Tierische Organsäfte als Heilmittel

Textdaten
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Autor: J.
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Titel: Thierische Organsäfte als Heilmittel
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aus: Die Gartenlaube, Heft 39, S. 654
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
s. a. Der Heilstoff der Schilddrüse, Gartenlaube 1896
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Tierische Organsäfte als Heilmittel.


Wenn in den Wildnissen des Dunklen Weltteils ein Löwe erlegt wird, dann stürzen die dunkelhäutigen Eingeborenen auf die Jagdbeute, reißen ihr das Herz aus dem Leibe und verzehren es mit wilder Gier. Oft entspinnt sich darob ein heftiger Streit, denn das Löwenherz ist, nach dem Glauben der Schwarzen mit wunderbaren Kräften ausgestattet. Es verleiht Mut demjenigen, der es verzehrt. Diese Art Aberglauben ist überall unter den Menschen verbreitet und Anklänge an solche Anschauungen der Naturvölker leben auch bei uns in Deutschland fort.

Schauen wir uns nur die Aelpler näher an. Da haben die Burschen und Jäger den Gemsbart auf dem Hut, weil er Kraft geben und schneidig machen soll, und auch die Gemsklaue wird als Amulett getragen, denn sie soll gegen Altersschwäche und Kraftlosigkeit schützen. In der Volksmedizin spielen vollends verschiedene Teile des Tierkörpers eine gar wichtige Rolle. Herzkranken wird empfohlen, das Herz des Hirsches zu essen, und Lungensüchtige werden mit pulverisierter Fuchslunge behandelt. Gegen Podagra, Bein- und Fußleiden gelten Hasenläufe und Hasenfett als ausgezeichnete Heilmittel, und wer ein scharfes Gedächtnis bekommen will, dem wird geraten das Hirn des braunen oder roten Eichkatzl zu essen!

In früheren Zeiten waren derartige Heilmittel allgemein anerkannt und auch in den Apotheken käuflich; nicht nur das „Volk“ benutzte sie, auch gelehrte Aerzte befaßten sich in vollem Ernst mit ihnen und brachten die Lehre von den Heilkräften verschiedener Organe des tierischen Körpers in ein, wie es ihren Zeitgenossen zweifellos erschien, lehrreiches und weisheitsvolles System. Die neuere Forschung räumte mit dieser Lehre unbarmherzig auf, und vor mehr als einem Jahrhundert verschwand sie aus den Büchern der Medizin; etwas länger hielten sich die tierischen Heilmittel in den Apotheken, da das Volk noch immer nach ihnen verlangte.

Wenn indessen die letzten Vertreter jener Lehre wieder erwachen und jetzt Umschau in der fortgeschrittenen Welt halten könnten, so würden sie Genugthuung empfinden; denn siehe da, unter den neuesten Heilverfahren giebt es eines, das gar sehr an das alte abergläubische erinnert: man hört ja heute so viel von einer „Gewebssaft“- oder „Organsafttherapie“, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts werden aus den verschiedenartigsten Körperteilen nicht nur Heilmittel, sondern sogar Verjüngungsmittel, Lebenselixiere bereitet.

Unsere Zeit steht im Zeichen der Nervosität. Man sucht den geschwächten Nerven auf verschiedenen Wegen beizuspringen, predigt die „Rückkehr zur Natur“, empfiehlt „naturgemäße Lebensweise“, verordnet die heilsame Bergluft und nimmt das Wasser zu Hilfe, indem man die Schwachen durch „Güsse“ stärkt. Die neueste der Heilarten erinnert aber sehr an die Stärkung des Gedächtnisses durch Verspeisen des Gehirns von einem „Eichkatzl“. Professor W. Babes in Bukarest und Constantin Paul in Paris wollen gefunden haben, daß man den kranken und geschwächten Nerven auf eine ganz besondere Weise beispringen könne.

Voraussichtlich vermöge der kranke Organismus nicht die nötigen Mