschlappen geworden,“ beharrte die Komtesse. „Du läßt Dich in einer Weise beeinflussen, die ich unbegreiflich finde, und hast völlig das Verständnis für das verloren – für das, was Eure Stellung verlangt. Sei nicht böse, aber einmal muß es heraus. Wenn’s so weiter geht, macht Ihr Euch lächerlich! So viel Macht mußt Du haben, daß Du sagst: hier ist die Grenze des guten Geschmacks, drüber hinaus giebt’s nichts mehr! Du hast den Sternberg zu allem gebracht, was Du wolltest, und jetzt bist Du nicht imstande – –“

„Tante“, bat ich, „schilt nicht, Mama ist krank – nicht wahr, Mama? Und siehst Du, Tante, Papa – Papa war eben – –“

„Ja, ja, Kücken, Du hast recht,“ gab die Komtesse grollend zu. „Papa war eben – – Na, darum keine Feindschaft, Len’, und sag’ ihm, wenn ich nicht kommen dürfte in meinem Schwarzseidenen, so bliebe ich daheim. Und sieh nicht so traurig aus; er hat ja auch seine Vorzüge! Schau’ mal, er steckt Dich in Samt und Seide bis über die Ohren, und alles was recht ist – gestern hat er wieder zweihundert Mark zu Kohlen für die Armen gegeben. Sei gut, Len’, auf mich kannst Du immer zählen.“

Sie strich Mama über das Gesicht und ging.

Mama lag ganz still; ich glaubte schließlich, sie sei eingeschlafen, zog mich in die tiefe Fensternische zurück und blickte nach Westen hinüber, wo nur noch ein blasser Goldstreifen von dem gesunkenen Tage erzählte.

„Helene!“ hörte ich plötzlich die laute Stimme meines Stiefvaters, „da ist wieder so ein verteufelter Brief von Brankwitz – nachgerade wird’s Zeit, daß man Ruhe bekommt. Er hofft, er finde alles geordnet oder doch die Wege hinreichend geebnet, wenn er morgen mittag eintrifft.“

Mama schwieg, ich hörte nur ein qualvolles tiefes Atmen.

„Hm! Hast Du nun eigentlich mit Anneliese geredet?“ fragte er ungeduldig.

„Nein, Bernhard, noch nicht.“

„Weshalb nicht?“

Es blieb ganz ruhig. Ich, die schon auf dem Sprunge war, hervorzutreten, setzte mich wieder, in der Meinung, daß er sich entfernen würde. Da tönten mir die Worte ins Ohr: „Ich frage Dich, weshalb nicht? Und ich bitte mir Antwort aus!“ Es klang drohend, gereizt.

„Mir fehlt die Kraft,“ sagte Mama.

„So? Dieser Ausweg ist neu. Bis heute abend wirst Du die Kraft gefunden haben, Deinem trotzigen Fräulein Tochter den Standpunkt klar zu machen, wenn Du nicht vorziehst, daß ich es thue. Und dann, weißt Du – dann fächelt der Wind nicht aus Westen,“ schloß er brutal.

Ich stand auf einmal an Mamas Seite. „Sei ruhig, Mama,“ sagte ich, „ich werde schon selbst mit dem Herrn Wollmeyer reden! Bitte,“ wandte ich mich an ihn, „vielleicht in Ihrem Zimmer?“

Er war so verblüfft und überrascht, daß er mir folgte. Ich schloß die Thür hinter uns und zündete ein paar Kerzen vor dem Spiegel an, sie verstreuten ihr Licht in dem hohen großen Zimmer, ohne es zu erhellen.

„Bitte, wollen Sie mir mitteilen, um was es sich handelt!“

Er hatte sich gefaßt, und in scherzhaftem Ton sagte er, die Hände reibend: „Sie thun ja als ob Sie hier zu Hause wären, Anneliese!“

„Das liegt mir jedenfalls gänzlich fern! Ich möchte nur meine Mutter verschont wissen von Auseinandersetzungen, die voraussichtlich doch nicht zu dem von Ihnen gewünschten Ende führen.“

Nun, das wollen wir abwarten. Bitte, nehmen Sie Platz! Erlauben Sie, daß ich mir eine Cigarre anzünde? Es ist eine Art Beruhigungsmittel – – Was willst Du hier, Helene? Ich ersuche Dich dringend, geh!“ rief er jetzt, da Mama, zitternd vor Angst, auf der Schwelle erschienen war.

„Bitte, Mama, ich kann besser ohne Dich sprechen,“ sagte nun auch ich und drängte sie zurück. Sie warf mir noch einen unsäglich angstvollen Blick zu, dann ging sie wirklich. Ich blieb ruhig stehen an dem großen Bücherschrank mit den prunkvoll gebundenen Büchern, deren Inhalt ihrem Besitzer höchst wahrscheinlich gänzlich unbekannt geblieben war, ausgenommen „Doktor Qualms sämtliche Werke“, die er beim Kaffee seinen Gäste immer mit dem nämlichen Behagen an dem abgebrauchten Witz präsentierte.

„Na also, meine gute Anneliese, es handelt sich um Ihre Heirat.“

„Ich dachte es mir.“

„So? Sie dachten es sich? Also, Brankwitz hat – –“

„Herr Wollmeyer, ehe Sie weiter sprechen, möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich in Bezug auf diese Angelegenheit noch genau so gesonnen bin wie vor einigen Wochen, als ich abreiste, daß mir Herr von Brankwitz unsympathisch ist und bleiben wird.“

„Augenblicklich mögen Sie noch so denken, aber ich könnte Sie bald bekehren,“ meinte er anscheinend gemütlich.

„Das bezweifle ich!“

„Ich nicht!“

„Ich bin fest überzeugt, daß Sie das nämliche Mittel, mich gefügig zu machen, anwenden werden, das Sie bei Mama anzuwenden für gut fanden; aber bei mir dürfte seine Wirkung versagen.“

„Ach? Ich habe übrigens bis jetzt kein Mittel Ihrer Mutter gegenüber angewendet, das dürfte erst noch kommen!“ Er blies große Wolken weißlichen Dampfes gegen die Decke. „Nun Anneliese, auf vernüntige Vorstellung zu hören, sind Sie also nicht gesonnen?“

„Mit dieser Angelegenheit hat die sogenannte Vernunft nichts zu thun. Ich heirate nicht gegen meine Neigung, noch viel weniger mit einer ausgesprochenen Abneigung.“

„Nun, dann will ich davon absehen, die Vorteile dieser Verbindung Ihnen noch einmal vorzuführen, und nur die Nachteile einer Weigerung besprechen. Sie gehen einer äußerst bedrängten Zukunft entgegen. Da ich für meine eigene Familie zu sorgen habe, kann und darf ich Ihnen gar nichts versprechen als einen Aufenthalt hier im Hause; bei Ihrem ausgesprochenen Stolz nichts Leichtes für Sie.“

„Versprechen Sie nur nicht zu viel,“ sagte ich ironisch. Die ganze herzlose Art ließ mich nur mit äußerster Anstrengung meinen Zorn bemeistern.

Er sah mich an und stutzte. „Was soll das heißen?“

„Nun, kein Mensch ist seiner Zukunft Herr, meine ich.“

„Eine faule Redensart der Base,“ schaltete er ein. „Also Sie bleiben bei Ihrem Nein?“

„Ich bleibe dabei.“

Er gab sich keine Mühe mehr, scherzhaft auszusehen. Er stand auf, ging an alle Thüren, die er leise öffnete und schloß, um zu sehen, ob jemand lausche, dann trat er dicht vor mich hin. „Die Ehre Ihrer Mutter wie die Ihrige, Ihrer beider Existenz knüpfen sich aufs engste an meine Ehre und meine Existenz – begreifen Sie das?“

„Es ist nicht zu leugnen, Herr Wollmeyer,“ sagte ich.

[807] „Nun, ich dächte, den ironischen Ton, den Sie soeben anschlagen, könnten Sie weglassen; bis jetzt haben Sie weich und warm hier gesessen.“

Ich schwieg. Für Naturen wie die seine mußte es ja alles sein, wenn man zu essen und zu trinken und ein Dach über dem Kopfe hatte, und alle diese Dinge möglichst luxuriös.

„Ja, das können Sie nun nicht ableugnen, nicht wahr? Und besonders, wenn Sie die Witwentage Ihrer Mutter in Betracht ziehen, ist’s doch am Ende nicht so übel unter Wollmeyers Schutz – wie?“

„Wovon sprachen wir doch, Herr Wollmeyer?“

„Weichen Sie mir nicht aus! Ich hoffe, Sie verstehen mich, wenn anders Sie der Ausbund von Klugheit sind, für den Ihre gute Mama Sie hält, und wenn Sie verstehen wollen.“

„Ich werde mir jedenfalls Mühe geben, denn Klarheit ist ja das einzige Mittel, um aus diesem Zwiespalt herauszukommen.“

„Nun also! Wenn Sie sich weigern, Frau von Brankwitz zu werden, so hat das die eingreifendsten pekuniären Verluste für mich im Gefolge und natürlich auch für Ihre Mutter und für Sie.“

„Ich verstehe das nicht, das ist gar nicht möglich!“

„Brankwitz trennt sich dann geschäftlich von mir. Ich kann Ihnen das nicht so auseinandersetzen mit ein paar Worten, aber ich – ich –“

„Weil ich ihn nicht heiraten will, trennt er sich von Ihnen, seinem väterlichen Freund?“

„Ja! Er würde es mir nie vergeben, daß meine Tochter ihn ausschlägt.“

„So! Hat er Ihnen das mitgeteilt?“

„Allerdings!“

„Mit welchem Rechte droht er Ihnen?“ fragte ich langsam und sah ihn groß an.

„Mit welchem Recht? Mit dem Recht des beleidigten zurückgesetzten Mannes, der Sie grenzenlos liebt. Liebende sind unberechenbar, sie sind zu allem fähig.“

Sie stoßen ihn doch nicht zurück!“

Er trat mit dem Fuße auf. „Kurz und bündig,“ rief er, „unsere guten Beziehungen gehen in die Brüche, denn er wird die Schuld mir zuschieben!“

„Verzeihen Sie – an einen so niedrig denkenden rachsüchtigen Menschen wollen Sie mich verhandeln, um Ihres Vorteils willen?“

Eine schwüle Pause entstand. Ich hörte nur sein tiefes aufgeregtes Atemholen.

„Ich will nichts mehr wissen von dieser Geschichte,“ sagte ich endlich, „und bedaure, wenn Sie durch meine Weigerung Unannehmlichkeiten haben. An Ihrer Stelle ließe ich einen Menschen, der so gesinnungslos ist, Sie etwas entgelten zu lassen, woran Sie schuldlos sind, einfach laufen; er ist kein Gewinn für Sie.“

„Sparen Sie Ihre Schulmädchenweisheit!“ hörte ich ihn keuchen, und sein blutrotes Gesicht war plötzlich dicht vor mir. Ich sah die zornigen Augen und die Schweißperlen, die auf seiner Stirn flimmerten. Er hatte meine Schulter gefaßt. „Wollen Sie Ihre Mutter zur Frau eines Bettlers machen?“ fragte er fast heiser.

„Lassen Sie mich los!“ forderte ich, denn die große Hand drückte mich fast zu Boden. „Ich bin überzeugt, Mama bettelt lieber, als daß sie mich unglücklich sieht.“ Und mit Gewalt schüttelte ich seine Hand ab und lief nach der Thür. Da riß er mich am Arm, um mich zum Bleiben zu zwingen, mit solcher Gewalt, daß ich zurücktaumelte und meinen Kopf schwer an den geschnitzten Pfeiler des Bücherschranks schlug. Der Schmerz war so heftig, daß ich laut aufschrie.

Da plötzlich flog die Thür auf und Mama stürzte herein; außer sich, mit erhobenen Händen stand sie vor dem Mann. „Was hast Du gethan?“ stieß sie hervor. Und als ich mich aufraffte und zu ihr hinübereilte, um sie zu beruhigen, schob sie mich heftig zur Seite. „Du hast es gewagt, sie anzurühren?“ rief sie dem Wütenden zu. „Ist es nicht genug, daß Du mich behandelst, wie nur ein roher Mensch seine Frau behandeln kann, mußt Du die Hand auch noch erheben gegen mein Kind?“

Er faßte sie bei den Schultern, daß sie aufstöhnte vor Schreck. „Ruhig!“ flüsterte er ihr zu. „Soll das ganze Haus vor der Thür zusammenlaufen, Helene? Anneliese stieß sich an dem Schrank, ich habe ihr nichts gethan – Du weißt nicht, was Du sprichst. Habe ich Sie geschlagen?“ herrschte er mich mit gedämpfter Stimme an. „Ja oder nein?“

„Nein!“ sagte ich verächtlich.

Er ließ Mama los. „Wahnsinniges albernes Weibervolk – dumme Edelmannsmucken!“

Mama stand da, noch immer zitternd und kampfbereit. „Anneliese wird Brankwitz nicht heiraten, weil ich es nicht dulde!“ rief sie schrill. „Einmal habe ich mich einschüchtern lassen durch Dich und war auf dem Punkte, mein Kind und seine Liebe zu verlieren – jetzt nicht mehr. Hörst Du, ich will nicht – ich –“

Er zuckte die Achseln und sah sie höhnisch lächelnd an. „Echauffiere Dich nicht, Helene, Ihr werdet noch alle Zwei wollen, gern wollen – wartet nur!“

„Nie!“ rief Mama.

„Gehen Sie hinunter!“ befahl er mir.

„Ich lasse Mama jetzt nicht allein – komm’ mit, Mama!“

„Sie bleibt hier!“ donnerte er jetzt, nicht mehr Herr seiner selbst, unb wies mir die Thür.

„Geh!“ sagte Mama.

Er kam mir nach bis zur Treppe, als wollte er sich überzeugen, daß ich wirklich gehe.

Ich kam, von Sorge und Angst durchschüttelt, unten an. Die Base saß vor dem Tisch und steckte Kerzen auf eine Unzahl Leuchter.

„Heiliger Gott, was ist mit Ihnen?“ rief sie.

„Ich habe mich gestoßen, Base,“ sagte ich und ließ mich auf den nächsten Stuhl fallen, „um Gotteswillen, schweigen Sie, Base – horchen Sie doch –“

Ueber uns flog krachend eine Thür und erklangen schwere Schritte. Die alte Frau richtete starr den Blick nach oben.

„Base, ich bitte Sie, gehen Sie hinauf,“ flehte ich, „beschützen Sie Mama!“

Sie senkte den Kopf und rührte sich nicht. Ich hörte Mamas hohes, gellendes, von Schluchzen unterbrochenes Sprechen bis hier herunter, von Wollmeyer nur immer das hastige Hinundherwandern und das gelegentliche Verrücken eines Möbels, das, ihm im Wege stehend, einen Stoß erhielt.

„Bleiben Sie nur ganz ruhig, Annelieseken,“ murmelte sie. „Ich darf nicht hinauf. Sie kennen ihn nicht; es wäre Oel ins Feuer.“

Und zitternd, den Kopf in meinen Armen geborgen, blieb ich sitzen, der Verzweiflung nahe. Plötzlich verstummte droben auch die Stimme Mamas, als ob sie zu Ende sei mit ihrer Kraft, und nun blieb alles still. Ruhig hantierte die Base weiter an ihren Kandelabern von Silber und Bronce, als ob es das wichtigste Geschäft von der Welt wäre, die blaßrosa Kerzen aufzurichten, die dem Feste leuchten sollten. Kein Wort, keine Frage; wie ein lebendig gewordenes Rätsel saß sie da.

Endlich war ihre Arbeit beendet und sie ergriff zwei der Leuchter. „Ich werde sie selbst hinauftragen, Annelieseken, Friedrich ist zu ungeschickt.“ Es war etwas Entschlossenes in ihrem Gesicht. Sie ging; ich meinte, sie bleibe eine Ewigkeit aus. Als sie wieder kam, hatte sie ein Tuch über die Schultern und den Kopf gebunden und brachte einen Strom eisiger frischer Luft mit herein. An ihren thränenden Augen und der roten Nase sah ich, daß sie im Freien gewesen war.

„Ich hab’ Ihnen nur rasch ein wenig Heftpflaster geholt, Annelieseken,“ sagte sie, „damit man übermorgen die garstige Stelle an der Schläfe nicht sieht.“

Sie holte wirklich ein Röllchen Pflaster aus der Tasche. Ich starrte sie ungläubig an; daran konnte sie jetzt denken? „Was, und sogar in der Mohrenapotheke waren Sie, dort unten an der Post?“ fragte ich.

„Ja, da giebt’s das beste Pflaster,“ erklärte sie und suchte mit ihren alten klammen Fingern nach einer Schere.

„Base, Sie sagen nicht die Wahrheit!“

„Meiner Seele, ich war in der Mohrenapotheke!“ beteuerte sie ernsthaft, und damit befestigte sie kunstgerecht das Pflaster. „Legen Sie sich zu Bett, Annelieseken; ich bleibe noch auf, ich hab’ heute noch viel zu thun.“


Am andern Morgen nach tiefem traumlosen Schlaf erwachte ich mit furchtbarem Kopfweh und einem solchen Unglücksgefühl, daß ich wie gebrochen dalag. Die Base wies meinen Stiefvater ab, der mich in aller Morgenfrühe sprechen wollte; ich wäre auch schlechterdings zu nichts fähig gewesen. Mama fand ich an meinem Bett sitzen, als ich mittags zwölf Uhr uach einem schmerzstillenden [810] Mittel etwas wohler erwachte. Sie bemühte sich, unbefangen und freundlich zu scheinen

„Ich habe Dich gewiß recht erschreckt, armes Kind – ich war so heftig gestern.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich fürchte nur, Du bist nicht wohl, Mama!“

„Doch, doch! Sag’, kannst Du zu Tisch heraufkommen um drei Uhr?“

Ich wollte schon heftig verneinen, da sah ich ihre Augen so flehend, so angstvoll auf mich gerichtet, während ihre zitternden Finger sich in peinvollster Verlegenheit ineinander wanden. „Ja, Mama!“ sagte ich, „ich komme, selbstverständlich.“ – Ich durfte sie nicht verlassen, nicht einen Augenblick. All das Schwere mit ihr zu tragen, war ja das Einzige, was mir blieb in meinem jungen, schon so öden Leben.

„Ich habe zur Komtesse geschickt, sie soll mit uns speisen; es ist dann unbefangener. Komm nicht zu früh hinauf, die Brankwitzens –“

„Ach, die Brankwitzens!“

„Sie sind eingetroffen, vorhin.“

Ich nickte stumm.

Mama strich mit ihrer zitternden Hand über mein Gesicht, dann ging sie. Die Base half mir beim Ankleiden. Im Hause war eine schreckliche Unruhe; das Klopfen von Tapeziererhämmern, die irgend welche Draperie festnagelten, das Stimmen des Flügels aus weiter Ferne drang gleich spitzen Messern in meine schmerzenden Schläfen. Ueber den sonst so stillen Hof kamen Leute mit Körben und Paketen, der Postwagen hielt vor der Thür, und aus der Orangerie wurden Gewächse herübergeschafft. Die elektrischen Klingeln, die mein Stiefvater im ganzen Hause hatte anbringen lassen, ertönten jeden Augenblick mit ihrem schrillen nervenverletzenden Klang, mitunter so lange und andauernd, daß ich mir verzweiflungsvoll die Ohren zuhielt. In der Küche wurde mit Porzellan geklappert, als sei es gleichgültig, wie viel Scherben es gäbe nach vollbrachtem Tagewerk – der ganze Lärm, der einem großen Hausfest voranzugehen pflegt, war vernehmbar.

Draußen schien die Sonne vom klarblauen Himmel und leckte mit heißer Zunge an dem Schnee des Kirchendaches; zuweilen rutschte eine kleine Lawine herab, und die Dohlen umkreisten dann erschreckt ob dieses Ereignisses den Turm. Ich öffnete das Fenster; eine weiche milde Luft wehte herein, verfrühte Botschaft vom Lenz, trügerisches Flüstern, Schmeicheln von besserer Zeit. Wie weit war Frühling und Glück!

Gegen zwei Uhr kam die Komtesse. Ich ging ihr entgegen bis in den Flur, der kaum wiederzuerkennen war in seinem grünen Schmuck, zwischen dem man bunte Lampions angebracht hatte, Fahnen und farbige Seidenbänder.

„Erbarme Dich!“ sagte die Komtesse, „’s ist ja großartig! Die Len’ hat mich hercitiert, Kücken, ich soll wohl bei irgend was Gevatter stehen? Es ist ja manchmal nötig, eine Spatzenscheuche aufzustellen. Aber wie siehst Du denn aus? Kind, Kind, Du bist doch sonst ein kouragiertes Kerlchen – Kopf hoch! Und merke Dir, ich red’ kein Wort in Deiner Sache, ich wirke höchstens durch gänzliche Unbefangenheit.“

Sie umspannte mit ihrer großen Hand mein Genick und schüttelte mich ein wenig, als wolle sie mich ermuntern. „Nun, denn hinein in das diplomatische Diner!“

Mein Stiefvater machte ein sehr erstauntes Gesicht, als die Komtesse Mamas Zimmer betrat, in dem bereits Olga Sellmann mit ihrem Bruder meiner harrten.

„Entschuldigen Sie, lieber Wollmeyer,“ rief sie, „ich falle Ihnen da höchst unvorbereitet in die Suppenschüssel, aber Josephine hat heute Kopfschmerzen und ist schlechterdings nicht fähig, zu kochen. Da dachte ich, Wollmeyers werden wohl einen Teller Suppe übrig haben, will ’mal sehen, ob es wahr ist, daß ich immer meinen Platz an ihrem gedeckten Tisch finde.“

Sie hatte während dieser menschenfreundlichen Lüge Wollmeyer höchst kräftig die Hand geschüttelt, sich flüchtig gegen die Geschwister Brankwitz verbeugt, Mama auf die Stirn geküßt und saß nun in dem tiefen Sessel mit einer anscheinend so behaglichen und wohligen Miene, daß ich, trotz aller Pein der Situation, ein leises Lächeln nicht unterdrücken konnte.

Ich hatte sowohl Olga Sellmann wie Otto von Brankwitz mit einem stummen Kopfnicken begrüßt; meinem Stiefvater gab ich seinen forschenden bösen Blick ruhig zurück und setzte mich zwischen Mama und Olga Sellmann, ohne Teil am Gespräch zu nehmen. Es war eine wunderliche Gesellschaft. Die Gespräche drehten sich um ganz allgemeine Dinge, um politische Ereignisse, Berliner Neuigkeiten, Anekdoten und Aehnliches. Die Komtesse, die mit einer geradezu eisigen Miene über die Geschwister Brankwitz hinwegsah und, wenn sie direkt mit ihnen sprechen mußte, doch dabei wo anders hinblickte, lenkte das Gespräch auf das morgende Fest, fragte, ob sie – wir aßen heute in Mamas Zimmer – in dem Festsaal die Glücksbube mit den Gewinnen ansehen dürfe, und dankte im voraus für die Gaben, die ohne Zweifel in die Armenkasse fließen würden. Brankwitz wandte sich öfter an sie mit irgend einer Frage, die immer sehr kurz, wenn auch höflich beantwortet wurde.

„Kennen die gnädige Gräfin zufällig den Grafen Arvensleben auf Roddwitz?“

„Jawohl,“ antwortete sie, „was ist mit ihm?“

„O nichts, gar nichts! Ich hörte nur unterwegs im Coupé von ihm sprechen – nicht wahr, Olga? Sollen ja wunderbare Güter sein, die Arvenslebenschen!“

„Allerdings, jetzt suchen sie ihresgleichen“ erzählte die alte Dame. „Der Graf hat sie wieder hochgebracht. Als er sie antrat vor fünfundzwanzig Jahren sah es bös’ aus, aber durch seine Energie, seine vorzügliche Wirtschaft sind sie jetzt in musterhaftem Zustand; er ist der bestsituierte Grundbesitzer unseres Kreises.“

„So, so!“ sagte Brankwitz. „Will etwas heißen heutzutage, wo man gewöhnlich beim Landwirtspielen das bare Geld zusetzt.“

„Er hat sechs Kinder“ sprach die Komtesse weiter; „zwei verheiratete Töchter, eine unverheiratete und drei Söhne; der älteste steht bei den Gardedragonern.“

„Wird auch nicht billig sein,“ murmelte mein Stiefvater, „der alte Herr wird des öfteren seine milde Hand aufthun müssen.“ Er sah dabei Brankwitz eigentümlich an.

„Er hat sie höllisch in der Zucht, die Jungens,“ antwortete die Komtesse und schälte eine Reinette.

Mama war sehr still; sie sah elender aus den je. Olga Sellmann brachte das Gespräch wieder auf Näherliegendes, fand die Lose für die Lotterie zu billig – eine Mark, was dabei herauskommen solle?

„Ich finde, für unsere Westenberger Gesellschaft ist eine Mark schon zu hoch. Wir haben hier samt und sonders die Markstücke nicht so in Haufen liegen,“ redete die Komtesse dagegen.

Ein schrecklicher Mittag; und eigentlich begriff ich Mama nicht – es war ja nur ein Hinausziehen, ewig konnten wir doch die Komtesse nicht behalten. Sie würde nachher fortgehen, und dann kam der Sturm mit erneuter Gewalt, dann würde dieser blasse Mensch in dem tadellosen stutzerhaften Gesellschaftsanzug möglicherweise selbst reden, dann würde ich – ja, was würde ich? Er starrte mich unverwandt an; ich fühlte es, obgleich ich ihm keine Blick zuwandte.

„Anneliese,“ rief die Komtesse über den Tisch, „Dich entführe ich nachher, Du mußt mir noch ein wenig helfen bei meinen kleinen Geschenken für die Glücksbude. Ja, mein lieber Wollmeyer, Sie werden staunen, was Sie von mir bekommen! Höchste Prosa, aber höchst praktisch! Die Anneliese muß mir aber noch helfen, weil die Josephine doch –“

Ich lächelte; gute Tante Komtesse!

„Anneliese wird leider – pardon, Komtesse – wird leider ihrer Mutter ein wenig helfen müssen,“ widersprach mein Stiefvater. „Ich bin außer mir, Komtesse – aber –“

„Ich habe nichts zu thun für Anneliese, es ist alles in Ordnung,“ unterbrach Mama.

„Nun, sehen Sie, lieber Wollmeyer!“ triumphierte die Gräfin. „Also Du kommst nachher mit, Kücken!“

Das Essen war beendet, wir gingen in das kleine Zelt, wo der Kaffee bereitstand. Die Herren meinten, sie könnten doch den Damen nichts vorrauchen und zogen sich in Herrn Wollmeyers daneben liegende Stube zurück. „Bringen Sie mir den Kaffee herüber, Anneliese!“ befahl er.

Ich stellte zwei gefüllte Tassen auf einen Präsentierteller und schickte Friedrich damit hinein. Olga Sellmann empfahl sich; sie sei etwas angegriffen von der Reise und wolle ruhen. Sie ging mit einem spöttischen Lächeln.


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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 49, S. 826–828

[826] Wir blieben allein in dem bereits dämmerigen Raum. Die Komtesse fuhr fort, von gleichgültigen Dingen zu reden, Mama bemühte sich, darauf einzugehen, und einmal in einer Pause ergriff sie die Hand der alten Dame. „Ich danke Ihnen!“

„Du weißt, Len’, Du kannst auf mich rechnen – verstehen thu’ ich aber diesen Trug nicht.“

„O, ich will später alles aufklären,“ antwortete Mama, „und – –“ dann verstummte sie und richtete sich kerzengrade in ihrem Stuhl empor. Von nebenan – der Sprecher mußte dicht an der Thür stehen – klang es so deutlich herüber, als würden die Worte in demselben Zimmer mit uns gesprochen.

„Der alte Arvensleben ist ja in brillanten Verhältnissen,“ sagte mein Stiefvater, „ein Risiko also gänzlich ausgeschlossen; zehntausend Mark bar, zwanzigtausend geschrieben, zwei Monate Ziel; teile ihm das mit, dem Bruder Lustig!“

Die Komtesse horchte unwillkürlich auf, ihre Nase ward weiß und spitz, sie sah die Thür an, dann uns. „Es ist merkwürdig hellhörig hier, Len’,“ bemerkte sie kurz. Mama war emporgesprungen, setzte sich aber wieder; eine seltsame Erregung lag auf ihrem Gesicht.

„Was sagst Du?“ klang Wollmeyers Stimme setzt wieder. „Teufel auch, ich dächte, Du könntest zufrieden sein mit den Geschäften, die Du machst mit meinem Gelde! Wieso hast Du Unbequemlichkeiten? Ich dächte, Du lebst wie ein Prinz! Daß Du Dein großes Vermögen verspielt hast, dafür kann ich doch nicht, und im übrigen verdienst Du genug durch Deine Experimente.“

„Die Hälfte, ganz genau die Hälfte, teurer Onkel,“ sagte Brankwitz. „Mehr giebst Du mir nicht, obgleich ich unmittelbar vor der Bresche stehe, wenn ’was passiert!“

„Ist das nicht genug, die Hälfte? Was soll denn passieren? Denkst Du, der alte Bärenroder wird etwas untermehmen, weil sich der Sohn, der Bruder Liederlich, totgeschossen hat? Bilde Dir nichts ein! Die Bärenroder sind genug bloßgestellt durch den Spielerprozeß des Bruders vom Alten; sie schweigen still.“

Die Komtesse erhob sich plötzlich. „Ich will gehen, Anneliese,“ murmelte sie, „bring’ Deine Mama in ein anderes Zimmer! – Len’, steh’ auf, geh’ in Deine Stube,“ sagte sie halblaut, Mama an der Schulter rüttelnd. Gleich darauf war sie verschwunden.

Ich legte meinen Arm um Mama. „Komm, Mama!“ rief ich ängstlich, sie sah so starr und unheimlich nach der Thür drüben.

„Schweig’,“ flüsterte sie leise, heftig, und preßte mir die Hand auf den Mund. Tiefe Dämmerung umgab uns. Mein Kopf lag in ihrem Schoß; ich fühlte das Zittern, das von Zeit zu Zeit ihren Körper durchflog. Sie hatte die Hand in mein Haar gekrallt; es that mir weh, so fest klammerte sie sich daran, als das Gespräch, dem sie lauschen wollte, seinen Fortgang nahm.

„Ich muß es Dir wiederholen, Onkel,“ sagte Brankwitz, „ich habe es satt, an der Nase umhergezogen zu werden. Deine leeren Versprechungen nutzen mir den Teufel! Ich kann nichts unternehmen; und da ich einsehe, daß ich wenig Aussicht habe, je Dein Schwiegersohn zu werden, so –“

Jetzt klinkte Wollmeyer leise die Thüre auf, wohl um hereinzuschauen. „So!“ meinte er dann in ruhigem Tone, indem er sie etwas offen ließ, „wer sagt das?“

„Ich fand vorhin das Armband in meinem Zimmer, mit einer Karte von Anneliese, auf der sie mir mitteilt, daß ihr irrtümlich ein Geschenk zugestellt worden sei und daß sie sich beeile, es dem Absender zurückzugeben. Sie habe leider dessen Adresse nicht gewußt, sonst wäre es sofort wieder in seine Hände gekommen.“

Wollmeyer antwortete nicht; er hatte nur einen halblauten Ausruf der Entrüstung ausgestoßen.

„Ich habe beschlossen, mich in diese sehr betrübende Thatsache zu ergeben,“ fuhr Brankwitz fort, „ich lasse Dir Deine Tochter, aber ich bitte um Auszahlung des Kapitals.“

„Was?“ fragte Wollmeyer, „welches Kapitals?“

„Anneliese paßt schließlich auch nicht für mich, die vierzigtausend Thaler passen aber jedesmal.“

„Vierzigtausend Thaler?“

„Weniger würdest Du ihr doch nicht mitgegeben haben, Onkel!“

„Du bist verrückt! Du weißt, wie es mit Helene steht?“

„Gewiß! Ich gratuliere Dir herzlich. Was übrigens die Verrücktheit anlangt, so werden wir ja sehen. Bis jetzt, lieber Onkel, hast nur Du Zeichen von einiger Geistesabwesenheit gegeben.“

„Wieso?“

„Schickst die Base auf die Mühle, läßt auch das Mädel wochenlang dort und scheinst vergessen zu haben, daß da noch jeder Stein von der alten Geschichte schreit. Nicht genug damit, Du läßt sie auch noch dort, wie bereits der junge Herr Nordmann daselbst auftaucht, der Liebling Deiner Base, das von der ganzen Gemeinde betrauerte Opfer der damaligen Katastrophe.“

„Pah, der Lump!“

„Bitte, bitte, nicht voreilig! Jedenfalls würde er mit Freuden bereit sein, vierzigtausend Thaler zu zahlen für gewisse Papiere, die er gerade jetzt gut gebrauchen kann, um die Flecken zu beseitigen, die auf seinem Namen sitzen.“

„Du redest im Fieber! Vierzigtausend Thaler? Du willst damit sagen, daß mir die Papiere für diesen Preis zur Verfügung stehen?“

„Allerdings.“

„Das ist mir zu teuer, Freundchen – schraub’ herunter.“

„Nicht einen Dreier!“

„Und wenn ich Dir sage: behalte Deine Papiere und scher’ Dich zum Teufel?“

„Dann werde ich es thun, aber direkt nach Halle gehen zu Robert Nordmann und ihm sagen: ‚Lesen Sie diesen Brief des Herrn Wollmeyer an meinen verstorbenen Vater!‘ – Ich brauche ihm nur den einen zu geben, in dem es heißt: ‚Lieber Brankwitz, gestern habe ich manifestiert, vorläufig also Ruhe. Nordmann ist verdonnert – –. Bis achtzigtausend Thaler gebe ich Dir Vollmacht, auf das Gut zu bieten; die Subhastation ist, anstatt Freitag den zehnten, auf Montag den dreizehnte anberaumt.      Dein Wollmeyer.‘ Nun, ich denke, daraus geht klar genug hervor, daß Du damals geschworen hast, nichts mehr zu besitzen, wodurch Dein Schwager um Hab’ und Gut kam, und daß dieser Eid falsch war. Mir wird nichts passieren, wenn Nordmann die Sache verfolgt – mein Vater ist tot und ich kann etwas anfangen drüben mit dem Preis für den Brief; das Hundeleben hier habe ich satt.“

Mamas Hand preßte sich jetzt eisern auf meinen Kopf. Einen Augenblick blieb es still nebenan, dann das Poltern eines Stuhles, der Aufschrei einer zornigen Männerstimme, wie wenn zwei ringen auf Leben und Tod. „Bube, das ist der Lohn für alles, was ich an Dir that!“ schrie Wollmeyer.

Ich taumelte empor. Mama hatte mich im Aufspringen von sich gestoßen; ich hörte, wie sie durchs Zimmer stürzte. Da raffte ich mich auf, ihr zu folgen, aber schon flog die Thür krachend hinter ihr zu. Ich hörte nur noch ihr gellendes: „Es ist nicht wahr, Bernhard, sag’, daß es nicht wahr ist!“ und dann ihr Lachen, ein tolles krampfhaftes Lachen. Nie werde ich es vergessen. Dann schrillte die elektrische Klingel durchs Haus und jemand stürzte fluchend an mir vorüber; in der tiefen Dämmerung, an die mein Auge sich jetzt gewöhnte, erkannte ich Brankwitz.

Und jetzt kam Licht und die Dienerschaft. Nun Sprechen, Zureden, Beschwichtigungen seitens meines Stiefvaters, und dann schritt die Base an mir vorüber, die leblose Gestalt Mamas auf den Armen, unterstützt von dem Stubenmädchen.

„Gnädige Frau, liebe gnädige Frau,“ keuchte die Base, „liebe, liebe gnädige Frau!“

Mich beachteten sie nicht.

Nun wußte ich es – auf der Stirn meines Stiefvaters brannte ein Meineid. Ich zitterte am ganzen Leibe; Roberts Vater hatte er mit diesem Schwur in den Abgrund des Elends gestoßen, die Frau ins Grab, den Neffen in die Fremde, und nun streckte sich der Fluch auch über uns aus, über meine arme Mutter und mich!

Im Hause war plötzlich aller Lärm verstummt. Man hatte mich von Mamas Bett entfernt, obgleich ich nicht weichen wollte, aber mit ein paar Worten hatte die Base es fertig gebracht, mich hinwegzuführen. Brankwitz war unsichtbar geworden; Olga Sellmann lag in ihrem Zimmer und las einen Roman, von Zeit zu Zeit sollte das Mädchen ihr Nachricht bringen. Mein Stiefvater schritt in seiner Stube auf und ab, ruhelos. In der Stadt liefen Diener umher, das Fest abzusagen, und der Sanitätsrat weilte schon seit Stunden bei Mama.

[827] Ich saß allein in meiner Stube: was ich dachte und fühlte, ich weiß es nicht mehr, nur eines war mir klar, übermächtig klar, die Gewißheit, daß Mama sterben, daß sie mich verlassen würde. Ein wilder Schmerz rüttelte mich, aber weinen konnte ich nicht. Barmherziger Gott, nach Deinem Willen! dachte ich. Was soll sie auf der Welt, die nichts weiter mehr für sie hat als Jammer und Elend? Aber nimm mich gleich mit, ich bitte Dich! Ich wiederholte das Letzte halblaut immerzu. Ach, ich bitte Dich! Ich bitte Dich! Furchtbare Vorstellungen marterten mich, ich sah Wollmeyer verhaftet, fortgeführt, sah den ganzen Hof voll Menschen stehen, voll hohnlachender schrecklicher Menschen, die mit Fingern auf mich und Mama wiesen und sagten: „Die haben auch das Sündenbrot mitgegessen!“ – eine Vorstellung, die mich jäh emporspringen ließ und in der Stube umhertrieb. Laß uns zusammen sterben, lieber Gott!

Niemaud bekümmerte sich um mich, und immer schrecklicher wurden meine Phantasien. Die Komtesse war schon geflohen, als sie aus dem Wenigen, das sie hörte, die Gemißheit gewonnen hatte, daß Brankwitz der „Kravattenfabrikant“ sei, von dem ihr Neffe gesprochen und Wollmeyer sein Kompagnon.

Und das war ja das Schlimmste noch nicht! O, ganz allein würde ich bleiben, sobald Mama gegangen, auch die Komtesse würde mich verlassen!

Und diese unheimliche Stille! Ich schlich mich durch das Vorzimmer und spähte in den Flur hinaus. Man hatte eine Lampe angezündet, und in deren schwachem Schein grinsten mich die lachenden Masken aus dem Tannengrün an mie ein gräßlicher Spuk. Wäre wenigstens die Base bei mir! Wüßte ich nur, wie es oben steht! Und mitten drin überkam mich die Erinnerung an die Knopfmarthe, die so verzweifelt den Mann anklagte, der sie in den Tod trieb, und die Erinnerung an ein Grab in den Thüringer Bergen. Schuld, Schuld, wohin ich blickte, schwere, furchtbare Schuld!

Ich hatte mich auf die Schwelle der Stubenthür gehockt und erwartete weitere Nachricht über Mamas Ergehen. Es war kalt im Flur und so still im ganzen Hause, als läge schon ein Totes darin. Dann kamen schwere Schritte die Treppe herab, und mein Stiefvater ward sichtbar. Ich erhob mich und trat in das Zimmer zurück. Entsetzlich hatte er ausgesehen, so gedrückt, so scheu, so stier die Augen. Seine Tritte folgten mir, ich schloß die Thür in herzklopfender Angst. „Machen Sie auf,“ befahl seine heisere Stimme, „machen Sie auf, ich muß mit Ihnen sprechen – Ihrer Mutter wegen!“

Willenlos gehorchte ich und suchte dann zitternd eines der Fenster, als sei ich dort sicher in der schwachen Helle, die es einließ und die zwei Schritte davor in der Dunkelheit erstarb.

„Ihre Mutter ist sehr krank,“ begann er heiser, „sie ist lebensgefährlich krank.“

„Kein Wunder!“ antwortete ich halb erstickt.

„Sie hat sich erschreckt, alteriert – sie ist so nervös.“

„Jawohl, ich weiß, ich kenne die Ursache, denn ich war bei ihr, als sie erfuhr, daß –“

„Sie?“ Es war wie der Wutschrei eines Tieres.

„Schlagen Sie mich nur tot, ich will nichts Besseres,“ sagte ich.

Er blieb still. „Nun denn,“ stieß er endlich hervor, „dann wissen Sie ja alles, dann brauche ich es nicht zu wiederholen – Sie allein haben das Leben Ihrer Mutter in der Hand.“

„Wenn es Gottes Wille ist, daß meine Mutter am Leben bleibt, so nehme ich sie an der Hand und verlasse mit ihr dies Haus. Ich bin jung, ich kann arbeiten; ich will nicht, daß sie einem Betrüger angehört.“

„Beweisen Sie doch, daß ich ein Betrüger bin, bemeisen Sie es doch! Ich frage Sie zum letztenmal, wollen Sie Brankmitz Ihr Jawort geben oder nicht?“

Ich antwortete nicht, außer mir, drehte ich ihm den Rücken. Doch in diesem Augenblick flog ein Lichtschein durch das Zimmer; mein alter Schutzengel stellte die Lampe auf den Tisch und schloß meine zuckenden Glieder in seine Arme. „Anneliese liebt einen andern, Wollmeyer, sparen Sie Ihre Worte!“

Ich wand mich empört aus den Armen der alten Frau. „Base!“ rief ich zitternd.

„Wen?“ fragte mein Stiefvater.

„Den Robert Nordmann – und er liebt sie,“ erklärte unbeirrt die Base. „Und wenn Ihnen etwas an dem Leben der armen Frau dort oben gelegen ist, so sperren Sie sich nicht dagegen – ich spreche noch einmal wohlmeinend mit Ihnen.“

„Was kann mir der Lump –“ stotterte er, „es ist Spekulation von ihm, gemeine Spekulation!“

Ich stieß die Base zurück und wollte sprechen, aber mir war, als ob eine Hand meine Kehle zudrückte.

„Es wäre besser, Sie überlegten Ihre Ausdrücke ein bißchen,“ sagte die Base, „es möchte Sie sonst gereuen.“

Er ward plötzlich kreideweiß im Gesicht.

„Ihr wollt mir drohen,“ schrie er, „nehmt Euch in acht! Meinetwegen mag sie ihn nehmen in des Teufels Namen und machen, daß sie mit ihm fortkommt auf Nimmerwiedersehen!“

„Sie täuschen sich!“ rief ich außer mir. „Robert Nordmann wird nicht wieder gehen, bevor die Ehre seines Vaters, die durch einen Schurken befleckt wurde, wieder hergestellt ist, und ich wünsche mit der ganzen Kraft meiner Seele, daß es ihm gelingen möge!“

„Anneliese,“ mahnte die Base, „bedenken Sie – Ihre Mutter!“

„Mein Leben will ich lassen für Mama, aber dazu beitragen, ein Verbrechen zu bemänteln, das Sühne verlangt, nie!“

„Wahnsinnige Person!“ murmelte Wollmeyer, dann schwankte er aus dem Zimmer.

Die Base war auf den Fenstertritt gesunken, wie eine formlose Masse saß sie da in der schwachen Helle. „Gott im Himmel!“ schluchzte sie. „Und in einer Stunde kommt Robert, gestern hab’ ich ihm telegraphiert!“

„Wie? Sie haben ihn hergerufen? Was denken Sie?“

„Daß Sie das Schicksal von uns allen in der Hand haben! Er liebt Sie – wenn Sie ihn bitten, wird er sich mit Wollmeyer stillschweigend einigen um der armen Frau willen. Roberts Vater ist tot, aber Ihre Mutter lebt, Anneliese – Gott erhalte sie! Was tot ist, ist tot, er muß an die Lebenden denken!“

„Ihn darum bitten – nein – und wenn mein Herz darüber bricht! Das kann ich nicht, Base!“

Ein Mädchen trat in diesem Augenblick ein. „Mit der gnädigen Frau geht es schlechter,“ flüsterte sie.

„Kommen Sie, Anneliese,“ sagte die Base, „vielleicht erbarmt Sie der Anblick.“ Ich folgte ihr stumm.

Eine Frau saß am Bette. Totenblaß lag das schöne Antlitz Mamas in den Kissen. Ich kniete am Lager nieder und barg den Kopf in der seidenen Decke. Sie war augenscheinlich nicht mehr bei Besinnung, sie flüsterte immer leise vor sich hin: „Komtesse, verlassen Sie Anneliese nicht – nehmen Sie sie fort – ganz fort von hier! Es ist aber nicht wahr, daß er schlecht ist – Helene Sternbergs Mann und schlecht! Es ist zum Lachen!“ Sie lachte leise. „So alberne Menschen, die das sagen – einen Orden wird man ihm geben, morgen, und so viele Leute kommen – so viele – immer mehr – immer mehr – sie wollen folgen – folgen! Nein, Pate stehen wollen sie – hörst Du, Anneliese? Das Kind braucht sich seiner Eltern nicht zu schämen – nein!“

Ich hielt mir die Hände vor die Ohren; ich litt wie unter körperlichen Martern. Dann sprang ich auf und stürzte hinunter in meine Stube und wimmernd warf ich mich aufs Sofa. „Mama, Mama – bleib’ bei mir, bleib’ bei mir!“

Da umfaßten mich zwei starke junge Arme und richteten mich empor und dann lag ich an seiner Brust. „Anneliese, meine Anneliese!“ Ich wehrte mich nicht, ich wunderte mich nicht, ich schluchzte nur heftiger als zuvor: „Mama – meine Mama will sterben, ich will nicht leben ohne sie!“

Er ließ mich weinen und strich mir nur sanft über meine Haare. Dann begann er zu sprechen: „Die Base telegraphierte mir, ich sollte schleunigst kommen, Du seist in Gefahr – was ist’s, Anneliese? Hat man Dich wieder wegen Brankwitz gequält? Oder denkst Du, ich sei gekommen, Deiner Mama etwas zu thun? Ach Kind, wie habe ich gekämpft mit mir, mit meinem Gewissen, mit meinem Stolz, seit jener Abschiedsstunde, seit ich Dich geküßt! Nein, Anneliese, ängstige Dich nicht – Deine Mutter lebt und mein Vater ist tot, und im Jenseits, wenn da Gute und Schlechte belohnt und bestraft werden, hat er tausendfach seine Ehre wiedergefunden, die ihm die Menschen hier raubten. Wir wollen suchen, dies alles zu vergessen. Komm mit mir – wo die Liebe ist, da ist auch die echte, die wahre Heimat! Nichts sollst Du im fremden Lande vermissen; komm, Anneliese, sag’, daß Du willst!“

Wie ein süßes Wiegenlied hatten diese Worte geklungen; ich war ganz still geworden.

[828] „Sag' Ja!“ flüsterte er und küßte mich. „Mußt Du erst überlegen, Anneliese?“

Da fuhr ich empor aus seinen Armen; die Base war mit Licht eingetreten. Sie sah Robert noch nicht, sie hatte die Augen auf die flackernde Kerze gerichtet. „Annelieseken,“ sagte sie, und die Stimme quoll ihr in der Kehle, „Mama geht’s sehr schlecht.“ Und aus diesen paar Worten scholl mir die furchtbare Kunde mit furchtbarer Gewißheit entgegen – keine Hoffnung!

Ich stürzte hinaus, ich vergaß alles. Droben wehrte mir der Arzt den Eingang; in Mamas kleinem Boudoir neben dem Sterbezimmer kauerte ich mich in die Kissen des Sofas und horchte auf die schwachen Laute, die von dort herüberdrangen, auf das Gehen und Flüstern. Eine tödliche Müdigkeit überfiel mich von Zeit zu Zeit, immer unterbrochen von der folternden Erinnerung an die traurige Gegenwart. Einmal glaubte ich Wollmeyers und des Arztes Stimme zu vernehmen, vermochte aber nicht, mich ganz wach zu erhalten. Dann fuhr ich jäh aus tiefem Schlafe; es war, als hätte mich liebkosend eine Hand gestreift; ein kalter Schauer war an mir vorübergeweht! Ich stand im nächsten Augenblick auf den Füßen, lief zur Thür und trat über die Schwelle.

Totenstill war es hier innen; die Kerzen auf den Leuchtern flackerten im Winde, der durch das offene Fenster kam. Eine schreckliche Bangigkeit überfiel mich, ich wagte nicht, vorwärts zu gehen. Vor dem Lager Mamas kniete ein Mann, das Gesicht in der Decke verborgen, die Hände verzweifelt in die Haare gekrallt; und Mama ganz still, der Kopf eigentümlich zurückgebogen, halb offen die Augen – ach, und der starre, der trostlose Ausdruck in den Zügen! Der Mann erhob sich und ging an mir vorüber; ich glaube, er sah mich nicht. Langsam schlich ich näher zu dem Bett.

„Mama!“ sagte ich leise, „Mama, schläfst Du?“

Ja, sie schlief. –

Ohne eine erleichternde Thräne, ohne die Hände gefaltet zu haben, wankte ich hinunter wie geistesabwesend. Die Leute standen im Flur und sahen mich mitleidig an; Olga Sellmann kam mit verstörtem Gesicht zu mir herüber, ich drehte ihr den Rücken zu. Robert Nordmann lehnte am Fenster in meinem Wohnstübchen; er wandte sich um, ein Zucken ging über sein Gesicht und stumm breitete er die Arme aus. Es sollte wohl heißen: komm, ich will dir alles sein, Vater, Mutter, Heimat – alles! „Mama ist tot!“ sagte ich und ging an ihm vorüber. Er ließ die Arme sinken und sah mir traurig nach.

Ich nahm ein Tuch, hüllte mich fröstelnd hinein und setzte mich in den Stuhl am Ofen. In mir war alles starr und tot. So saßen wir in dem kalten Zimmer, in der Winternacht, er und ich. „Mama ist tot, ich danke Ihnen für Ihr Mitleid – nun haben Sie keine Rücksicht mehr zu nehmen; leben Sie wohl!“ hätte ich ihm sagen müssen, aber kein Ton wollte aus meiner Kehle.

Die Base kam endlich, mit blassem eingefallenen Gesicht. Als sie mich sah, wandte sie ach ab und wischte sich die Augen. „Gott hat Ihnen viel genommen, Anneliese!“ Dann winkte sie dem Neffen, ihr zu folgen, und leise traten beide in die angrenzende Stube. Ich hörte sie flüstern, die Base schluchzte dazwischen. Und plötzlich raffte ich mich auf und verließ das Zimmer; ich wollte

fort, fort zur Komtesse, fort aus dem Hause des entsetzlichen Menschen! Mechanisch zog ich das Tuch fester und trat hinaus in den dämmerigen kalten Flur; die Uhr schlug eben Sechs.

Und da stand die Komtesse, und als sie mich sah, nahm sie mich in die weiten Falten ihres Mantels. „Mein armes Kind,“ sagte sie, „nun gehörst Du zu mir. Komm, wir wollen noch einmal zu der Len’, dann gehen wir in mein Haus!“

Auf der Treppe begegnete uns Olga Sellmann; sie war in Reisetoilette. Hinter ihr schritt neben Brankwitz mein Stiefvater, fast unkenntlich geworden in dieser einen Nacht; gebückt, scheu, das Haar so grau, wie es mir noch nie vorgekommen war. Er machte einen schwachen Versuch zu der alten Höflichkeit. Die Komtesse hielt aber den Kopf steif in den Nacken gebogen und bemerkte ihn nicht. Ein heftiger Schreck malte sich in seinem Gesicht; er wagte nicht, uns zu folgen.

Ich küßte noch einmal Mamas Hand. Die Komtesse konnte weinen, heftig, wie verzweifelt; ich fand keine Thräne. Dann gingen wir die Treppe wieder hinunter, als eben der Wagen mit Olga Sellmanns aufgetürmten Koffern zum Thore hinausfuhr. Mein Stiefvater begegnete uns abermals, und abermals sah die Komtesse nach der andern Seite; er stand mit zur Faust geballten Händen da und blickte uns nach; aber er machte keinen Versuch, mich zurückzuhalten.

„So,“ sagte die Komtesse, als sie mich über die Schwelle ihres Hauses mehr hob als führte, „das ist jetzt Deine Heimat, so lange ich lebe – lange wird’s freilich nicht mehr sein. Aber vorderhand ist’s doch ein Unterschlupf für Dich, mein armes Kücken.“

Das Erste, was ich that, war, daß ich mich an den altmodischen Schreibtisch setzte unb an Robert schrieb: „Mama ist tot, und auf mich dürfen Sie nun keine Rücksicht nehmen. Ich danke Ihnen für Ihr Mitleid, für Ihre aufopfernde edelmütige Gesinnung, es hat mir alles so wohl gethan. Tausendfaches reiches Glück wünscht Ihnen Anneliese.“ 

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 50, S. 841–846

[841] O, die furchtbare Zeit! Ich lag ein paar Tage im Fieber; nur undeutlich war mir bewußt, daß etwas Schreckliches sich ereignet habe. Ich fühlte den Druck des Unglücks in seiner ganzen überwältigenden Schwere, wußte, daß ich nichts mehr in der Welt besaß, und hätte doch nicht sagen können, was mir geschehen. Ich wollte mich besinnen, wollte die verzerrten Gesichter abwehren, die sich über mich neigten, mich bedrohten, aber ich war wie gelähmt. Mitunter hörte ich Mamas Stimme, dann versuchte ich aus dem Bett zu springen und zu ihr zu eilen, doch ich fühlte mich festgehalten, und immer von neuem grinsten mich die Fratzen an. Zu mir kam ich erst durch ein eigenartiges tiefes Summen und Tönen, das in das offene Fenster meines Stübchens drang. Ich lag mit offenen Augen da und suchte mich zu besinnen. Ach, die Glocken wurden geläutet – wann hatte ich sie so gehört, so ernst, so feierlich? Als Papa begraben wurde – –

„Mama!“ sagte ich und sank kraftlos zurück.

Die alte Josephine, die am Fenster stand, wandte sich, und ihre noch vom Weinen geröteten Augen blickten mich erschreckt an. „Die Komtesse ist nicht zu Hause, gnä’ Fräulein – wollen Sie irgend etwas? Haben Sie Durst?“

„Nein, ich danke. Können Sie hinübersehen auf den Friedhof, Josephine?“

„Ja freilich,“ sagte sie, und zögernd setzte sie hinzu: „aber es ist nichts zu sehen, gnä’ Fräulein.“

„Doch, Josephine – Mama wird begraben.“

„Liebes gnädiges Fräulein,“ schluchzte sie, „regen Sie sich doch nur nicht auf!“ Und sie schloß rasch das Fenster, denn glockenhell tönten jetzt die Stimmen der singenden Kurrendeknaben herauf. „Wie sie so sanft ruhen.“

Ach, wie gönnte ich ihr diese Ruhe neben Papa – man würde sie doch neben Papa gebettet haben? Ich faltete die Hände und ein traumhafter Friede, eine große feierliche Stimmung überkam mich, das erlösende Gefühl, das Liebste, das man hat, gerettet zu sehen aus Schande und Pein, geborgen zu wissen vor allem Elend.

Es war so ruhig, so friedvoll hier; über der Kommode ein großer Stahlstich – Christus, auf den Meereswellen stehend, reicht dem sinkenden Jünger die Hand, eine antike Uhr in Staubgehäuse, auf deren Zifferblatte bei jedem Stundenschlag eine Figur hervortrat, vor der ich mich immer heimlich gegraut hatte und die ich erst heute verstand – der Tod mit der Sense, die er schwang, so oft es schlug. „Von allen eine ist die Deine“, stand zwischen den zierlichen Arabesken auf der Metallplatte. Der Tod hatte [842] für mich nichts Grausiges mehr, er erschien mir heute wie der volle reine Schlußaccord des grellen irren Musikstückes, das wir Leben nennen, ein Accord, in dem alle Dissonanzen so mild, so versöhnend ausklingen – Friede, Ruhe, ewige Ruhe!

Die Komtesse kehrte zurück und trat an mein Bett; sie hatte ein paar Epheublätter mitgebracht. Die große düstere Gestalt mit dem langen schwarzen Kreppschleier und dem verweinten Gesicht beugte sich über mich. „Bist nun mein Gör, Anneliese! Wir bleiben zusammen, ja, sollst sehen, wir vertragen uns.“

Ich küßte ihr still die Hand.

Sie ging, um Hut und Mantel abzulegen, dann kam sie wieder und setzte sich an mein Bett. Josephine brachte ihr eine Tasse heißen Kaffees, den sie trank. Sprechen that sie nicht, sie sah mich nur forschend an. „Tante Komtesse, ich bin ganz gesund, ich kann mich auf alles besinnen,“ sagte ich endlich. „Erzähle mir – nicht wahr, Mama liegt neben Papa?“

„Ja, mein Herz; und auf ihren Hügel setzen wir keinen Stein, Anneliese, wir ziehen die Epheuranken von Papas Grab zu ihrem hinüber, dann wissen die Menschen, daß sie zusammengehören. Es soll nicht dastehen: Hier ruht Helene Wollmeyer.“

Ich nickte stumm.

„Die Base war nicht da, ist vielleicht nicht wohl, das alte Wurm. Wollmeyer hatte den Orden angelegt, den er vorgestern erhielt,“ fuhr sie fort, und ihre Oberlippe zuckte.

Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. „Tante,“ bat ich, „ich kann das nicht hören!“

„Freilich, freilich! – Wir wollen nicht mehr von ihm reden – verzeih’, mein armes Kind! Weine nur, weine!“


Wochen waren verflossen, und nichts geschah in dieser Zeit, nichts. Herr Wollmeyer ging als tieftrauernder, allgemein bemitleideter Witwer mit Kreppbinde um Hut und Aermel und mit vergrämtem Gesicht umher. Das vergrämte Gesicht war höchstwahrscheinlich echt, ihm mochte sicher nicht wohl zu Mute sein, aber er konnte nichts weiter thun als abwarten. Ich vermied, ihn zu sehen; die Komtesse ließ sich nie sprechen, wenn er kam – ihrer Natur gemäß, die nichts halb thun konnte; sie verabscheute ganz oder liebte – liebte wäre in diesem Falle zuviel gesagt – oder sie tolerierte ganz. Wollmeyer war ihr, wie sie sagte, gänzlich aus der Tasche gefallen. „Ich kann ein Verbrechen aus Leidenschaft, einen Mord verstehen,“ sagte sie, „aber Wucher ist etwas so Gemeines, daß ich nicht ein einziges Motiv zum Verständnis desselben finde, und – Gemeines hasse ich.“

Nun sprangen die Knospen an der Linde auf, und drüben auf dem Kirchhof blühten die Veilchen zwischen dem Epheu der Gräber. Ein durchsichtiger köstlicher grüner Schleier wehte über all den Sträuchern und die Stare sangen.

Die Komtesse hatte Frühjahrs-Reinmachen; sie ging umher mit hochgeschürzten Röcken, großer blauer Leinwandschürze, ein weißes Tuch über den Kopf gebunden, den Federwedel wie einen Dolch im Schürzenbund, ein riesiges Wischtuch in der Hand, und stäubte ihre Nippes ab, ihre alten Porzellanfiguren und sonstige Raritäten, und ich half ihr dabei.

„Siehst Du, Kind,“ sagte sie in Anschluß an eine Strafpredigt, die sie mir eben über mein allzustilles Wesen gehalten hatte, „Du solltest ’mal eine von Deinen Freundinnen einladen, solltest ’mal ein bißchen plauschen! Jugend will zu Jugend, in Leid wie in Freud’. Ich kann Dir so ’n Plappermaul von achtzehn Jahren nicht ersetzen, denn schließlich ist alles Heitere, was Du von mir zu hören bekommst, altmodischer Kram, und das andere sind Lebenserfahrungen, und zu allermeist traurige. Dir aber thät’ ein wenig Zukunftsträumen gut, so ein Träumen von aufblühenden Rosen und blauem Sommerhimmel. Da kann ich nicht mehr mitmachen; ich schau’ in der Zukunft nur dürre Aeste. Wie? Soll ich zu Tollens schicken um die Käthe oder zu Aennchen Arnstadt oder Marie Linden?“

„Tante, um Gotteswillen, was soll ich damit?“ rief ich und setzte einen kopfnickenden Chinesen wieder an seinen Platz unter dem Spiegel. „Was diese Mädchen von der Zukunft erwarten, ist etwas anderes wie das, was ich zu erhoffen habe. Ich sehe auch nur dürre Aeste.“

„Mit neunzehn Jahren? Na ja, Kind, das ist für jetzt natürlich, aber in diesen dürren Aesten, da sitzt schon der ganze Saft, der Blüten und Früchte treibt. Kind, Kind, das Schlimmste ist, den Mut zu verlieren. Das darfst Du nicht! Nein, laß nur, ich muß Dich ’mal schelten. Siehst Du, wenn Du die Nächte durchweintest, wenn Du verzweifelt täglich an Mamas Grabe säßest, wenn Du mit einem Worte Deinen Schmerz austobtest, so wäre mir gar nicht bange um Dich. Aber das thust Du eben nicht! Du stehst auf, als wäre Dir nichts geschehen, Du sitzest da am Fenster mit der Arbeit und stichelst, als hättest Du Dein Lebtag da gesessen; Du redest mit mir, als ob’s in der Welt nichts Erschütterndes für Dich gegeben hätte – – – Wer Dich nicht genau kennt, der sollte meinen, Du wärst einfach herzlos. Siehst Du, nicht einmal eine Miene verziehst Du jetzt; ich aber, ich weiß, daß Du nicht herzlos bist, ich sehe an Deinem veränderten Gesicht, daß Du die ganze Sache tausendmal schwerer trägst, als andere es thun würden. S’ist unnatürlich, Anneliese! Du bist wie tot, Du mußt Dich einmal schütteln, Du mußt wieder Schmerz und Freude empfinden lernen – so geht’s nicht weiter. Scheintot geht in wirklichen Tod über; Du kannst doch nicht weiterleben mit einem gestorbenen Herzen? Sei doch meinetwegen eigensinnig und unausstehlich und vorlaut, aber nur nicht so, so, wie Du in diesen Wochen warst!“

„Tante,“ sagte ich, „wie soll ich es denn machen? Ich gucke mich in der Welt um und finde, daß es nichts giebt, was des Beweinens wert ist, nichts, worüber ich lachen möchte. Es ist gut so, wie es ist, laß doch – mir thut wenigstens nichts weh.“

Sie blieb vor mir stehen. „Du bist ein garstiges Ding, Anneliese; es lohnt sich nicht, Dich lieb zu haben. An mich denkst Du gar nicht!“

Ich blickte sie an. Sie hatte Thränen in den Augen. „Gute Tante!“ sagte ich bestürzt, „ach Tante!“ Und auf einmal ward es mir klar, welch eine Welt voll treuer ehrlicher Liebe ich in ihr besaß. „Um Gotteswillen, Tante, vergieb mir, Du bist ja jetzt meiu Alles,“ stotterte ich, „ich will ja – habe nur Geduld – ich werde anders – –“

„Laß gut sein, Kücken!“

„Schicke mich nicht fort, Tante, jetzt noch nicht – später! Siehst Du – jetzt, ich fände mich nicht zurecht da draußen!“

„I, Gott bewahre – wie Du das nur wieder auffaßt! Ich Dich fortschicken? So lange ich atme, kannst Du hier bleiben; aber aufwachen sollst Du, bekümmern sollst Du Dich um den Nachlaß Deiner Mama, ihre Siebensachen sollst Du Dir herholen, Papas Bild und so weiter, dann auch Wollmeyer bitten, daß er Dich hier läßt –“

„Ihn bitten, Tante?“

„Na ja! Er ist doch einmal Dein Vormund und Dein Stiefvater.“

Die alte Dame hatte das rechte Mittel gewählt, mich aufzurütteln. „Was habe ich mit diesem Menschen zu thun?“ rief ich erregt.

Sie blieb ganz ruhig und zupfte an den gestickten Tüllgardinen. „Er war mehreremal hier und hat jedesmal die Josephine gefragt, wann Du wieber zu ihm kämest. Gestern, wie Du auf dem Kirchhof die Blumen begossen hast, traf ich ihn im Hausflur; ich dachte, als es klingelte, es wäre die Dambitzer Butterfrau, und machte selbst auf. Da saß er denn im Gartenzimmer bei mir und sprach von seinem verödeten Hause, und daß er sich nach Dir sehne. Ich habe innerlich gezittert vor Angst, Anneliese, aber ich sagte ganz ruhig: ‚Das Kind ist noch viel zu krank, Herr Wollmeyer, lassen Sie sie einstweilen noch hier.‘ Darauf erklärte er: ‚Das kann ich nicht, ich muß den letzten Willen meiner teuren Helene erfüllen; sie hat mir noch kurz vor ihrem Tode das Versprechen abgefordert, Anneliese ein treuer Vater sein zu wollen.“

„Er lügt!“ rief ich außer mir. „Ich mag nicht zu ihm, nie, nie! O Tante, hilf mir! Aber er geht mich ja auch gar nichts an, dieser Mensch – wie kann er mich zwingen?“

„Anneliese, hör’ doch zu! Ich erklärte ihm also deutlich genug, Du wünschtest vorläufig hier zu bleiben. Darauf lächelte er, erhob sich, machte mir eine seiner merkwürdigen viereckigen Verbeugungen und empfahl sich; was er nun vorhat, mag Gott wissen.“

Im nämlichen Augenblick klingelte es, und Josephine brachte einen Brief.

„Von ihm,“ sagte ich und stützte mich auf den Tisch. Ach, die Komtesse hatte recht; ich war seit Mamas Tode wie im [843] Schlafe gewesen, nun kam das Erwachen, ein schreckliches Erwachen. Ich riß den Umschlag auf, entfaltete den Brief und erschrak schon über die Anrede:

„Meine liebe Tochter und Mündel! Hierdurch fordere ich Sie auf, in mein Haus zurückzukehren. Es ist der ausdrückliche Wunsch Ihrer Mutter, den sie mir auf dem Sterbebette noch ans Herz legte, daß Sie unter meinem Schutz weiterleben.

Ich erwarte Sie an einem der nächsten Tage, den zu bestimmen ich Ihnen überlasse. 0 Mit väterlichem Gruß Ihr
Vormund Bernhard Wollmeyer.“ 

Das hatte ich nicht erwartet!

„Ich thue es nicht,“ sagte ich verzweifelt, indem ich der Komtesse den Brief gab.

„Armes Gör!“ murmelte sie, setzte sich in einen Sessel und zog die Stirn in hundert krause Falten. „Du bist neunzehn?“

„Ja. Alt genug, um zu wisseu, was ich will.“

„Freilich, mein Kücken, aber das Gesetz!“

„Gesetz?“ fragte ich empört, „giebt es ein Gesetz, das mich zwingen kann, in Gemeinschaft mit einem Schurken zu leben?“

„Nein, Anneliese, aber erst mußt Du beweisen, daß er einer ist.“

„Tante, Du weißt so gut wie ich – –“

„Ja, ich weiß, daß er gemeine Geschäfte macht, wenigstens habe ich ihn so verstanden, aber beweisen kann ich’s nicht, und Du auch nicht.“

„Ich laufe fort, aber diesmal soll mich niemand finden!“ rief ich, mit einem Anflug meiner alten Energie.

„Vorläufig warte nur, ich erkundige mich erst bei meinem Anwalt,“ sagte die Komtesse, „und zwar werde ich das gleich besorgen.“ Und sie rief mit Donnerstimme auf den Flur hinaus nach Regenmantel und Gummischuhen.

Bald darauf stelzte sie die breite schlecht gepflasterte Straße hinunter, mitten auf dem Fahrdamm; den schmalen Bürgerstieg verachtete sie, weil man da entweder gerempelt werde oder in den Rinnstein ausweichen müsse, und heute glichen diese Rinnsteine kleinen reißenden Bächen.

Rechtsanwalt Schulzen war ihr Berater. Er stand in hohem Ansehen bei allen Adelsfamilien der Umgegend und war nicht allein ein geistreicher Jurist, sondern auch ein liebenswürdiger Gesellschafter; erst seit dem Tode seiner Frau lebte er zurückgezogen – sie war vor zwei Jahren gestorben.

Ich saß während der Abwesenheit der Komtesse mit einem empörten verzweifelnden Herzen in meiner Stube und lehnte mich gegen dieses Verlangen meines Stiefvaters auf mit aller Macht der Seele. Die Tante kam nach einer Stunde zurück, sie sah blaß aus, mit einem hochroten Fleck auf der rechten Wange.

Ich war ihr entgegen gegangen bis in den untern Hausflur; nun nahm ich ihr Hut und Tuch ab und sah sie angstvoll fragend an, aber sie sprach keine Silbe. Endlich drinnen im Zimmer sagte sie kurz, indem sie sich etwas am Kanarienbauer zu schaffen machte: „Da ist nichts zu wollen, Kind, Du mußt hin.“

Ich schwieg, ich war fest entschlossen, nicht hinzugehen.

„Das mit dem letzten Willen Deiner Mutter, das ist offenbar eine Lüge,“ fuhr sie fort, „hat in der Sache auch gar nichts zu bedeuten; aber Du kannst ohne seine Einwilligung nicht sein Haus verlassen, bevor Du großjährig bist; Deine Lebensführung untersteht seiner Bevormundung.“

„Und wenn ich trotzdem davongehe?“

Sie räusperte sich. „Ich fragte den Anwalt, was Dir geschehen könne, wenn Du – wenn ich Dich heimlich fortbrächte, nach Hamburg zum Beispiel?“

„Ja, Tante, thue es, bitte, bitte – bring’ mich hin!“ unterbrach ich sie flehend.

„Da nahm er ein Buch vom Tische,“ erzählte sie weiter, ohne meinen Ausruf zu beachten, „und las mir etwas vor. Siehst Du, Kind, da heißt es ungefähr: ,Wer es versucht, eine minderjährige Person durch List, Drohung oder Gewalt dem Vormund zu entziehen, macht sich nach Paragraph so und so des Reichsstrafgesetzbuches strafbar!‘ ,Wieso denn, lieber Justizrat?‘ fragte ich, ,eine Geldstrafe? Na, darauf soll’s mir – –‘ ,Pardon, Komtesse,‘ unterbrach er mich lächelnd und nahm eine Prise zwischen Daumen und Zeigefinger, ,das ist nicht mit Geld abzumachen, Sie müssen sitzen!‘ Und nun stopfte er sich den Tabak in die Nase, als ob das gar nichts wäre, das Sitzen!“

„Tante!“ rief ich entsetzt.

„Ja, mein Herz! Also Du siehst ein, ich kann Dir jetzt nicht helfen.“

„Natürlich, natürlich!“ stotterte ich.

„Er fragte mich dann, ob ich verwandt sei mit Dir. Aber ich bin ja nicht verwandt mit Dir armem Gör, sonst hätte ich das Recht, beim Vormundschaftsgericht zu beantragen, daß Du mündig gesprochen wirst. Aber so –“ Sie rückte mit einer ärgerlichen Gebärde die Haube von einem Ohr zum andern, nahm ihr Strickzeug zur Hand, eine riesige, teilweise in Servietten verhüllte Arbeit, eine für irgend welche Kousine bestimmte Wiegendecke von zartestem Blau und Weiß, und bald schlugen die Holznadeln aneinander: fortissimo.

In mir tobte Schrecken und Zorn zugleich.

„Das ist alles die Folge der unüberlegten Heirat,“ grollte die Komtesse. „Wäre die Len’ nicht in ihrer kopflosen Sorge um Dich mit beiden Füßen zugleich in diesen Sumpf gesprungen, es schaute anders aus heute – Du hättest sie noch, Deine Mutter. Jawohl, das behaupte ich, denn wie er sie gequält hat, das ist mir erst jetzt ganz klar geworden.“

Ich schlug die Hände vor das Gesicht; was hatte Mama gelitten!

„Jetzt wird er Dich peinigen, und unsereiner weiß das und kann nicht helfen! O, ich wollte, die Sündflut käme und nähme diese ganze erbärmliche Menschheit mit fort!“ Die Komtesse war eine so religiöse, wahrhaft fromme Natur, daß diese Worte ganz befremdend klangen. „Und wenn man nur absehen könnte, wann es endet!“ fuhr sie fort, „ich meine den Aufenthalt bei Wollmeyer, zwei Jahre hältst Du das ja gar nicht aus. Wenn Du wenigstens Gelegenheit hättest, Dich zw verheiraten! Aber wer ist denn hier in Westenberg, der zu heiraten wäre? Keiner! Ein paar Referendare, die noch auf der Tasche ihres Vaters leben – der Steinberg hat sich mit Käthe Tollen verlobt – und der Diakonus paßt zu Dir, wie wenn man den Katechismus neben einen Band lyrischer Gedichte stellt – ach Kind, ’s ist trostlos!“

Es würde auch gerade einer Wollmeyers Tochter nehmen! dachte ich.

Und als wollte sie widersprechen, meinte die Komtesse: „Es wird freilich nicht fehlen an solchen, die Dein Geld wollen, oder vielmehr dem Wollmeyer seines – du bist ja nun wohl seine Erbin?“

Und ich dachte wieder: Du solltest nur wissen, Tante, wem das Geld von Gottes und Rechts wegen gehört!

„Aber sie werden danach sein, diese Herren,“ sprach sie weiter, „Gott erbarme sich – so’n verkrachter Gutsbesitzer oder Lieutenant, oder so etwas wie Brankwitz – hm – dieser Brankwitz!“ Und nach einer langen Pause wütenden Strickens meinte sie seufzend: „Siehst Du, bist ja nun neunzehn Jahre und hast noch nicht ’mal die übliche erste Liebe durchgemacht, armes Gör!“

Ich wurde flammend rot und unwillkürlich preßte ich die gefalteten Hände zusammen.

„Du bist ja so rot geworden, Anneliese!“

„O, wirklich?“ stotterte ich.

Sie sah mich forschend und ungläubig an. „I, Gott bewahre!“ murmelte sie.

Und auf einmal – es kam über mich mit elementarer Macht – begann ich zu schluchzen, so heftig, so bitterlich, daß ich keine Gewalt mehr über mich hatte. Ich stürzte der Erschrockenen zu Füßen und wühlte meinen Kopf in die Falten ihres Kleides, während mein ganzer Körper bebte. „O, wenn Du wüßtest! Wenn Du wüßtest!“ stieß ich hervor. „Warum hat Mama mich nicht gleich mitgenommen!“

Sie ließ mich ausweinen; es dauerte lange. Endlich sagte sie, nachdem sie beruhigend über meinen Kopf gestrichen hatte: „Wer ist’s denn, Anneliese?“

Ich schluchzte leise weiter, aber ich antwortete nicht.

„Nun?“ fragte sie.

„O, Tante, frage mich nicht! Ich könnte Dir’s nicht sagen –“

„Nun wenn Du es nicht sagen willst, quälen werd’ ich die Leute nicht um ihre Geheimnisse; ich dachte nur, es thäte Dir wohl, Dich auszusprechen.“ Es lag nicht eine Spur von Empfindlichkeit in ihren Worten. „Sei gut, Anneliese, steh’ auf,“ setzte sie freundlich hinzu, „keiner kann mit dem Kopf durch die Wand, und der alte Gott lebt noch.“

Keiner kann mit dem Kopf durch die Wand! Ich wollte es nicht glauben, daß der verhaßte Mensch das Recht haben sollte, mich zurückzufordern, und doch war es so. Es gab keinen Grund [844] dagegen, wenigstens keinen offiziellen Grund, und flehentlich bat mich die Komtesse, nicht etwa heimlich davonzulaufen, „denn,“ erklärte sie, „er hat das Recht, Dir alle Existenzmittel zu entziehen, er kann Dich auf alle mögliche Weise quälen und drangsalieren.“

„Aus Deinem Hause laufe ich nicht fort, Tante, heute und morgen nicht,“ sagte ich. „Aber es wird, es muß sich ein Ausweg finden - nimm mir nicht jede Hoffnung!“

Drei Tage nach dem Eintreffen seines Briefes, gegen Abend, holte mich Wollmeyer ab. Die Komtesse ließ sich nicht sehen. Sie hatte mich in meinem Stübchen ans Herz gedrückt, bis mir der Atem verging. „Im Notfalle weißt Du, wo ich wohne,“ sagte sie mit seltsam gedämpfter Stimme; „es giebt Situationen, da fürchte ich mich vor dem Teufel nicht. Gott behüte Dich, mein Kind!“

Die Aprilsonne stand noch hoch am Himmel, als ich neben ihm durch die Gassen schritt. Ich hatte nicht geweint; ich war wieder in den finstern starren Trotz verfallen, der mich seit Mamas Tode gepackt hielt, der mich selber schmerzte und quälte. Jedenfalls um den Leuten zu zeigen, daß er in bestem Einvernehmen mit mir sei, redete Herr Wollmeyer in einem fort mit freundlicher Miene auf mich ein. Ich sah auf die Steine des Pflasters und antwortete nicht. Der lange Kreppschleier meines Hutes flog im leisen Winde zu seiner Schulter hinüber und blieb dort liegen, ich riß ihn zurück, als sei der ganze Mensch Gift.

„Nun! Nun!“ sagte er lächelnd.

Als ich in das Haus trat, in dem ich meine Kindheit verlebt hatte, den Flur wiedersah, in dem ich gespielt, die Treppe, über die mein Vater so oft geschritten an glückliche Tagen, die Thür, an die Mama so oft geklopft in der letzten schweren Zeit, wenn sie mich besuchen wollte – da drohte meine Fassung mich zu verlassen. Zu seinem Befremden ließ ich Herrn Wollmeyer stehen und schlug sofort den Weg nach meiner alten Stube ein. Wie im Taumel kam ich über die Schwelle, die Base saß dort – gottlob, gottlob! „Aber, Annelieseken,“ sagte sie, als ich bebend und schluchzend in ihre Arme fiel, „weinen Sie doch nicht; Sie bleiben hier bei mir. Ich will Sie schon pflegen, tausendmal mehr als früher, mein Goldpünktchen, mein Vögelchen!“ Und sie nahm mir den Hut ab und brachte mir ein Glas Wasser. „Schauen Sie, da ist Papas Bild, und im Garten ist’s in diesem Frühjahr so schön, so schön, Sie glauben’s nicht; eine Baumblüt’, wie seit Jahren nicht – sehen Sie nur ein einziges Mal aus meinem Stübchen hinaus!“

Ach, was half mir die Baumblüte! Ich schüttelte den Kopf und setzte mich auf die Estrade; sie ging in ihr Stübchen und kam mit einer Photographie zurück.

„Ist’s ähnlich?“ fragte sie.

Mein Herz klopfte so laut, daß ich es zu hören vermeinte, als ich Robert sah, zum Sprechen ähnlich, in der knappen Uniform, das ernste hübsche Gesicht dem Beschauer entgegengewendet, als wollte es sagen: „Schau mich nur an, ich kann deinen Blick ertragen.“

Ich legte das Bild auf den Tisch und betrachtete die alte Frau, deren Benehmen ich in der letzten Zeit so gar nicht begriffen hatte. „Base,“ sagte ich, „weshalb kamen Sie nicht einmal, mich zu besuchen, so lange ich bei Tante Komtesse war?“

Sie senkte den Kopf und bastelte am Schürzenband. „Ich konnte nicht fort, Anneliese, konnte um die Welt nicht aus dem Hause.“

„Liebste Güte, Base, Sie brauchten doch nicht Angst zu haben, daß das alte Gerümpel hier mitsamt seinem kostbaren Inhalt fortgetragen werde? Was sollte denn passieren? Vor was hatten Sie Angst?“ Ich legte ihr die Hand auf die Schulter; sie sah so schrecklich bekümmert aus.

„Ja, freilich,“ murmelte sie, „aber es ging eben doch nicht!“

„Hat er es Ihnen verboten?“

„Gott bewahre, Anneliese, o nein, nein! Im Gegenteil, er hat ’mal gefagt, ob ich denn festwachsen wollte in meiner Stube. Aber – es ging doch nicht!“

„Ist es wahr, daß Brankwitz fort ist?“

„Anneliese, das wissen Sie nicht? Er ist in Amerika. Die Nacht noch, in der Mama starb, haben sie alle Drei zusammengesessen bei verschlossenen Thüren, Ihr Stiefvater, Brankwitz und Olga Sellmann, und haben verhandelt. Es ist heftig zugegangen, sehr heftig, aber dann ist Ruhe geworden. Frau Sellmann ist zuerst abgereist, und am Begräbnistage auch Herr von Brankwitz. Einmal ist er noch wiedergekommen, da haben sie sich wieder lange eingeschlossen, und endlich ist er ganz fort mit dem Hamburger Schnellzug. Wollmeyer erzählte, er wolle nach San Francisko, ‚den sehen meine Augen nicht wieder‘, setzte er hinzu, aber er that einen Seufzer dahinterher. Was wird’s sein, Anneliese? Er hat ihn eben unschädlich gemacht – für Geld ist ja alles feil auf dieser Welt. Kurz und gut, der ist besorgt und aufgehoben!“

O weh, er hat ihm seine Papiere abgekauft, dachte ich, nun hat Robert Nordmann einen Beweis weniger. „Ach, Base, wie soll ’s werden hier! Ich glaube, ich halt’s nicht aus.“ Müde sah ich mich im Zimmer um, das mir wie ein Gefängnis vorkam. „Ich sterbe gewiß bald, Base, und das wäre das beste!“

„Da sei Gott vor!“ rief sie erschreckt. „Es geht alles vorüber, das Gute und das Schlimme – Sie müssen leben, lange und glücklich!“

„Glücklich?“ Ich lachte auf. „Hören Sie, Base, da kommt schon mein Glück!“

Herrn Wollmeyers schwere Schritte klangen durch das Vorzimmer. Ich preßte die zitternden Hände fest um mein Taschentuch und sah ihm finster entgegen. Er trat ein und suchte mich mit etwas unsicheren Blicken.

„Ich wollte Ihnen nur sagen, wie ich mir unser ferneres Zusammenleben wünsche,“ begann er. „Ich erwarte natürlich gar keine Rücksichten von Ihnen, Sie haben mir nie Veranlassung gegeben, dies zu thun. aber das verlange ich, daß Sie wenigstens die äußere Schicklichkeit beobachten. Wir werden also unsere regelmäßigen Mahlzeiten zusammen halten; Entschuldigungen unter allerlei nichtigen Vorwänden wie Kopfschmerzen und so weiter, die Ihre gütige Mama gelten ließ, finden bei mir kein Verständnis. Ihre Spaziergänge werden sie in meiner Begleitung machen; Sie mögen Ihre Freundinnen empfangen, die Zimmer Ihrer Mutter stehen Ihnen dazu zur Verfügung; Sie mögen diese Besuche auch erwidern – aber diese eigenmächtige rasche Ausführung von allem, was Ihnen gerade durch den Kopf fährt, hört auf, meine liebe Anneliese, so lange Sie noch unter meiner Aufsicht stehen. Im übrigen –“

Ich sah ihn an von oben bis unten – er wollle mir Vorschriften machen!

Er ward um einen Schein fahler. „Im übrigen fürchten Sie nicht,“ sprach er weiter, „daß ich jemals wieder versuchen werde, Ihnen eine sorgenfreie Zukunft zu verschaffen. Sie können, wenn Sie mündig sind, mit Ihrer Hand und Ihrem Herzen beglücken, wen Sie wollen, falls Sie es nicht vorziehen, als Erzieherin Ihr Brot zu verdienen – in Armut und Edelsinn. So lange ich aber noch Pflichten gegen Sie habe, bitte ich mir Gehorsam aus. Doch darum keine Ungemütlichkeit! ’s ist immer gut, wenn man weiß, woran man ist!“ Er lachte wie früher auch nach solchen Phrasen, aber es klang anders als sonst. „Damit Sie indes sehen, daß es keineswegs eine so grausame harte Zukunft ist, der Sie einstweilen entgegengehen, teile ich Ihnen und der Base mit, daß wir das Pfingstfest auf der Mühle verleben werden – ich sage immer noch ,auf der Mühle‘ – im Schlößchen natürlich. Die Base mag sich hinsetzen und dazu in meinem Namen den Herrn Nordmann einladen. ’s ist lächerlich, daß das Gezank ewig dauern soll – es war eben ein Dummerjungenstreich, daß er davonlief. Was sagten Sie, Anneliese?“ unterbrach er sich.

Ich hatte nichts gesagt, hatte nur nervös gelacht über diese ungeheure verzweifelte Frechheit meines Stiefvaters. Die Base stand an dem Tische mit gesenktem Kopf und schwieg.

„Sie lachten? Es ist auch zum Lachen, daß man sich so herumbringen läßt; aber man wird weich, man wird wie Wachs, wenn man einen so großen Schmerz erlebt hat, wenn man in die Hand einer Sterbenden ein Versprechen gab, ein Versprechen, das gefordert wurde als letzter Liebesbeweis. Es betraf Sie und den Jungen – verstanden?“

Er griff täppisch zuthulich nach meinem Ohr; ich stieß die plumpe Hand unsanft zurück. „Sie halten mich für blödsinnig oder für ganz –“

„– furchtbar verliebt“, vollendete er neckend, als ich stockte, und blinzelte mir zu. „Meine gute Anneliese, man küßt sich doch nicht im Schlitten, im dunklen Wintermorgen, wen man sich nicht von ganzem Herzen gut ist – wenigstens Sie würden das nicht thun und einen Mann küssen, den Sie nicht zu heiraten gedenken.“

[845] Ich war sprachlos und fühlte, wie mir eine Flamme über das Gesicht schlug. Verwirrt, bestürzt, keines Wortes mächtig stand ich da. Mein süßes, mein heiliges Geheimnis im Besitz dieses Mannes!

„Ich will Sie nicht länger stören,“ sagte er dann, und ein heimlicher Triumph klang aus seiner Stimme. „Guten Abend, liebe Anneliese!“

Als die Thüre hinter ihm zugefallen war, schlug ich die Hände vor das Gesicht; ein rasender Zorn überkam mich. „Sie, Sie!“ rief ich der Base zu, „o, wie durften Sie das thun!“

Das alte runzlige Gesicht blickte in grenzenloser Verlegenheit zu mir empor.

„Sie haben mich verraten, mich und ihn! Sie sind schlecht, Sie sind so schlecht wie alle die andern! Und wissen Sie denn, was es war? Ein Abschied war es, für immer – und Sie – –“

„Anneliese, hören Sie mich doch, liebe Anneliese,“ jammerte die alte Frau. „Es war an dem Tage, ehe die Mama starb. Sie können sich nicht denken, in welcher Herzensangst sie Ihretwegen lebte. Sie hatte mich des Morgens an ihr Bett kommen [846] lassen und mich beschworen, Sie um Gotteswillen darin zu bestärken, Nein und wieder Nein zu sagen, wenn der Wollmeyer Sie wegen Brankwitz bestürme. Ich sah, wie sie sich quälte, und da tröstete ich sie: ,Haben Sie keine Bange, gna’ Frau, die Anneliese ist, wie man so sagt, in festen Händen; Anneliese hat den schon gefunden, der sie liebt.‘ Und ich hab’ ihr erzählt: so und so, gnä’ Frau, ein Blinder hätt’s mit dem Stocke fühlen müssen, wie gut sich die Zwei sind. Da hat sie ungläubig den Kopf geschüttelt und hat gemeint, wenn’s so wär’, dann hätt’s Anneliese ihr gebeichtet. ‚Gnä’ Frau,‘ hab’ ich ihr gesagt, ‚ich hab’s geseheu, wie sie sich küßten‘ und hab’ ihr geschildert, wie es gekommen und was für eine treue ehrliche Seele er ist und daß freilich noch mancherlei zu überwinden sei, bis es so weit wäre. – Und von der Mama muß der Wollmeyer das alles gehört haben.“

„Ich begreife Sie nicht, Base,“ unterbrach ich sie kopfschüttelnd, „da Sie doch wissen mußten –“

„Wäre Ihre Mutter am Leben geblieben, so hätte er verzichtet auf Vergeltung, Sie wissen es, Anneliese, er hat es Ihnen selbst gesagt. Aber Sie haben ihn zurückgestoßen, und – dann ist er fort und hat kein Wort mehr von Ihnen geredet.“

„Das ist recht von ihm,“ sagte ich. „Was soll er mit mir, wenn er die Last auf seiner Seele behält, die abzuschütteln er doch nur herübergekommen ist? Ich kann ihm die Ehre seines Vaters nicht wiedergeben, auch sein Vaterland nicht ersetzen. Ich bitte Sie, Base, reden Sie nichts! Er wird wissen, was er zu thun hat, so gut, wie ich es weiß. Und wenn er in jener schrecklichen Nacht alles vergaß, seinen Vater, seine Heimat, alles, um mich zu retten aus dieses Menschen Nähe, um meiner Mutter willen, so war das ein Edelmut, den anzunehmen ich mich schämen müßte, so lange ich lebe!“

„Aber, wenn Robert vergeben will?“

„Das darf er nicht, liebe Base, denn dies Recht hat er nicht. Seine künftige Frau, sie sei, wer sie wolle, kann einen unbescholtenen Namen verlangen; seine Kinder würden ihm dereinst wenig Dank wissen für diese Schwäche. Und nun will ich Ihnen noch etwas sagen, liebe Base – wenn Sie etwa die nötigen Beweise besitzen und ihm vorenthalten, so sind Sie Wollmeyers Verbündete! Das ist meine Meinung!“

„Gott im Himmel,“ wehrte die alte Frau ab, „was wollen Sie denn, Anneliese?“

„Und wenn Sie noch etwas in Händen haben – und das haben Sie – dann schicken Sie es ihm je eher je lieber, denn Sie werden schwerlich Gelegenheit finden, ihn persönlich auf der Mühle zu sprechen – er kommt nicht, das ist gewiß.“

Ich verstummte; im Vorzimmer war die Thüre gegangen.

„Anneliese, er hat gehorcht!“ rief die zitternde alte Frau.

„Nun, dann weiß er, woran er ist.“

„Anneliese, ach Gott, wenn Sie wüßten, wie er mich beobachtet, mich bewacht, mich nicht aus den Augen läßt! Er weiß ja, ich halt’s mit dem Robert, und weiß, welchen Einfluß ich auf ihn habe, drum behandelt er mich auch trotz alledem gnädig, drum will er, daß wir nach der Mühle kommen, um mit Robert dort zusammenzutreffen.“

„Da muß er also auch glauben, Base, daß Sie irgend etwas in Händen haben?“

Sie sah in eine andere Ecke und schwieg. „Er wußte, daß Hannchen etwas Derartiges besaß,“ gestand sie dann.

„Die Frau wußte von dem Schurkenstreich?“ rief ich, „Hannchen wußte darum?“

„Ach, sie wußte alles, Annelieseken, und beinahe gestorben ist sie daran. Sehen Sie, damals als der Steckbrief hinter dem Nordmann losgelassen wurde – es ist schwer, davon zu sprechen, Kind, der Wollmeyer hatte den flüchtigen Nordmann selbst angezeigt als Dieb von seines Sohnes Vermögen – da ist die Frau wie irrsinnig gewesen, denn“ – und die Base dämpfte ihre Stimme bis zum leisen Flüstern – „denn Wollmeyer selbst war der Dieb, Anneliese! Aus Hannchens Truhe hat er die paar armseligen Staatspapiere genommen, nachts, als er gedacht, die gute Seele schliefe. Nebenan in der Wohnstube hat der schwere Eichenholzkasten gestanden, und sie ist aufgewacht und hinübergeschlichen und hat ihn da hantieren sehen. Todkrank ist sie geworden noch in der nämlichen Nacht, und als sie nach ein paar Wochen wieder zur Besinnung kam, da war das Unglück geschehen – in allen Zeitungen hatte es gestanden.“

„Und die Frau – die arme Frau?“ stammelte ich.

„Was sie mit ihm geredet, weiß ich nicht, mir gegenüber schwieg sie, erst später erfuhr ich einzelnes. Aber wie gebrochen ist sie seitdem gewesen, das Kind, den Robert, hat sie geliebt, abgöttisch geradezu, als müßte sie an ihm alles wieder gutmachen, was an den Eltern gesündigt worden war.“

„Nun und der Steckbrief?“

„Ach, Anneliese, es war von Wollmeyer wohlweislich so eingerichtet, daß der erst losgelassen werden konnte, als der Arme drüben in Amerika verschwunden war und sich nicht mehr wehren konnte.“

„Es ist ja furchtbar, Base! Und das andere, das Schreckliche, das mit dem Bankrott – wußte das Hannchen auch?“

„Durch einen Zufall kam sie auch hinter diese Schuld ihres Mannes. Ach, Fräulein Anneliese, was haben wir armen Frauensleute durchgemacht seit jenem Tag! Ich hab’ gemeint, die Frau stirbt mir unter den Händen, als sie beim Durchsehen des alten Schreibtisches das Ding fand. Es war damals, als wir eben von der Mühle herunterziehen wollten, hierher. Wollmeyer hatte selbst seine Papiere in eine Kassette geräumt, die er sich eigens für diesen Zweck gekauft hatte, er war immer so eigen und sorgsam mit seinen Briefschaften, seinen Büchern; keine Seele, am allerwenigsten Hannchen, durfte an seinen Schrank. Da kommt sie einmal mit wankenden Knien und aschfahlem Gesicht in mein Stübchen hinauf, Sie wissen, das Giebelstübchen, wo der Lindenbaum durchs Fenster hereinguckt. Ich saß da und ruhte mich ein wenig aus, es war so eine arge Räumerei gewesen. ‚Dorchen, Dorchen!‘ hat sie gekeucht, ,o du Allbarmherziger, womit hab’ ich’s verdient, daß ich so gestraft werde! Ist es nicht genug, daß er das Kind bestiehlt und den Vater beschuldigt als Dieb? Nun auch das noch! Mein Tag werd’ ich nicht wieder froh, denn, siehst Du, Dorchen, jeder Bissen Brot, den wir essen, ist unrecht Gut!‘ Sie können glauben, Fräulein Anneliese, daß mir, wie ich das hörte, das Herz stillgestanden hat vor Schreck. Was die arme Seele durchgekämpft hat in den Jahren, die nun folgten, das ist nicht zu beschreiben. Zuerst hat sie versucht, ihn dazu zu bewegen, sein Unrecht einzugestehen, auf den Knien ist sie vor ihm gerutscht und hat die Hände gerungen – er hat alles geleugnet, hat gedroht, er ließe sie ins Irrenhaus sperren, und wie das nicht half, da hat er sie geschlagen. Das Papier solle sie ihm wiedergeben, das sie gefunben, das sie gänzlich mißverstanden habe, hat er gefordert. Und das mit Robert seinem Vermögen sei gar wahnsinnig, denn damals habe sie schon im Fieber gelegen und sei todkrank gewesen. Aber sie gab das Papier nicht heraus, sie log, es sei verbrannt. In Wahrheit trug sie es bei sich, eingenäht in eine Tasche. Er hat damals schon Kisten und Kästen heimlich mit dem Nachschlüssel geöffnet und nach dem Schriftstück gesucht – allein er fand nichts. Und sie, sie hatte nicht den Mut, den Mann, der ihr angetraut war, den Vater ihres verstorbenen Kindes, anzuklagen. Aber sie waren getrennt für immer, nie hat sie sich überwinden können, wieder ein freundliches Wort zu ihm zu reden. Seine Geschwätzigkeit, seine Phrasen, seine vornehme Art, seine hiesige Stellung beachtete sie gar nicht; unter vier Augen mit ihr wagte er kaum einen Laut zu sagen – er hat ausgekostet, was Verachtung heißt.“

Die alte Frau war ins Erzählen gekommen. Sie saß jetzt neben mir auf dem Fenstertritt, und beim Sprechen wickelte sie die Bänder ihrer Schürze zu kleinen Rollen auf und wieder ab, obgleich die Hände heftig zitterten.

„Base,“ sagte ich, „es ist also wahr, daß er die Nordmanns durch einen falschen Bankrott betrog?“

Sie nickte. „Er hatte ja ein paar Verluste gehabt, aber was will das sagen bei solcher Besitzung! Da ist der Brankwitz gekommen, und der mag ihm den teuflischen Vorschlag zuerst gemacht haben, und, kurz und gut, er war schwach dem Gelde gegenüber.“

„Und der Nordmann hat das natürlich gemerkt und ihn als Betrüger verklagt?“ fragte ich.

„Ja! Und da, mein Gott, da hat er halt das Fürchterliche gethan – da hat er den Eid geleistet, da hat er geschworen, daß er nichts mehr besitze, daß er alles verloren habe. Und aus Rache, sehen Sie, aus Rache stempelte er Nordmann zum Diebe.“

Sie nickte, mit starren Augen.

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 51, S. 857–863

[857] Unaufhaltsam forschte ich weiter: „Base, und als Sie das von dem Meineide Wollmeyers erfuhren, da konnte die Frau mit der Erkenntnis solcher Schuld – da konnten Sie neben dem Manne leben? Konnten das Brot seines Tisches essen und die Luft seines Hauses atmen? Wäre ich Frau Hannchen gewesen, ich hätte in der nämlichen Stunde –“

„Das hätten Sie nicht gethan an Hannchens Stelle,“ unterbrach mich die alte Frau ruhig und bestimmt, „denn, Fräulein Anneliese, sie hat ihren Mann doch geliebt. Wissen Sie, was es für eine Frau heißt, zu lieben? Das heißt alles ertragen, das heißt dulden, zittern, beten für ihn, sich selbst opfern, um den zu retten vor Schmach und Schande, dem man einmal in seinen schönsten Tagen gut geworden ist.“

Sie schwieg einen Augenblick, dann fuhr sie, tief Atem holend, fort: „Mein Tag werde ich’s nicht vergessen, wie sie im weißen Kleide neben ihm saß unter der Linde. Ich wußte nichts von [858] ihrem eben geschlossenen Bund; ich trat leise in die Hausthür, weil ich glaubte – weil –“ Wieder hielt sie inne.

„Base,“ fragte ich ängstlich, „was ist Ihnen denn?“

„Nichts – es ist nur – – keinem Menschen hab’ ich’s je gesagt, und Ihnen thu’ ich es jetzt nur erzählen, damit – damit Sie nicht meinen –“

„Base,“ flehte ich, „wenn es Ihnen schwer wird; ich weiß ja, Sie verachten ihn.“

„Ja! Aber lassen Sie mich reden, Annelieseken,“ beharrte sie, „es ist auch gut für meinen alten Kopf, wenn’s ’mal herauskommt. Ich sagte, ich kam leise aus der Thür, weil ich glaubte, daß mein Schatz auf mich warte. Sie sehen mich erstaunt an? Ja, ja, Anneliese, auch ich hatte einen Liebsten, auf dessen Treue ich Häuser gebaut hätte. Hübsch war ich, glaub’ ich, obschon sechsundzwanzig Jahre alt, aber arm, arm wie eine Kirchenmaus, und deshalb, sagte er, müßten wir heimlich zuwarten, bis daß er eine bessere Stelle und besseres Gehalt bekäme. Das leuchtete mir ein, und unbeschreiblich glücklich war ich arme Waise mit meiner stillen heimlichen Liebe. Ich hatte den Tag, von dem ich rede, tüchtig Arbeit gehabt, denn es war viel Pfingstbesuch auf die Mühle gekommen, aber es flog mir alles nur so von den Händen, weil ich wußte, auf den Abend würd’s so schön, da würde ich neben ihm sitzen droben am Waldrand, wo wir uns immer trafen, und würde seinen Arm um mich fühlen, den Arm, der mich stützen und tragen sollt’ durch das ganze Leben – ach, Anneliese, Sie wissen’s leicht besser, als so eine arme alte Person es beschreiben kann, wie schön Lieb’ und Hoffnung beieinander sein können. Ich bin aber nicht aus dem Haus getreten jenen Abend, denn mein Schatz wartete nicht auf mich, der saß bei einer andern! Mein Schatz, der seiner Seele Seligkeit verschworen hatte, falls er mir untreu würde, der saß neben Hannchen und nannte sie ,sein’ und ,Liebste’, wie er mich auch genannt.“

„Base,“ rief ich empört, „Wollmeyer war – –“

„Ja, Anneliese. Ich stürzte nicht hin und riß sie auseinander, o nein; ich sank auf der Schwelle nieder, und was ich zuerst gedacht und beschloß, ich weiß es nicht mehr. Möglich, daß ich mir vorgenommen habe, Hannchen zu sagen: „Dein Bräutigam ist ein Ehrloser, ein Schurke, er betrog Dich und mich.“ Aber ich that es nicht. Deutlich, ach so deutlich klang mir Hannchens glückliches Schwatzen ins Ohr: es sei ihr zu Mute, als hätte ihr jemand die ganze Welt geschenkt, und gleich beim ersten Sehen sei sie ihm gut geworden, und wie thöricht er doch gewesen, sich vor ihrem Gelde zu fürchten; sie wäre so froh, daß sie es habe, und nun wollten sie auch recht fleißig und rechtschaffen miteinander wirtschaften, denn gerade seine Gewissenhaftigkeit und Zurückhaltung habe ihr gefallen – ach, ich weiß nicht mehr, was sie alles schwatzte in ihrem jungen Glück; sie war eben achtzehn Jahre geworden. Und gerade so, wie er mir gethan, that er ihr; er umfaßte sie und drückte sie an sich und nannte sie das Liebste, was er habe.“

Die alte Frau schwieg; todesstill war es in der Stube. Ich hatte unwillkürlich die Faust geballt. Dieser Mensch, dieser fürchterliche Mensch!

„Und,“ berichtete die alte Frau weiter, „was ich sagen wollte, Anneliese, der Hannchen ist’s gegangen wie mir, als sie innewurde, wes Geistes Kind er sei – sie schwieg. Man klagt einen Mann nicht an, neben dem man so gesessen, dem man so gut war, man kann’s nicht, Anneliese. Man lernt ihn verachten, hassen, und das ist furchtbar, aber den Mut, ihn preiszugeben, den findet man nicht; es ist, als hielten einen tausend Hände. Ich hab’ dem Hannchen nichts verraten können, hab’ kein Wort des Vorwurfs für Wollmeyer gehabt, und als er nachher seine Frau, seinen Schwager, seine Schwägerin ins Unglück riß und ich, alles vergessend, das Verbrechen aufdecken wollte, da hielt mir Hannchen die Hände fest. ‚Erbarme Dich,‘ hat sie gefleht, ,wüßt’ ich ihn im Gefängnis, ich nähme mir das Leben‘.“

Sie brach plötzlich ab und wandte den Kopf. Auch ich schwieg lange. Die alte vergrämte Frau erschien mir in einem ganz neuen Lichte. Wie mochte sie gelitten haben, erst durch den Verlust des Geliebten, dann, indem sie ihn verachtete – und trotzdem immer um ihn, alles mit ansehend, sein junges Eheglück, seinen Fall, sein sittliches Sinken, seine Heucheleien! War es möglich, das zu ertragen, ohne siech zu werden an Körper und Geist? Welche Widerstandskraft, welche Seelengröße wohnte in dieser einfachen Frau! Nie hatte ich sie anders erblickt als still und fleißig ihre Pflicht thuend; immer war sie nur für andere da.

Ich rückte näher zu ihr und streichelte die welken Wangen. Sie wischte sich die Augen und, gewaltsam sich aufraffend, sagte sie: „Ja, ja, Anneliese, Sie lachen vielleicht über die alte hölzerne Base. Doch nein, Sie nicht! Und nun will ich in die Küche und Ihnen den allerschönsten Blattsalat anrichten, den Sie je gegessen haben.“

Ich schlang die Arme um ihren Hals. „Base, Sie sind die liebste beste alte Seele von der Welt, und wenn ich den Wollmeyer bis heute schwärmerisch geliebt hätte – jetzt, nachdem Sie mir das erzählt haben, würde ich ihn glühend hassen. Aber nun haben Sie mir soviel gesagt, Base, nun müssen Sie mir noch etwas berichten – existiert der Beweis noch, das, was Hannchen damals fand?“

„Ja, und auch ein Schriftstück von Hannchen, in dem sie bekennt, wie es zuging mit dem Vermögen des Robert Nordmann. Aber sie wollte, daß nur im Notfalle, im äußersten Notfalle Gebrauch davon gemacht werde, nur dann, wenn er sich weigern sollte, Robert zu entschädigen. Doch nun fragen Sie mich nicht weiter, Annelieseken.“

„Weiß er das?“ forschte ich trotzdem.

„Er ahnt es sicher.“

„Base, Sie sind eine Seele, ein guter Engel, aber in einem haben Sie doch gefehlt: als Sie merkten, daß er sich um Mama bewarb, da mußten Sie dazwischen treten.“

Sie lächelte trübe. „So wahr ich die gnä’ Frau und Robert und Sie liebe, Anneliese, ich hab’ ihm solche Frechheit doch nicht zugetraut. Erst zuletzt, erst zu allerletzt hab’ ich’s gemerkt, und da ging ich zu ihm und hab’ ihm ins Gewissen reden wollen, aber da war’s zu spät, es war schon geschehen, und still ging ich wieder hinunter in meine Stube. Glauben Sie mir, es war nicht das Leichteste, das mit anzusehen.“

Sie nickte mir ernsthaft zu, dann verließ sie die Stube und ich hörte sie draußen mit dem Schlüsselbund rasseln.


Die Zeit, die nun für mich begann, war die traurigste meines Lebens. Ich hatte nur den einen Gedanken: wann kommt die Vergeltung für diesen Menschen, neben den mich das Schicksal gestellt, der mir ein Grauen einflößte, wenn ich nur an ihn dachte. „Mein ist die Rache, spricht der Herr,“ tröstete die Base, „wir dürfen nicht Wollmeyers Ankläger sein, Annelieseken.“

Ach, es giebt schreckliche Martern in der Welt! Diese Mahlzeiten mit Wollmeyer! Als ob ein harmloses Wort ein Verbrechen wäre, auf dem Todesstrafe ruhte, so schwiegen wir; nichts als das Klappern der Messer und Gabeln und die nicht eben manierlichen Geräusche, die mein Stiefvater beim Essen hervorbrachte.

Sein Appetit hatte sich nicht vermindert, er sah überhaupt viel wohler aus, und seine gute Laune kehrte zurück. Er schnauzte Friedrich an, wenn der Wein nicht richtig gekühlt war, er schickte Schüsseln zurück, die ihm nicht schmeckten, mit einem Kompliment an die Base, und er kommandierte mich zum Spazierengehen. Ich mußte mit an Mamas Grabe stehen und den fürchterlichen weinenden Marmorengel bewundern, den er wider meinen Willen darauf gesetzt hatte. Jeder Mensch tritt mit heiliger Andacht an das Grab seiner Mutter; in meines Stiefvaters Gesellschaft verwandelte sich mir die Andacht in ein wildes Schmerzgefühl, in Sehnsucht nach Rache, und elend und erschöpft kam ich dann heim.

So viel wie irgend möglich suchte ich allein zu sein in meiner eigenen Stube, aber auch dies Alleinsein ward mir am Ende zur Pein. Ich begann Klavier zu spielen, zu üben – sofort erschien Friedrich mit der Bitte, aufzuhören; Herr Wollmeyer könne Musik nicht vertragen. Ich wollte lesen, aber was? Papas Bibliothek kannte ich in- und auswendig, die alten zerlesenen Romane des Westenberger Leihinstituts lockten mich nicht, die Bücherei der Komtesse hatte ich längst ausstudiert; sie bestand aus Schulzes „Bezauberter Rose“, Tiedges „Urania“, einigen Werken von Jean Paul, den „Nachbarn“ von Friederike Bremer, und selbstverständlich waren auch Schiller und Goethe da. Ich hätte gern an Papas Buchhandlung in Berlin geschrieben, aber ich besaß kein Geld, keinen Groschen.

Meine Bekannten besuchten mich zuweilen. Friedrich führte sie dann in Mamas Empfangszimmer, ich saß’ mit ihnen auf dem Sofa, und der ganze Erinnerungsschmerz, den diese Räume und der Anblick der von ihr benutzten Gegenstände in mir aufwühlten, machte mich unfähig, freundlich und zuvorkommend zu sein. Sie blieben alle nicht lange, weder die kleine Käthe Tollen und ihre Genossinnen, noch die alten Damen. „Besuchen Sie uns doch auch,“ hieß es, „Wenn Sie erlauben –“, antwortete ich, aber ich dachte [859] nicht daran, auszugehen, um Gleichgültiges zu schwatzen. Ach, laßt mich, laßt mich allein! hätte ich schreien mögen. Zuweilen kam die Komtesse, aber gleich in meine Stube, und dann saß sie im Stuhl auf dem Fenstertritt und ich ihr zu Füßen. „Nun sag’ ’mal Kind,“ neckte sie mich eines Tages, „alle Welt weiß, Du seiest heimlich verlobt – nur ich weiß nichts davon!“

„Ich? Das ist nicht wahr! Tante, wer hat es erzählt?“

„Ich glaube, in der Stadtverordnetensitzung ist es zur Sprache gekommen; Wollmeyers Neffe, der einige Milliönchen besitze, sei der Glückliche. Das ist doch wohl dieser Robert Nordmann, Anneliese, an den Du damals geschrieben hast? Nun, die Menschen wissen ja immer mehr als wir selbst. Mir trug Melitta Tollen die Neuigkeit ins Haus; Du siehst, ich bin da, um Dich zu fragen.“

Ich war nachdenklich; sollte mein Stiefvater davon gesprochen haben? Beim Abendessen ward es mir klar. Es mußte ihm etwas Angenehmes widerfahren sein, vielleicht war es auch die ausgesucht besetzte Tafel, an der wir uns niederließen – Kiebitzeier, der erste Spargel, Lachs, frische Morcheln, die zartesten Radieschen, und dazu köstliches Salvatorbier, das Friedrich in die geschliffenen Pokale goß. Ein Strauß Waldmeister stand auf dem Tisch und durchduftete den behaglichen Raum. Im Nebenzimmer hatte man die Fenster geöffnet.

Es war ein trüber, sehr warmer Frühlingsabend, ein Wetter, in dem man förmlich die Blätter wachsen und die Blüten sich entfalten sieht.

„Nun geht’s mit Macht dem Mai zu,“ begann mein Stiefvater und dressierte sich kunstgerecht ein Kiebitzei, „ehe wir’s uns versehen, wird Pfingsten da sein, Anneliese.“

Ich sah ihn erstaunt an und schwieg.

„Da oben in der Mühle ist Pfingsten noch schöner als Weihnachten,“ sprach er, indem er seinen Bart mit der Serviette kreuz und quer wischte – er hatte mit einem Zuge das Glas geleert. „Wer hat denn das grüne Zeug dahingestellt?“ erkundigte er sich, auf die Maikräuter zeigend. „Ist das bloß zum Riechen? Friedrich, die Base soll Moselwein schicken und Zucker und was sonst noch zur Bowle gehört! Es ist durstiges Wetter, Anneliese. He, hat die Base schon Nachricht von dem Robert bekommen?“

„Ich weiß es nicht.“

Er legte sich in den Stuhl zurück und lachte.

Das soll man glauben, das soll ich Ihnen glauben? Na, mag’s drum sein – Heimlichkeiten sind bei der Liebe der größte Zauber. Prosit, Anneliese, er soll leben!“

Er trank sein Glas abermals bis zur Neige leer; ich rührte mich nicht.

„Den einen,“ fuhr er fort, „haben Sie nun mit Ihren braunen Hexenaugen in die Ferne getrieben, den andern halten Sie hoffentlich damit für immer in der Heimat fest.“ Und er lachte über seinen Witz.

„Sie wissen ja,“ sagte ich sehr langsam und ergriff eine Schüssel, um mir etwas vorzulegen, „ich nehme keinen Mann, der einen Makel auf seinem Namen trägt, das bin ich meinem Namen schuldig.“

„Was kann der arme Kerl dafür, daß sein Vater einen Irrtum beging? Bah, das ist auch längst vergessen!“

„Er kann nichts dafür, aber er muß darunter leiden. Uebrigens ist das so vergessen nicht, wie Sie glauben, besonders nicht in seiner Heimat; die ganze Geschichte ist da so frisch, als wäre sie gestern passiert.“

„Die ganze Geschichte? Was für eine Geschichte?“ fragte er.

„Die Geschichte von Nordmanns Unglück!“

„Liebe Anneliese,“ sagte er würdevoll, „von einer ganzen Geschichte ist gar keine Rede, es sind höchst einfache Thatsachen.“

„Das müssen Sie mir nicht erzählen; Sie müssen immer bedenken, daß ich bei Mama im Zimmer war, als sie krank wurde.“

Er sah plötzlich leichenblaß aus, sprang auf und wickelte die Serviette um seinen Finger, dann stürzte er aus der Stube.

Die Base trat gleich darauf ein, mit der Krystallbowle, mit Zucker und Orangen. „Was ist denn geschehen?“ fragte sie.

„Ich glaube, Herr Wollmeyer hat sich in den Finger geschnitten,“ antwortete ich.

„Ihr habt Euch gewiß turniert?“ meinte sie in ihrer komischen Ausdrucksweise.

Eben wollte ich ihr den Hergang erzählen, da kam mein Stiefvater zurück. „Es ist gut, daß Sie da sind, Base,“ sagte er, „binden Sie mir das Leinwandstreifchen fest um den Daumen – so, danke schön! Na, setz’ Dich dahin, Alte, und trinke einen Schluck Bowle mit!“ fuhr er leutselig fort, sie zur Abwechslung einmal wieder duzend. „Und nun gieb mir ’mal eine vernünftige Antwort – was hat Robert erwidert auf den Pfingstvorschlag?“

Die alte Frau, die eben eine Flasche Wein in die Bowle goß, sah an ihm vorüber. „Ich hab’ ihm nichts davon geschrieben,“ antwortete sie, „das war doch wohl nur Spaß, Herr Stadtrat?“

„I, Gott bewahre! Ich bitte, schreiben Sie ihm heute abend!“

Sie schüttelte den Kopf. „Das ist nicht meines Amtes.“

„Ach, ich soll wohl zu Kreuze kriechen und selbst schreiben?“ fragte er gereizt.

„Das verlange ich wahrhaftig nicht,“ erwiderte sie, „im Gegenteil, ich würde Ihnen abraten, denn kommen thut er doch nicht.“

Er ließ die Gabel, die er zum Munde führen wollte, sinken und sah sie an, als wollte er sie durchbohren. „Woher wissen Sie das?“

„Das denke ich mir so.“

„Sie denken zu viel, liebste Base; Sie sowohl wie hier das gnädige Fräulein sollten die Thätigkeit ihres werten Kopfes etwas einschränken. Anneliese scheint so wie so bereits an Sinnestäuschungen zu leiden, denn sie kommt mir immer mit Dingen, die sie gehört haben will an dem Tage, an dem ihre Mutter starb. Ich habe bereits mit dem Sanitätsrat darüber gesprochen, der stellt Ihnen eine bedenkliche Prognose, liebes Kind. Da hilft nur, sich recht zusammennehmen, sonst kann man krank werden – hier!“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger auf seine Stirn. „Verstanden, mein Töchterchen?“

Es lag ein eigentümlich höhnischer Ton in den Worten, so daß mir der Zorn heiß zu Kopfe stieg. Und mit der alten Unbesonnenheit rief ich: „Es ist nur gut, daß ich nicht allein an dieser Sinnestäuschung leide, daß auch noch andere Leute davon befallen sind und daß diese Hallucination sogar schwarz auf weiß existiert!“

Die Base packte mich plötzlich an der Schulter. „Sie wissen nicht, was Sie schwatzen, Kind! Das Bier ist vielleicht zu stark gewesen – kommen Sie, kommen Sie, Sie sind nervös, und es ist gewitterschwüle Luft.“

Sie zog mich empor und schob mich dem Ausgange zu und über die Schwelle. Heftig fiel die Thür hinter uns ins Schloß. Wollmeyer hatte sich nicht gerührt; wie er aussah, konnte ich nicht erkennen, es war zu tiefe Dämmerung im Zimmer. Ich fühlte, ich hatte irgend etwas Unkluges gethan, hatte ihm einen Wink gegeben, auf seiner Hut zu sein, hatte ihm verraten, daß mit Brankwitz’ teuer erkauftem Briefe noch nicht alle Zeugen des Verbrechens aus der Welt geschafft seien.

„Aber, Anneliese!“ flüsterte die Base vorwurfsvoll.

Da wurde ich heftig und klagte sie an und Robert. Worauf er denn noch warte? Ehe er nicht handle, würde ich nicht frei sein, und ich wolle frei sein, wolle fort, auf eignen Füßen stehen, fort aus dieser Sklaverei, aus dieser Luft voll Schuld und Gemeinheit. Und wenn er nicht bald komme, würde ich krank werden, und dann könnte mich Herr Wollmeyer ja nach seinem Gusto ins Narrenhaus sperren lassen. Ich riß ein Tuch vom nächsten Stuhl und lief in den dunklen Garten. Das altertümliche Gebäude lag schweigend und finster hinter mir wie ein rechtes Unglückshaus. Der Garten hatte selbst im Sonnenschein etwas Düsteres, heute kam er mir fast unheimlich vor. Die Wasserfläche des Teiches ruhte bewegungslos, den dunklen Himmel wiederspiegelnd; schwül, drückend war die Luft und in der Ferne grollte leise der Donner.

„Mama, Mama, wär’ ich bei Dir!“ rief es in meiner Seele. Dann blieb ich stehen und lauschte; eine Nachtigall begann zu klagen und zu schluchzen, und der ganze berückende sehnsüchtige Zauber einer Frühlingsnacht packte mein einsames Herz. Warum zögerte Robert, wenn er mich wirklich liebte? Er mußte ja wissen, daß ich vergehen würde in diesem Hause, er mußte ja verstanden haben, daß ich ihn nur aus Pflichtgefühl zurückgestoßen hatte. Wenn er in dieser Stunde vor mir gestanden hätte wie in der Sterbenacht Mamas, ich wäre in seine offenen Arme geflüchtet und hätte gesagt: „Ja, Du hast recht, was gehen uns die Toten an, was die Heimat, die uns doch keine ist? Wir leben, wir finden drüben eine andere freundlichere Heimat, komm, komm fort, ach, nur fort von hier!“

Nie hatte ich die Vereinsamung, die Schutzlosigkeit meiner Lage so empfunden wie in dieser Stunde.

Im Stübchen der Base flammte jetzt die Lampe auf; ich sah durch meine Thränen die alte gebückte Gestalt hin und her huschen in dem Lichtscheine, wie ich das schon als Kind so oft beobachtet hatte von dem nämlichen Platze aus, der großen Linde, deren Stamm sich über Manneshöhe gabelte zu zwei himmelanstrebenden Bäumen [860] und an diesem Punkt einen prächtigen Sitz bildete. Heute war ich auch von dem Bänkchen zu diesem natürlichen Sessel emporgestiegen und starrte zu der Base hinüber. Sie schien an ihrer Kommode beschäftigt, bückte sich und erhob sich wieder, und dann ging sie zu dem Tisch und blieb dort sitzen, das Haupt gebeugt, als lese oder schreibe sie; ihr Schatten fiel über die ganze Hinterwand der Stube, ein wunderlich geformter Schatten. Vor den zwei Fenstern befanden sich Gitter, wie überhaupt vor allen Parterrefenstern des Gebäudes, schwere schmiedeeiserne Gitter mit kunstvollen Schnörkeln an dem unteren Teil. Ich hatte diese verschlungenen distelähnlichen Blumen einmal nachgezeichnet, die Distel war die Wappenblume der Serrenburgs. Nun nahm ich mir vor, das ganze alte Haus zu zeichnen, so, wie ich es jetzt vor mir sah, düster, in Abendbeleuchtung, und dann noch im lichten Sonnenschein; ich hatte ja in ihm das ganze Glück und das ganze Unglück meines Lebens ausgekostet – es sollte eine Erinnerung für mich sein.

Am liebsten wäre ich die Nacht über hier sitzen geblieben, aber die Unruhe der alten Frau dort drinnen – sie ging jetzt wieder im Zimmer umher – schien mir ein Zeichen, daß sie sich zum Schlafengehen rüsten wolle; so glitt ich denn von meinem Lieblingsplatz herunter und schlug langsam den Weg nach dem Hause ein. Ein paar Tropfen sprühten mir ins Gesicht, es begann zu regnen. Wenn es regnet, schläft man so schön, hatte Mama immer gesagt; ich war müde, todmüde, trotzdem machte ich noch einen kleinen Umweg, ehe ich den Garten verließ. Als ich in mein Zimmer trat, sah ich die alte Frau nicht, aber auf dem Tische neben der Lampe und dem geöffneten Tintenfaß stand ein Teller mit zwei großen, tauig beschlagenen Pokalen mit duftender Bowle. Eine Sekunde streckte ich die Hand danach aus, ich war sehr durstig, dann ließ ich es, und in diesem Augenblick kehrte die Base zurück.

„Sie trinken doch auch nicht, Anneliese?“ fragte sie und ergriff die Gläser, um sie hinauszutragen. „Es ist so süßes fades Zeug; er liebt es so süß. Ich bringe es hinaus, mögen die Leute es sich nehmen!“

Ich gab ihr recht, und als sie wieder hereinkam, sagte sie: „Wenn Sie so denken wie ich, Annelieseken, dann gehen wir schlafen.“

Ich suchte jetzt schon immer um neun Uhr mein Lager auf. Was sollte ich auch thun? Der einzige Augenblick, wo ich mich ruhig und geborgen fühlte, war der, wenn die Base abends den Schlüssel an unserer Stubenthür herumgedreht hatte. Ich streichelte ihr beim Gutenachtsagen über die Wangen; sie waren naß, und auf dem schwarzen Haubenband lagen noch glänzende Tropfen verstreut.

„Sind Sie draußen gewesen, Base?“ fragte ich erstaunt.

„Ja!“ bestätigte sie. „Nur über den Hof hinüber zum Gärtner, wegen dem Spargel für morgen.“

Ich saß schon halb entkleidet auf dem Bettrand, als ich sie rufen hörte, sie könne den Schlüssel zu ihrer Thür nicht finden, die auf den Flur mündete; ob ich nicht einmal nachsehen wolle, ich habe doch junge Augen.

Drei, viermal leuchteten wir umher, hoben die Matte vor der Thür auf, es fand sich nichts. Es waren altmodische Schlösser, der Schlüssel riesengroß, er konnte sich unmöglich verstecken.

„Das ist doch sonderbar, Base!“

„Ich weiß auch gar nicht – ich hab’ ihn heute nicht von außen stecken lassen, weil ich gar nicht fort gewesen bin. Und vorhin, als ich da hinüber lief, da habe ich ihn doch noch im Schloß gesehen.“

„Was machen wir nun?“ fragte ich.

„Nichts, Kindchen; wir schlafen bei offener Thür. Oder fürchten Sie sich?“

„Ich? – Nein!“

„Dann legen Sie sich getrost hin; wer bei Ihnen stehlen will, muß erst durch meine Zimmer, Anneliese.“

„Sprechen Sie davon nicht, Base,“ sagte ich und löschte mein Licht aus.

Aber schlafen konnte ich nicht; Gott weiß, was mir für abenteuerliches Zeug im Kopfe umherging. Bald glaubte ich Tritte zu hören, bald ein Rascheln und Atemholen. Thörichtes Mädchen! schalt ich mich selber. Die Base nebenan hustete zuweilen, es klang so tröstlich. Draußen rauschte der Regen mächtig hernieder, das einförmige Geräusch machte wirklich müde, ich schlief ein.

Plötzlich erwachte ich – wodurch, kann ich nicht sagen; im nächsten Augenblick saß ich aufrecht im Bett und lauschte. Von der Marienkirche drüben schlug es zwei Uhr; der Regen plätscherte immer noch. Aus der Stube der Base kam es, das Rascheln und Räumen, ein leises vorsichtiges Tasten und ein Knistern wie von Papier oder dergleichen. Ich schlich, notdürftig angekleidet, mit verhaltenem Atem und furchtbarem Herzklopfen auf meinen weichen Filzpantoffeln hinüber zur halb angelehnten Thür – Was mochte die alte Frau dort treiben?

An der Kommode sah ich eine Gestalt, eine dunkle Gestalt, eifrig bemüht, in der aufgezogenen Schublade zu krämen. Die Base schloß ihre Fensterläden nie, es war deshalb ein dämmeriges Licht in dem Raume. Die alte Frau lag im Bette und schlief.

Mir wankten die Knie, und die Zunge ward mir schwer wie Blei. Dann schlug ich die Thüre zu, daß es dröhnte, und sprang an die elektrische Klingel; unheimlich gellte der schrille Klang durch das Haus. „Hilfe!“ schrie ich aus meinem Zimmer auf den Flur hinaus, „Diebe! Diebe!“

Eine dunkle Gestalt flüchtete dem Hausgang zu; ich ließ noch immer die Klingel gellen.

Dann lief ich zur Base hinüber. „Um Gottes willen, wachen Sie doch auf! Wachen Sie auf!“ Mit zitternden Fingern machte ich Licht. Sehen Sie doch, es waren Diebe hier, Sie sind bestohlen!“

Die alte Frau saß aufrecht im Bette, ohne jedes Zeichen von Ueberraschung.

„Sehen Sie doch!“ wiederholte ich ungeduldig.

„Ja, ja,“ murmelte sie – „ich bitte Sie, Anneliese, ziehen Sie sich an, Sie erkälten sich sonst; ich will gleich aufstehen.“

Im Hause wurde es lebendig, das Stubenmädchen erschien und die Köchin; die alte Frau hatte sich rasch angekleidet. Man beleuchtete nun die geöffnete Kommode, aus deren oberster Schublade der Inhalt zum Teil herausgerissen war, zum Teil unordentlich hervorsah, und bestürmte die Base mit Fragen.

„Ja, wie kann er denn hereingekommen sein, der Dieb? Einsteigen ist doch nicht möglich! Schickt auf die Polizei und weckt den Herrn – der Herr muß doch kommen! Wo ist Friedrich?“ riefen die Mägde durcheinander.

„Der schläft,“ sagte das Stubenmädchen.

Die Köchin lief hinauf, den Herrn Wollmeyer zu wecken. Nach einigen Minuten erschien mein Stiefvater auf dem Platze. Er begann die Base auszufragen, mit gerunzelter Stirn und der verdrießlichen Miene, die Leute haben, die unsanft aus ihren süßesten Träumen aufgestört sind.

„Ist denn thatsächlich gestohlen?“ forschte er, „was vermissen Sie, Base?“

„Nichts!“ antwortete die alte Frau, „wahrscheinlich fand der Dieb nicht, was er suchte.“

„Ist das Sparkassenbuch da?“

„Jawohl, das wird schon da sein; bin auch gar nicht bange, daß der Mensch es mir hat stehlen wollen.“

„Na, aber was denn sonst, Base?“ rief eines der Mädchen.

„Ja, was weiß ich!“

Herr Wollmeyer sah sich im Zimmer um. „Zum Fenster kann doch niemand herein? Es muß sich also jemand im Hause versteckt gehalten haben. Bemerkten Sie denn kein verdächtiges Geräusch oder das Aufbrechen des Schlosses? Schliefen Sie so fest?“

„Ich war wach, und die Thüre war offen,“ berichtete die Base, „ich habe den Mann hereinkommen sehen und alles beobachtet.“

„Warum haben Sie denn nicht um Hilfe gerufen?“ fuhr die Köchin sie an, „der Kerl hätte seine gesalzene Tracht Prügel heimgetragen.“

„Nun, ich wollt’ ihm gerade sagen, daß er nicht finden würde, was er suche, und daß er machen solle, fortzukommen, da klingelte Fräulein Anneliese.“

„Diese Seelenruhe begreife ein anderer!“ bemerkte Herr Wollmeyer, und seine zwinkernden flimmernden Augen suchten mich. „Legt Euch schlafen, Kinder, morgen früh lasse ich die Polizei holen.“

Ich konnte nicht sprechen vor Aufregung, wandte mich um und ging in mein Zimmer zurück. Bald darauf war die Stube leer, und die Base kam zu mir. Mitleidig sah sie mich an.

„Beruhigen Sie sich, Annelieseken, schlafen Sie schön! Morgen wird anderer Rat.“

„Warum riefen Sie mich nicht, Base?“

„Wozu denn? Ich wußte, der Dieb würde nichts finden; da that ich, als schliefe ich.“

[862] Sie brachte mich zu Bette, gab mir Wasser zu trinken und hielt meine zitternden Hände. „Armes Kind! Armes Kind, was müssen Sie alles erleben!“

„Ich halte es nicht mehr aus, ich sterbe hier!“ rief ich. „Wenn wir übermorgen hier ermordet werden, ist’s kein Wunder!“

Am andern Morgen war ich halb krank.

Wie ein Lauffeuer hatte sich die Kunde von dem versuchten Diebstahl bei Wollmeyers in der Stadt verbreitet; die einzige, die gelassen blieb, war die Base. Die Komtesse kam; „wie ich gehe und stehe,“ entschuldigte sie sich, „im Morgenkleid.“ Sie besah sich die geöffnete Kommode, in dem die saubern Knüpftücher der alten Frau, verschiedene Pappschächtelchen, ein perlengesticktes Brillenfutteral, Briefschaften u. s. w. durcheinander gewühlt lagen, schüttelte den Kopf und prophezeite den Untergang der Welt, wenn überhaupt erst so etwas vorkommen, in Westenberg vorkommen könne. Daß der Dieb nicht das Sparkassenbuch mitgenommen habe, das offen obenauf lag, das begriff sie nicht. „Habt Ihr schon nach der Polizei geschickt?“ fragte sie.

Die Base verneinte.

„Da hört doch alles auf!“ fuhr die Komtesse sie an, und als in diesem Augenblick Wollmeyer eintrat, um sich notgedrungen zu erkundigen, wie denn der gestrige Schreck abgelaufen sei, entspann sich in meinem Wohnstübchen ein heftiges Wortgefecht zwischen den beiden, in dem diesmal Wollmeyer unterlag, denn die resolute Dame erklärte ihm, wenn er die Sache nicht anzeigen wolle, so werde sie es thun; im Interesse von ganz Westenberg müsse das geschehen. Und obgleich sie durchaus kein Recht besaß, diese Drohung auszuführen, wirkte sie doch auf meinen Stiefvater. Er schickte Friedrich nach dem Rathause. Unverkennbar war er in sehr schlechter Stimmung; er zuckte die Achseln, nannte die ganze Geschichte eine Bagatelle und den Anteil, den man daran nahm, übertriebene Sucht nach Sensation. Als dann aber auch der Sanitätsrat noch dazu kam und der Komtesse zuflüsterte, man sei die strengste Untersuchung der ganzen Stadt schuldig, machte er eine halbwegs anständige Miene zu der Sache.

Der Kommissar, Herr Braunberg, erschien höchstselbst mit dem Stadtsergeanten und mein Stiefvater erklärte, es sei ein unbegreiflicher Vorfall und er müsse beinahe die Begebenheit für eine krankhafte Sinnestäuschung der beiden Beteiligten halten.

Der sehr gefällige Beamte besah sich zunächst den Thatort, erfuhr die Schlüsselgeschichte, schüttelte den Kopf, als er hörte, daß nichts gestohlen sei, und verlangte auch mich zu sprechen.

Tante Komtesse half, mich anzukleiden. In der Stube der Base war das gesamte Personal des Hauses versammelt; wir traten nun auch ein.

„Bemühen Sie sich doch nicht,“ sagte die Base gerade zu dem Polizeikommissar, „Sie fangen ihn doch nicht!“

„So? Das warten Sie ab! Haben Sie einen Verdacht?“

„Was heißt Verdacht?“ murmelte sie. „Ich sage nur, gestohlen ist nichts, also wozu die ganze Geschichte? Ich glaub’, der Dieb war gar kein Dieb, sondern einfach ein neugieriger Mensch.“

„Schwatzen Sie nicht Unsinn!“ fuhr mein Stiefvater sie an.

„Wer von den Leuten kam zuerst auf Ihr Klingeln?“ fragte der Kommissar nun mich.

Köchin und Stubenmädchen meldeten sich: „Wir!“

„Wer ist noch im Hause?“

„Hier, der Diener.“

„Kam der Diener auch gleich?“

„Nein, der schlief; wir konnten ihn gar nicht ermuntern,“ sagte die Köchin. „Das machten die zwei großen Gläser Bowle, die er sich zu Gemüt geführt. Das Fräulein und die Base hatten nichts getrunken, da mußte der Gierschluck die Bowle gleich hinunterschütten.“

Friedrich erklärte, er sei nach dem Genuß des Weines völlig betrunken gewesen und habe sich kaum mehr aufrecht erhalten können; noch jetzt sei er wie benommen im Kopf. So ’ne Maibowle habe es in sich und er sei Wein nicht gewohnt, setzte er entschuldigend hinzu.

„Wahrscheinlich sehr schwerer Wein?“ bemerkte der Polizeikommissar.

„Nein, durchaus nicht! Eine Flasche leichten Sekts, zwei Flaschen Mosel,“ lachte Herr Wollmeyer.

„Und die Tropfen, Herr Stadtrat,“ erinnerte der Diener, „die ich aus dem Schlafzimmer holen mußte.“

„Was für Tropfen?“ fragte der Beamte.

„Die Orangenessenz,“ warf Herr Wollmeyer leicht ein. „Ich nehme immer Orangenessenz zur Maibowle; versuchen Sie es nur ’mal, Braunberg; delikat, sage ich Ihnen.“

„Haben Sie Verdacht auf den Diener?“ fragte der Polizeikommissar die Base, nachdem Friedrich und die Mädchen sich entfernt hatten.

„Gott bewahre, der ist die ehrlichste Haut unter der Sonne,“ erklärte diese rasch.

„Erinnern Sie sich der Gestalt des Menschen?“ wandte er sich jetzt wieder an mich.

„Ja; ungefähr wie Herr Wollmeyer, breit, gedrungen, was man so ,untersetzt‘ nennt,“ erklärte ich.

Herr Wollmeyer lächelte. „Sehr schmeichelhaft!“

„Anzug, gnädiges Fräulein?“

„Weiß ich nicht; jedenfalls dunkel. Ich erkannte kaum mehr als die Umrisse der Gestalt.“

Der Beamte fragte nicht mehr; er betrachtete nochmals die Fenster, öffnete und schloß sie und schüttelte den Kopf. „Ein Einsteigen ist ausgeschlossen,“ sagte er, die starken eisernen Gitter musternd, „es ist also entweder jemand vor dem Schließen der Hausthür eingedrungen und hat sich versteckt gehalten, oder aber –“ er stockte und sah die Base an – „es ist ein Hausdieb gewesen. Fräulein Himmel, was für Wertsachen haben Sie im Besitz?“

„Mein Sparkassenbuch, das obenauf lag; es wurde nicht genommen. Ferner eine altmodische Brosche, eine Uhr aus Silber, einige silberne Löffel.“

„Das ist alles noch vorhanden?“

„Ja.“

„Besitzen Sie nicht etwas, das, an und für sich vielleicht unscheinbar, für eine bestimmte Persönlichkeit von großem Werte ist?“

Die alte Frau zögerte einen Augenblick. „Ja,“ sagte sie dann laut.

„Nur für eine ganz bestimmte Person?“

„Für zwei Personen, Herr Kommissar.“

„Befinden sich diese Personen hier im Hause?“

„Eine davon, ja!“

Mein Stiefvater stand unbeweglich am Thürpfosten; seine Augen hingen starr an der alten Frau bei dieser Wendung.

Der Beamte wandte sich jetzt um und bat sehr höflich die Komtesse, sich zu entfernen; auch den Sergeanten schickte er fort. Die Base, Herr Wollmeyer, der Polizeikommissar und ich blieben allein. Mit zitternden Händen ergriff ich die Lehne eines Stuhles. Was würde nun kommen!

„Berichten Sie, Fräulein Himmel,“ forderte sie der Kommissar auf.

„Sie fragten mich, ob ich etwas besitze, das großen Wert für eine bestimmte Person hat. Ich habe Ja gesagt,“ erwiderte die Base. „Dieses Besitztum sind zwei Schriftstücke, die mir die verstorbene erste Ehefrau des Herrn Wollmeyer vor ihrem Tode übergab, unter der Bedingung, sie nur im Falle der Not in geeignete Hände zu legen.“

„Und Sie nehmen an –?“

„Ich weiß, daß diese Schriftstücke von großer Wichtigkeit sind für Herrn Wollmeyer.“

„Mir ist von solchen Schriftstücken nichts bekannt,“ rief mein Stiefvater. „Was soll das für eine alberne Geschichte werden! Herr Polizeikommissar, ich bitte, machen Sie dieser Komödie ein Ende!“

Der Beamte hatte plötzlich ein so marmornes Gesicht bekommen, daß die jovialen Worte des Herrn Stadtrats daran abprallten wie Wellen an einem Felsen. „Wo befindet sich die andere Person, die ein ebenso großes Interesse an den Doknmenten hat?“

Eine lange Pause folgte.

„Da Sie den einen genannt haben, fordere ich auch den Namen des andern,“ klang es streng.

„Robert Nordmann in Halle,“ gab die alte Frau mit fester Stimme zur Antwort.

„Sie wissen bestimmt, daß diese Person gestern abend nicht hier gewesen sein kann?“

„Ich weiß es bestimmt,“ sagte sie.

„Aha!“ fiel Herr Wollmeyer ein, „jetzt beginnt mir die Sache verständlich zu werden – mein Herr Neffe spielt hier eine Rolle. Sie erinnern sich vielleicht noch, lieber Braunberg, der Gymnasiast, der damals bei Nacht und Nebel nach Amerika durchbrannte.“

[863] „Ich erinnere mich, daß sich aus Ihrem Hause heimlich ein junger Mann entfernte. Ist es der nämliche, Fräulein Himmel?“

„Ja.“

„Er hält sich jetzt in Deutschland auf?“

„Er dient sein Jahr als Einjähriger ab.“

„War er in der letzten Zeit einmal hier in diesem Hause?“

„In der Nacht, da die zweite Frau Wollmeyer starb, war er hier,“ antwortete die Base.

„Was wollte er hier?“

Die Base schwieg; verlegen sah sie zu Boden. Mein Herz pochte wie wahnsinnig.

Herr Wollmeyer lächelte höhnisch. „Ah, ah – was erfahre ich denn da, meine liebe Anneliese? Sollten Sie zufällig wissen, wem der Besuch des Herrn Robert Nordmann galt?“

„In welchen Räumen hielt er sich auf?“ fragte Braunberg, ohne diese Taktlosigkeit zu beachten.

„In diesem Zimmer, dem nämlichen, wo der Einbruch geschehen ist,“ erklärte die alte Frau.

„Wie lange war Herr Nordmann bei Ihnen?“

„Von abends zehn Uhr bis morgens gegen Fünf. Er reiste ab, sobald er erfuhr, daß die gnädige Frau tot sei.“

„Herr Wollmeyer wußte nicht darum?“

„Nein! der Besuch galt mir. Er war auf meinen besonderen Wunsch gekommen.“

„Ich frage Sie noch einmal, Fräulein Himmel – welchen Beweis können Sie dafür erbringen, daß Herr Nordmann in dieser letzten Nacht nicht hier gewesen ist, daß also nicht er es war, der den Entwendungsversuch machte?“

„Den einfachsten von der Welt – er weiß gar nicht, daß ich diese Papiere besitze.“

„Und Sie sind überzeugt, daß diese Papiere noch in Ihrem Besitz sind, daß sie der Eindringling nicht nahm?“

„Er nahm sie nicht, er konnte sie nicht nehmen.“

„Aha, Sie hatten sie nicht in jener Kommode?“

„Ich besaß sie überhaupt nicht mehr; ich hatte sie bereits an meinen Neffen geschickt.“

„Und wann ist das geschehen?“

„Gestern abend.“

„Gestern abend?“ Der Beamte sah sie aufmerksam und zweifelnd an. „Wie kamen Sie dazu, sie gerade gestern abzusenden?“

„Ich hielt sie hier nicht länger für sicher.“

„Haben Sie eine Postquittung?“

„Nein, ich habe sie mit gewöhnlichem Brief gesandt. Als ich mich zum Fortschicken entschloß, war die Post nicht mehr geöffnet.“

„Also da wäre Robert Nordmann heute früh in den Besitz dieser ihm so wertvollen Papiere gekommen?“

„Ja, länger werden Briefe nach Halle wohl nicht brauchen.“

Der Polizeikommissar schwieg und strich sich den Bart. Herr Wollmeyer trocknete sich die Stirn mit dem seidenen Taschentuch. „Es ist doch sonderbar,“ stieß er hervor, „heute nacht wird hier eingebrochen, und heute früh ist Herr Nordmann im Besitz eines bestimmten Gegenstandes, der für ihn sehr wertvoll sein soll!“

Der Beamte hatte ein kleines Notizbuch aus der Tasche gezogen und studierte darin. Dann schrieb er etwas auf und gab es dem herbeigerufenen Stadtsergeanten. „Nach dem Telegraphenbureau!“

Wollmeyer hielt ihn plötzlich am Arm. „Lassen Sie gut sein, Braunberg; ich ziehe den Antrag auf Untersuchung zurück. Es spielen hier Verhältnisse mit, Verhältnisse so zarter Natur – es ist möglich, daß mein Neffe hier war, sogar sehr wahrscheinlich, keineswegs indessen, um sich ein fabelhaftes Papier zu holen, das vielleicht in einem hinterlassenen Schreiben seiner Mutter besteht, sondern um – Sie wissen, lieber Braunberg, bevor die Verlobungsanzeigen nicht gedruckt sind – und Sie wissen, solche Süßigkeiten sind ja um so reizender, wenn sie hinter dem Rücken des Papas – ha, ha!“ Er lachte jovial und schlug dem Beamten auf die Schulter. „Ich werde mit dem nächsten Zug hinüberfahren nach Halle und unter vier Augen mit dem Jungen reden. Kommen Sie mit hinaus, wir trinken ein Glas Rotspohn miteinander – die Sache hier ist erledigt!“

Ich stand plötzlich auf den Füßen; ich wollte reden, wollte hinüberstürzen, um dem Menschen einen Schlag ins Gesicht zu geben, der es wagte, Robert und mich zu beschimpfen.

Die Base riß mich zurück und trat zu dem Beamten. „Ich bin die einzige, die zu bestimmen hat, ob die Untersuchung erledigt sein soll oder nicht!“ rief sie mit totenblassem Gesicht. „Mich hat man bestehlen wollen, und da die Sache eine solche Wendung nimmt, verlange ich, daß man ihr auf den Grund geht. Der Vater ist unschuldig des Diebstahls bezichtigt worden, den Sohn will ich vor ähnlichem Schicksal behüten.“

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Herr Nordmann verdächtig ist, zur Nachtzeit in Ihr Zimmer gedrungen zu sein, um sich die für ihn sehr wertvollen Urkunden widerrechtlich anzueignen,“ warnte der Beamte. „Man wird ihn noch heute polizeilich vernehmen.“

„Aber Base, Base,“ mahnte Herr Wollmeyer und trocknete sich die blasse Stirn mit dem Taschentuch. Der Boden schien ihm unter den Füßen zu schwanken, er setzte sich. „Bedenken Sie doch, liebe Base, bedenken Sie doch!“ stammelte er. „Ich reise nach Halle und bringe die Geschichte in Ordnung – machen Sie ihn nicht unglücklich, den armen Jungen.“

Aber die alte Frau hörte ihn nicht. Durch ihre Gestalt ging zwar ein Zittern, während sie sich auf die Tischplatte stützte, und in ihrem Gesicht zuckte es wie Krampf, aber die bläulichen zitternden Lippen gehorchten ihr, und die Augen fest auf den Beamten gerichtet, sagte sie: „Herr Polizeikommissar, Sie würden den Unschuldigen vernehmen – der Thäter ist Herr Wollmeyer. Ich habe ihn erkannt, als ich erwachte, und bin bereit, es eidlich zu bezeugen.“


Heute weiß ich nicht mehr genau zu sagen, wie die Ereignisse jenes Tages sich aufeinander folgten; nur, daß sie lawinenartig über das Haus und seine Bewohner hereinbrachen, das weiß ich noch. Aufrecht inmitten der ganzen Geschichte stand allein die Base. Ich erinnere mich noch, daß jemand mich aus dem Zimmer mehr trug als führte, nachdem die Base gesprochen hatte; daß Wollmeyer lachte, höhnisch, brutal, um dann jäh zu verstummen; daß der Polizeikommissar mit ihm nach oben ging und daß die Base in ihrer Stube blieb, allein, ganz allein und still. Was die alte Frau da mit sich durchgekämpft hat, kennt nur Gott allein.

Wie der Gang des Verhörs sich entwickelte, das nunmehr der Staatsanwalt selbst leitete, ahnte ich nicht. Es war ein immerwährendes Kommen und Gehen von Beamten und Depeschenboten. Wollmeyer verlangte, mit der Base zu sprechen, nachdem ein Telegramm eingetroffen war mit der Nachricht, ein Brief mit Einlage sei in der Wohnung Roberts gefunden worden, uneröffnet, da der Adressat noch im Dienst sei. Die Beamten hatten dann Wollmeyers Haus verlassen, nachdem dieser des Entwendungsversuches überwiesen worden war.

Es waren qualvolle Stunden, die ich verlebte. Ich lag auf meinem Bett, unfähig, mich zu rühren, und mußte das Flehen und Winseln jener Stimme vernehmen, die ich bisher nur im Tone größter Selbstgefälligkeit oder des Zornes hatte sprechen hören. Ich konnte die Worte nicht verstehen, ich deckte auch die Kissen über meine Ohren. Mit einem Male schrie er aber so laut, daß ich es hören mußte: „Ich fordere das Blatt zurück, es ist mein Eigentum! Sag’ ihm, er soll verlangen, was er will; mein ganzes Geld mag der Lump haben und das Mädel dazu! Was braucht’s den großen Lärm, ich will ja doch nichts weiter! Pack’ auf, nach dem Bahnhof, fahr’ hin –“ Und dann wieder das verzweifelte Weinen!

Was die Base geantwortet hat, weiß ich nicht. Was sie gelitten, den Mann so zu sehen, dem sie einst ihr ganzes Herz geschenkt, auch das habe ich nicht erfahren. Sie reiste nicht nach Halle, das Erbarmen war ihr geschwunden nach dem Versuch seinerseits, die niedrige Handlungsweise auf die Schultern Roberts zu laden, dessen Vater er schon entehrt hatte.

Da nahm der Mann, der so schlau zu rechnen verstand, noch einmal seinen ganzen Witz zusammen und löste selbst das verwickelte Exempel seines Lebens, dessen Facit Verachtung, Strafe, schwere Strafe vor dem irdischen Richter ergab, auf eine Weise, die für ihn sowohl wie für die Gerichte die einfachste war. – Gegen drei Uhr nachmittags hallte droben in seinem Arbeitszimmer ein Schuß.

Die Base trat zu mir in die Stube. „Was war das?“ fragte ich und fuhr mit Herzklopfen empor.

„Es wird irgend etwas hingefallen sein, Anneliese.“

Da gellte schon der Schrei des Stubenmädchens durch das Haus: „Der Herr – der Herr!“

Stumm ging die alte Frau hinaus. – – –

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aus: Die Gartenlaube 1894, Heft 52, S. 877–880

[877] In der Stadt verlautete erst etwas von den Geschehnissen im Wollmeyerschen Hause, als der Arzt gerufen wurde, um festzustellen, daß der Herr Stadtrat, aus noch unermittelten Gründen, den Tod gesucht und gefunden habe.

Ich saß während der ganzen Zeit auf dem nämlichen Fleck im Lehnstuhl am Ofen, die Füße emporgezogen, ohne Speise und Trank. Die Komtesse, die bei mir war, hielt mich krampfhaft an den Händen. Fähig zum Sprechen war ich nicht, als die Herren vom Gericht mich um dieses und jenes befragten.

„Lassen Sie das arme Kind,“ bat die Komtesse. „Sie sehen, sie ist krank.“

Der Hof stand voll Menschen, eine Menge Leute kam und ging; eine beklemmende schwüle Luft war draußen und drinnen. Die Bekannten des Hauses eilten mit verstörten Gesichtern herbei und einige drangen bis zu mir herein.

„Aber um Gotteswillen, weshalb denn nur?“ fragten sie. „Was war denn der Grund?“ „Vermögensverluste!“ „Ach Gott bewahre, der Tod der Frau!“ „Ja freilich, er war so anders in letzter Zeit; der Sanitätsrat hat ihn durchaus auf Reisen schicken wollen, aber er ging ja nicht.“ „Armes Kind, nun so ganz verwaist!“ So ging das hin und her.

Das war in den Nachmittagsstunden; gegen Abend kam niemand mehr. Anfänglich leise, dann immer bestimmter, immer machtvoller drang die Kunde von dem wahren Sachverhalt unter die Menschen, die in diesem Mann ein Vorbild bürgerlicher Tugenden zu verehren gewohnt waren. Selbstmord, weil er der Absicht überführt worden war, aus dem verschlossenen Schubfach des alten Fräulein Himmel ein Dokument zu entwenden, das eine schwere Schuld seiner Vergangenheit bewies! Allerlei Einzelheiten, die heute noch im Munde der Westenberger sind, wenn man vom Stadtrat Wollmeyer spricht, wurden erfunden – aber so schwer, so schrecklich wie die Wirklichkeit war ja doch nichts.

Um zehn Uhr abends brachte man den Toten nach der Leichenhalle des Friedhofs.

Die Komtesse hatte uns verlassen, die Nacht senkte sich über all die Häuser und Hütten der kleinen Stadt, in denen heute die Leute ausnahmslos mit dem Gedanken an das traurige Ereignis einschliefen. Eine Nacht war es, die so recht paßte zu dem grausigen Geschehnis. Das Gewitter, das schon gestern gedroht, war mit Sturm und Regen herangezogen, die hohen Bäume des Gartens ächzten und bogen sich im Sturm, und Blitz auf Blitz flammte hernieder. Die Mädchen im Hause fürchteten sich; sie saßen mit blassen Gesichtern, bei brennender Lampe die ganze Nacht in der Küche beisammen, und wenn ein Laden knarrte oder der Regen prasselnd gegen die Fenster geschleudert wurde, schrieen sie auf, daß es bis in unsere Stube scholl.

Die Base, das Schlüsselbund im Gürtel, war allein in den oberen Flur hinaufgegangen, um dort ein schlecht schließendes Fenster zu verriegeln. Die Thüren der Gemächer droben trugen bereits das obrigkeitliche Siegel.

Einige Briefe, die nachmittags gekommen waren, lagen auf dem Tisch im Zimmer der Base, einer davon aus Amerika, mit Brankwitzens Handschrift.

„Jetzt gehen Sie schlafen, Anneliese,“ sagte die alte Frau, „ich bleibe hier bei Ihnen. Freilich, es wäre besser, Sie schliefen in dem netten Stübchen bei der Komtesse.“

„Sie hier allein lassen? Niemals, Base!“

So blieben wir beisammen in der schrecklichen Nacht, ohne zu sprechen. Keiner von uns kam der Schlummer. Gegen Morgen kochte die alte Frau Kaffee. Als es fünf Uhr schlug, löschte sie die Lampe, öffnete die Läden und stand dort wartend; endlich ging sie rasch aus dem Zimmer. Ich hörte, wie sie die Hausthür aufschloß und dann mit jemand sprach.

Ich richtete mich in meinem Stuhle empor – Robert Nordmann? Die Base [878] mußte mit ihm in ihrer Stube sein; ich sah ihn nicht, ich hörte nur den Klang seiner Stimme. Viel war es nicht, was er sprach; sie redete mehr. Dann ward es wieder still, er mußte wieder fort sein.

Am Nachmittag kam die Komtesse; sie wollte mich mit Gewalt aus dem Hause nehmen. Ich wehrte mich, die alte Frau dürfe nicht allein bleiben. Kein Mensch außer mir wußte ja, was sie litt in dieser Zeit.

Und am zweiten Tag ward der Mann begraben, still in aller Morgenfrühe. Die Base stand an seinem Grab, sonst niemand.

Eine Frau nur war noch neben die Base getreten an den frischen Hügel, ein Kind an der Hand, einen Jungen von etlichen Jahren, der halb trotzig, halb furchtsam dem Sarge nachsah.

Die Base erzählte es mir, als sie zurückkam. „Nun kann der arme Schlucker betteln gehen,“ hatte diese Frau gesprochen; „wer sorgt in Zukunft für ihn? Umsonst kann ich ihn nicht behalten, die Knopfmarthe hat ihm nichts hinterlassen.“

„Ich werd’ schon sorgen, daß er nicht umkommt; behalten Sie ihn nur, bis der Nachlaß geordnet ist,“ hatte die Base getröstet.

Dann lebten wir zwei allein in dem großen Hause, dessen obere Räume noch immer versiegelt waren; erst nach Wochen konnte das gerichtliche Verfahren geschlossen werden. – –

Der Sommer kam, ein ungewöhnlich heißer Sommer, den ich mehr im Garten verlebte als im Hause, in dem alten melancholischen Garten, der für ein trauriges sehnsüchtiges Gemüt wie geschaffen war. Die Fenster des Hauses sahen so still verschlafen zu ihm hinunter, und die Rosen blühten in wunderbarer Pracht, ohne daß eine Hand sich nach ihnen ausgestreckt hätte. Die Base schlich zuweilen durch die schattigen Gänge und setzte sich neben mich, müßig, die Hände im Schoß.

Die Tage hatten Blei in den Schwingen. Dann kam einer, an dem die alte Frau mich leise fragte: „Ist es wirklich wahr, Anneliese, Sie wollen fort?“

Ich nickte mit abgewandtem Gesicht. „Ja, Base. Sehen Sie, ich werde krank, wenn ich noch länger hier bleibe; ich muß etwas zu thun haben, muß arbeiten, um alles zu vergessen, und – ich denke, ich bin lange genug der Gast von Robert Nordmann gewesen. Er ist doch der Erbe.“

„Aber bis zum Oktober bleiben Sie doch noch?“ Die Lippen der alten Frau zitterten. „Anneliese, bis zum Oktober!“

Der erste Oktober erschien. Ich lebte wie in einem verzauberten Schloß; nichts hörte ich von der Welt da draußen – die Base hatte sogar die Zeitungen abgeschafft. Die Komtesse kam eines Nachmittags, als ich im Garten spazieren ging – nach meiner Gewohnheit dreißigmal rund um den großen Platz in gleichmäßigem Schritt wie eine Schildwache. Sie marschierte neben mir her, bat nur um Verlangsamung des Tempos und fragte: „Na, nun bist Du ja bald erlöst, mein Kücken, die Stelle in England hat Dir die Gräfin Arvensleben verschafft. Ich bin sehr für dieses Engagement, denn, weißt Du, ein bißchen weit weg ist doch besser jetzt. Die ganze Provinz und die umliegenden Dörfer reden ja von nichts anderem als von dieser Geschichte, und eine Zeitung in die Hand zu nehmen, ist nachgerade schrecklich – Wollmeyer und Nordmann, und Nordmann und Wollmeyer!“

Ich blieb stehen und sah sie erschreckt an.

„Ja, meine Anneliese, wer hätt’s gedacht! Jetzt versteh’ ich erst, warum der Mann zur Pistole griff – es blieb ihm ja nichts anderes übrig. Das sind heitere Sachen, die da zu Tage kamen!

Nordmann hat sich übrigens sehr taktvoll benommen und höchst anständig, denn – hör’ zu – er hat auf das ganze Vermögen Wollmeyers verzichtet, ausgenommen die Besitzung in Thüringen, die Eigentum seiner Mutter war. Ja, aber weißt Du denn das gar nicht?“ fuhr sie mich an, „ich trage Dir das da vor, und Du starrst mir ins Gesicht, als spräche ich irre – Dich geht’s doch am nächsten an und –“

„Ich wußte nicht, Tante, daß die Angelegenheit jetzt verhandelt wird; mich berührt sie übrigens kaum – was habe ich mit Wollmeyers Nachlaß zu thun?“

„Ja so! Aber so recht kannst Du nicht behaupten, daß es Dich nicht angeht. Na, es ist ein altes Sprichwort, Kind, dem Bettelmann fällt das Brot aus der Tasche! Was hat der armen Len’ ihr Opfer nun genützt, Du kriegst doch nicht einen Dreier! Aber ich wollt’ nur sagen: der Nordmann hat das ganze ergaunerte und erwucherte Vermögen seines Onkels der Stadt Westenberg geschenkt, teils zur Erbauung eines Waisenhauses – können wir nämlich famos gebrauchen, denn was hier herumkrebst an verlassenen Würmern, die in schlechter Pflege sind und nicht satt kriegen und geprügelt werden, ist nicht zu sagen – andernteils für die Armenkasse. Ja, und denke nur, er hätte es nicht beweisen können, daß sein Vater damals unschuldig verurteilt wurde, wenn nicht die Base ein paar Schnitzelchen Papier besessen hätte, die die ganze Geschichte klarmachten, einen nachgelassenen Brief von der ersten Frau, der beweist, daß der alte Nordmann kein Dieb war, und zweitens ein Schreiben, das der alte Brankwitz an seinen Bundesgenossen Wollmeyer richtete als Quittung über die empfangene recht bedeutende Kaufsumme für Langenwalde, die Wollmeyer ihm in guten Staatspapieren und barem Gelde gezahlt hatte – drei Tage nach geleistetem Manifestationseid! Und diese Briefe wollte der Biedermann – Gott verzeih’ ihm seine Sünden – natürlich damals stibitzen, damals, als Du um Hilfe geschrien hast und die ganze Angelegenheit zum Klappen brachtest. Herr Gott, Anneliese, in allen Zeitungen steht die Geschichte unter der Spitzmarke: Ehrenrettung eines Verstorbenen.“

„Ich habe nichts gelesen, Tante.“

„Kind, Du mußt Dich nicht grämen; der Wollmeyer hat mehr Menschen verblendet als Deine arme Mutter und mich.“

„Tante, mich nie!“ antwortete ich.

„Es ist wahr,“ gab sie zu, „Du konntest ihn von Anfang an nicht leiden. Wie gesagt, Kind, alles in allein genommen, ist es besser, Du verschwindest ein wenig von hier. Mit der Zeit verwischt sich die Geschichte – vorläufig ist sie doch hier Deiner Zukunft hinderlich, wenn Du auch nicht das Geringste dafür kannst.

Du hast ja auch hier nichts, was zu verlassen Dich schmerzen müßte, ich meine, was so mit dem Herzen verwachsen ist, daß das Losreißen einem unmöglich scheint. Die Base und ich sind zwei alte Weiber, was hast Du an uns? Und Du weißt ja auch, daß wir bei jedem Herzschlag an Dich denken werden und daß, so lange die alten Augen offen sind, Dir eine Zuflucht bei mir sicher ist, wenn draußen die Wellen allzu hoch gehen.“

„Du hast recht, Tante, ich besitze nichts als Euch beide, aber das ist schon sehr, sehr viel, und ich werde es mit Schmerzen hinter mir lassen.“

„Hm!“ sagte sie.

Sie hatte wohl erwartet, daß ich noch von etwas andern reden würde, das ich verlassen müsse. Ich konnte es nicht, ich glaubte ja, daß Robert mich längst vergessen habe, und wenn er mich auch nicht vergessen habe, daß dann ewig trennend die schreckliche Katastrophe zwischen uns liege wie ein Abgrund, den zu überbrücken auch die heißeste Neigung nicht hinreichen würde.

„Also dann – auf nach England, Kind!“

„Ja, Tante.“

„Deine Sachen, ich meine die Sachen Deiner Mama, kannst Du bei mir unterbringen, Anneliese.“

„Ja, Tante, ich danke Dir schön.“

„Ich werde Dich bis nach Hamburg bringen, Kücken, wollt’ schon immer ’mal hin.“

Ich nickte gerührt.

„Was ist eigentlich der Nordmann für ein Mensch?“ fragte sie dann. „Muß ein wunderlicher Heiliger sein; hundert an seiner Stelle hätten den Mammon eingesteckt. Na, zwar – wenn man selbst solchen Geldsack hat! Aber es ist doch nett von ihm; überhaupt hat er die ganze Sache höchst anständig behandelt. Er wolle weiter nichts, als das Andenken seines verstorbenen Vaters reinigen, soll er geäußert haben, schmerzlich berühre es ihn dabei, daß einem andern, der sich nicht mehr verteidigen könne, ein Makel aufgedrückt würde, aber er habe nicht anders handeln können, er sei es seinen verstorbenen Eltern und seiner einstigen Familie schuldig. Was ist Dir denn, Anneliese? Weinst Du? Du bist übrigens recht bleichsüchtig, Kind; von dem bißchen Gehen keuchst Du ordentlich. Spaziere nur langsam, ich muß heim, will Deine Angelegenheit zum Abschluß bringen.“

Sie küßte mich auf die Stirn. „Mut, Kind, es ist alles nur halb so schwer, wie es aussieht.“

Ich stand da neben dem Stamme der alten Linde und lehnte den Kopf daran. Todeseinsam, herbstmüde lag der Garten vor mir, die Abendnebel vom Weiher zogen herauf und hingen gleich leichten Schleiern in den Bäumen; feucht und welk lagen die Blätter am Boden. So still, so schläfrig war die Welt, als wollte sie [879] entschlummern, des Blühens und des Sommers müde. Wenn man auch so einschlafen könnte, um nach köstlicher Ruhe zu einem Frühling zu erwachen! Warum mußte man weiterleben, immer weiter, unter einem grauen Himmel, ohne Sonnenstrahl, ohne Wärme, verlassen, allein im fremden Lande unter fremden Menschen? – Es wäre so schön, so märchenhaft, wenn Robert noch einmal vor mir stände wie in der Todesnacht Mamas, um zu sagen: „Komm, Anneliese!“ Aber das that er nicht wieder, zu viel Schuld lag zwischen uns, schwere Schuld – fremde Schuld.

Eine schüchterne Stimme in mir wollte widersprechen: aber er liebt Dich ja doch, er wird kommen; Geduld, Anneliese, Geduld! Allein Geduld war nie meine Stärke; wie kann man geduldig sein, wenn man liebt und meint, der, den man liebt, teile unsere Sehnsucht nicht. Nein, er liebte mich nicht! Erbarmen war es gewesen, Mitleid mit dem armen gequälten Ding! Nun wußte er die Qual beendet, die Freiheit war angebrochen – flieg’ hinaus, Du gefangener Vogel, such’ Dir ein schützendes Dach unter fremden Menschen!

Kurz und gut, sagte ich und wischte nur die feuchten Augen, wenn er hätte kommen wollen, wär’ er längst da, und deshalb vorwärts wie eine tapfere Soldatentochter! Sei Deines Vaters rechtes Kind, der so oft sagte: „Es wird mit nichts auf der Welt mehr Verschwendung getrieben als mit der Zeit, die man mit Gedanken über Unabänderliches, Geschehenes vergeudet, indem man sich ausmalt: wie hätte es sein können, wie ist es nun!“ Freilich, es ist schwer, aber Mut, Anneliese! Heute, als allerschwersten Anfang, bezeichne einmal die Sachen, in deren Mitte Du aufgewachsen bist, die Möbel und Geräte des Vaterhauses, die Du nicht mitnehmen kannst in die Fremde und die die Tante Komtesse Dir aufbewahren will! Wo sie es nur unterzubringen gedenkt in ihrem kleinen Hause? Gott mag es wissen. – Also vorwärts!

Mit einem Ruck, über den ich selbst lächeln mußte, löste ich mich von dem Baumstamm und schritt im Nebel durch den Garten dem Hause zu. In meinem Stübchen war es schon ganz finster, aber das Feuer im Kachelofen glühte und warf seinen roten Schein auf die Dielen. Es war so anheimelnd nach dem Nebel draußen. Ach, wer weiß, wo man so ein liebes trautes Plätzchen wiederfindet, um seine Gedanken auszuspinnen in heimlicher Einsamkeit? Wer weiß, ob je wieder Augenblicke für mich kommen werden, die mir, mir ganz allein gehören, und wäre es auch nur, um sie zu verbringen in Sehnsucht, in heißer aufflammender Sehnsucht nach einem freundlichen Wort, nach einer Liebkosung von der alten runzligen Hand der Base? Ich hatte sie doch lieb, diese meine Heimat, trotz allem und allem, von der Zeit her lieb, in der mir das alte Haus noch wie mein eigenes Besitztum erschien, wo Papa und Mama fröhlich waren und ich in der Dämmerstunde zwischen ihnen auf dem Sofa saß, den kleinen Hund auf dem Schoß, und hinter mir die Hände der beiden sich gefaßt hielten in stiller Zufriedenheit. Dann kam all das Schwere, aber der Glanz von damals war doch so mächtig, daß er hinwegleuchtete über das Elend und es mir in diesem Augenblick unmöglich erscheinen ließ, diese Heimat für immer zu verlassen. Herr Gott ja, der Abschied, wäre der nur erst vorüber!

Ich blieb sitzen und starrte mit brennenden Augen in die Glut. Ach, ein Feuer gab’s wohl überall, um sich zu wärmen, und Menschenglück blühte noch viel auf der Erde, aber es war nicht mein! Doch wer hinauszieht unter fremde Menschen, der soll sein persönliches Empfinden und Wünschen mit den andern unnötigen Dingen über Bord werfen als unnützes Reisegepäck. Ich wollte, die Komtesse gäbe den Plan auf, mich nach Hamburg zu begleiten. Wozu die Qual des Abschieds verlängern? O, ich hatte Deutschland so lieb! Ist denn Deutschland nicht groß genug, um sich irgendwo zu verstecken, mußte denn gleich das Meer zwischen mich und meine unglückliche Vergangenheit geschoben werden?

Im Nebenzimmer klapperte die Base mit dem Kaffeegeschirr. Unglaublich, wie früh es dunkel wurde bei dem Nebel! Und in England würde der Nebel noch viel schlimmer sein – ach, und ich liebte die Sonne so sehr! Den ganzen Tag Licht brennen und die Kinder, die vielleicht recht unartig waren, dabei im Zimmer haben – zwei Jungen und ein Mädchen – dazu diese Sehnsucht – vielleicht würde ich krank werden und sterben. Ob es wirklich Leute gab, die am Heimweh starben? Aber ehe man stirbt, wird man krank, und wie schrecklich ist Kranksein in der Fremde, in einem Hospital, wo eine Menge Betten an den Wänden steht und in jedem Bette ein stöhnender Mensch liegt, wo zu der eigenen Qual noch die der anderen kommt!

Ja, das konnte mir auch werden!

Die Glut im Ofen erlosch. Die Base rief mich nicht, es mußte jemand gekommen sein, mit dem sie sprach, vielleicht der Gärtner oder der Postbote oder – – Dann ging die Thür hinter meinem Rücken, ein Lichtschein streifte einen Augenblick den alten braun und weiß gesprenkelten Kachelofen, dann schloß sich die Thüre wieder; die Base hatte wohl herein geschaut, ob ich da sei, und hatte mich nicht gesehen.

Nun war es wieder dunkel und still. Oder war doch jemand eingetreten? Eine thörichte Furcht überfiel mich, als stände ein menschliches Wesen hinter mir und betrachtete mich.

Auf einmal sagte eine Stimme: „Anneliese!“ – leise, zitternd, eine Stimme, ach, eine Stimme – träumte ich denn? Regungslos blieb ich sitzen.

„Anneliese, hast Du nicht auf mich gewartet?“

Ich wollte mich aufrichten, aber ich vermochte es nicht, so bebte ich. Da bückte er sich und hob mich empor.

„Hast Du nicht gewartet, hast Du nicht gedacht, daß ich heute komme, heute, wo meine Militärzeit zu Ende ist? Schickst Du mich wieder fort? Nein, Du kannst nicht, Du darfst nicht, Anneliese, denn, siehst Du, nun ist mein Vater wieder ein Ehrenmann, wie der Deinige es war, und Du brauchst Dich nicht zu schämen, Anneliese Nordmann zu heißen. Anneliese, sprich doch ein Wort!“

Aber ich konnte dies Wort nicht sprechen, so gerne ich’s wollte – ich weinte.

Da führte er mich zu dem alten Großvaterstuhl am Ofen und ich setzte mich hinein und er kniete vor mich hin. „Mein kleines Mädchen, hör’ auf zu weinen, Thränen sind gar nicht mehr für Dich, dazu sollst Du nie, nie wieder Grund haben. Denk’ nicht mehr an die Vergangenheit, an die schrecklichen letzten Jahre, an alles, was sie Dir nahmen; denke daran, daß diese Zeit uns einander gegeben. Weißt Du noch – die Neujahrsnacht im Schlitten? Du meintest, es sei ein Abschiedskuß? Ich auch – aber nur einen Augenblick, dann wußte ich, es war der Anfang eines wundervollen Glücks. Und da oben in der alten Mühle, hörst Du, da wollen wir Hochzeit feiern. Nicht jetzt, nein, nein, aber Du sollst gleich dort wohnen, ich will Dich dort wissen, wenn ich an Dich denke. Du gehst mit der Base hin, sobald als möglich. Uebers Jahr, Weihnachten übers Jahr, dann komme ich, dann führt uns der Schlitten in das kleine Kirchlein, Anneliese, und nachher gehen wir an das Grab der Mutter, und ehe wir hinausreisen in die weite Welt, legt uns die Base ihre Hände auf das Haupt, die alten treuen Hände, die uns die teure Heimat schützen sollen, bis ich Dir meine neue im fernen Weltteil gezeigt, Anneliese.“

Es braucht niemand zu erfahren, was ich antwortete. Wir haben uns spät am Abend getrennt mit einem „Auf Wiedersehen!“ und die Base hat glückselig dabei gestanden mit ihren alten trüben Augen, denen zu lieb sie die Thränen herzhaft unterdrückte, „denn, Robert, das Salzwasser brennt so und die Augen sind krank und ich möchte sie so gern noch ein wenig schonen, um endlich einmal zu schauen, wie das Glück aussieht.“

Meine Zuflucht war an diesem Abend wieder der alte Großvaterstuhl neben dem Kachelofen. Die Base schlief fest und beruhigt nebenan, ich aber – wie hätt’ ich schlafen können, nach diesen Glücksstunden! Ich schmiegte mich mit dem köstlichen Gefühl des Geborgenseins in die ehrwürdigen Polster und sagte leise zu mir: „Uebers Jahr – Weihnachten übers Jahr!“

Am andern Morgen suchte ich die Komtesse auf. Sie saß in der blitzsauberen Küche und schälte Quitten zum Winterkompott. „Tante, ich gehe nicht nach England, schreib’ nur ab!“ rief ich ihr entgegen.

„Das ist unmöglich, bedaure!“ antwortete sie trocken und zog ein sehr beleidigtes Gesicht.

„Liebe Tante, es muß sein, bitte, bitte!“

„Nein. Ich habe mir die Finger fast lahm geschrieben – jetzt wird nichts mehr geändert. Du kannst Gott danken, daß Du eine solche Stelle bekommst – monatlich hundert Mark und nur drei Gören zu unterrichten! Du fängst geradeso an wie Deine Mutter – man muß wissen, was man will.“

„Aber, Tante, ich weiß genau, was ich will, ich will bei der alten Base bleiben, droben auf der Mühle.“

„I, Gott bewahre! Wie darfst Du der alten Person noch ihr Bissel Gnadenbrot wegessen!“

[880] „Wenn ich Dir aber sage, daß die Base beinahe mein Gnadenbrot ißt, Tante, beinahe –“

„Lieber Himmel, Du hast wohl etwas von Wollmeyer geerbt? Anneliese, Du wirst doch das nicht nehmen! Sonst –“ Und sie fuhr mit ihrem klebrigen Küchenmesser über die weißgescheuerte Platte des Tisches, „sonst zerschneide ich feierlich das Tafeltuch zwischen uns; dann bist Du das Mädel nicht, für das ich Dich bis jetzt hielt.“

„Ich habe nichts geerbt, ich habe mich nur verlobt, Tante; aber vorläufig darf es noch keiner wissen außer Dir.“

Sie ließ mich ausreden; ihr großes, sonst so bewegliches Gesicht sah mich starr an. „Unsinn!“ sagte sie, warf Messer und Quitten in die Schüssel und stellte diese so kräftig auf den Küchentisch, daß es mir heute noch unerklärlich ist, wie das irdene Ding es aushielt, ohne zu zerbrechen. „Komm’ mit herauf – – da ist natürlich wieder eine Dummheit passiert!“

Oben bestand ich nun ein Verhör, kreuz und quer durcheinander, ein Richter hätte es nicht besser machen können.

„Daß sich Gott erbarm’, so etwas!“ rief sie endlich. „Und davon hast Du mir nie eine Silbe erzählt? Na, komm’ her – ich gönn’ es Dir, und bei der Hochzeit bin ich selbstverständlich, und – er ist ein anständiger Mensch, sonst hätte er das Sündengeld eingesteckt, anstatt es den Armen zu geben.“

„Ich soll Dich grüßen von ihm, Tante, und ob Du für Deine Kleinkinderschule die unteren Zimmer im Schlosse hier gebrauchen könntest? Der obere Stock wird für die Waisen eingerichtet, und der erste, der da hineinkommt, ist der Knopfmarthe ihr Junge.“

„Himmel, da spare ich ja zweihundertfünfzig Mark Miete – natürlich! Ihr wollt nicht hier wohnen? Kann’s Euch nicht verdenken. Freilich nehm’ ich’s an, freilich.“

„Und, nicht wahr, Tante, noch bleibt’s Geheimnis? Sieh, er und ich wollen uns auch jetzt nicht sehen, ich will nicht ganz glücklich sein jetzt, ich traure noch um Mama.“

Sie nickte und preßte mich an sich. „Da hat doch Len’ ihr Opfer nicht ganz umsonst gebracht,“ sagte sie.


War das ein Winter, der nun folgte im Schnee der Berge, war das ein Sommer im Grün der Wälder, immer in Gedanken an ihn, immer im Bewußtsein eines Glückes, das mit jedem Tage näher heranzog! Kein Schritt in die grüne Tannenwildnis hinein ohne eine liebe Erinnerung, kein Blick auf die Wände der traulichen Zimmer ohne die Ahnung künftiger schöner Tage! Und wenn Robert auf Besuch kam, wenn Hübner den netten Korbwagen aus der Remise ziehen ließ und die dicken Pferde einspannte, um den „Herrn“ von der Bahn zu holen, wenn ich hinausspähte eine ganze Stunde zu früh – kommt er noch nicht? – und wenn er dann da war, wenn er die Stufen der Treppen mit zwei Sätzen nahm und die Thüre in weiteren zwei Sprüngen erreichte und wir uns dann in die Arme fielen – o, eine solche Seligkeit gab es nicht noch einmal in der Welt!

Wir bestimmten Veränderungen und Verschönerungen des liebsten Erdenplätzchens, das nun die Mühle und das Herrenhaus sein und bleiben sollte; wir machten eine Stiftung für Arme; wir ließen uns die Pläne zu einem Schulhause vorlegen – das alte war schier am Zerfallen – und ein halbes Jahr lang stickte ich an der Altardecke, die bei unserer Trauung zum erstenmal in der kleinen Kirche prangen und immer nur bei Hochzeiten aufgelegt werden sollte.

Die Base holte all ihre köstliche Leinwand hervor und ließ sie zerschneiden, und dann war das Weihnachtsfest da, welches das allerschönste für mich werden sollte.

Robert kehrte erst drei Tage vorher aus Amerika zurück; er war im Juli hinübergegangen. Am heiligen Abend kam er zu mir, am zweiten Feiertag sollte die Hochzeit sein.

Wieder schneite es und wieder lag heilige Stille über den schweigenden Wäldern und Bergen. Wieder kamen die Dorfleute mit Tannenbäumchen aus dem Forst und wieder roch es nach Hübners Festkuchen. Wie damals schleppten die Postboten sich fast tot an Paketen und wie damals ging ich die Landstraße entlang; aber diesmal nicht traurig und verlassen – diesmal, ja diesmal – –

Wären heute Arm in Arm meine Eltern hinter mir geschritten, es hätte doch einmal auf der alten Erde ein vollkommenes Glück gegeben! Aber freilich, die bange Vergangenheit lag wie ein wehmütiger Schleier über all dem Zauber der Gegenwart.

Und da war es wieder, das kleine Mäuerchen, auf dem ich vor zwei Jahren gesessen; und wie damals schob ich den Schnee hinunter und setzte mich wartend darauf; wie damals ließ ich die Blicke schweifen über die stille weihnachtliche Waldeinsamkeit. Aber in mir war nichts als Dank und Erwartung und ein weiches süßes Glücksgefühl, das sich zu pochendem Herzklopfen steigerte, als der Dreiklang der Schlittenglocken durch die stille Luft scholl.

Ich blieb ganz ruhig sitzen, als das Gefährt um die Ecke bog. Zuerst kamen die Pferdeköpfe in Sicht, an deren Geschirr rote Seidenschleifen neben den grünen Tannenzweiglein nickten, dann Herr Hübner selbst, im höchsten Staat, mit einem funkelnagelneuen Pelz, und an der Peitsche prangte ebenfalls ein purpurrotes Seidenband. Ich legte die Finger auf den Mund, und er lächelte, er verstand mich; langsam fuhr er heran.

Der Mann aber im Schlitten, der sah und hörte nicht. Er blickte unbeweglich vor sich hin; ein froher Ausdruck lag auf seinem Gesicht, dem lieben ernsten Gesicht. Ich sah zu ihm hinüber; hatte mein Blick denn nicht die Macht, ihn zu wecken aus seinem Hinbrüten? Doch! Er schaute herüber – mit einem Sprunge war er aus dem Schlitten und hielt mich umfaßt.

„O Du, Du mußtest ja hier sein, hier, an dieser Stelle!“

Der Schlitten fuhr weiter und bog um die Bergwand, wir waren allein mit unserem großen seligen Glück. Ich glaube, wir saßen zusammen auf der Mauer und spürten nichts von Kälte und Schnee.

Zwei Tage später war unsere Hochzeit; wie Robert einst gesagt, so kam es; an der nämlichen Stelle, wo seine Eltern getraut wurden, standen auch wir; hinter uns nur vier Personen: ein Paar merkwürdige Brautjungfern – die Base und die Komtesse, und dann Herr Hübner und seine prächtige Frau. Als ich zurückschritt an Roberts Seite,-da sah ich nichts als Menschen, lauter freundliche gerührte Gesichter, und die Jungen hielten uns seidene Bänder vor und die kleinen Mädchen streuten Tannenzweige und vom Chor sangen die Schulkinder: „Lobe den Herrn!“

Ach, nur eines fehlte noch: meine Mutter, meine arme Mutter!

Die Komtesse verstand meine Thränen; sie schloß mich in dem schmucken Speisesaal unseres Hauses in die Arme. „Kücken,“ sagte sie, „sie ruht, sie hat Frieden! Sieh, es giebt Menschen, die ruft der Herr zu sich, weil sie sich hier unten nicht zurecht finden – gönn’ es ihr!“

Und als die Dunkelheit herniedersank, hallten abermals Schlittenglocken durch den stillen Wald und zwei junge Menschen fuhren zusammen in die Welt hinaus. „Adieu, Frau Anneliese!“ hatte die Base noch gerufen, und die Komtesse hatte gemeint: „Sieht gerade aus wie eine Frau, das kleine schwarze Ding mit seinem Kindergesicht! Aber die Augen, freilich die Augen!“

Nach einem halben Jahre kehrten wir aus Amerika zurück, um für immer in Deutschland zu bleiben.

O du stille grüne Heimat, wie schön bist du jetzt mit deinem träumerischen Frieden!

Robert hat drüben sein Geschäft verkauft. Wir leben neun Monate des Jahres hier oben in den einsamen Bergen; um nicht ganz weltfremd zu werden, gehen wir dann alljährlich nach Weihnachten in eine größere Stadt. Aber wir zählen die Tage, bis wir wieder in unseren Bergen sind, wo jeder Stein uns kennt und uns die Leute so herzlich grüßen, wo die Mühle klappert, der Bach rauscht und der Wind durch die Baumwipfel braust. Wir haben beide unser Genügen an der Einsamkeit; vielleicht weil wir so Trübes erfahren haben von den Menschen, oder weil wir uns selbst genug sind, wir und unsere beiden Kinder, auf die die Base so schrecklich eingebildet ist und bei denen sie und die Komtesse Patenstelle vertraten. Wie dem auch sei, jedenfalls sind wir in unseren Bergen am glücklichsten. Robert ist ein musterhafter Gutsherr und ein Mühlenbesitzer – eine solche Mühle soll man lange suchen. Und ich, ich habe neben der Kindererziehung noch viel Zeit für alles Schöne, das mein Interesse erregt, und sehr stimmungsvoll klingt es, wenn ich Klavier spiele und die Mühle klappert den Takt zu Schuberts „Schöner Müllerin“. Dann sitzt Robert in der Fensternische und sieht zu mir herüber, und ihm gegenüber unser Schutzengel, die alte, treue Base, den größten Jungen zwischen den Knien. Träumerisch nickt sie dann wohl vor sich hin – ihre alten Augen haben noch geschaut, wie das Glück aussieht!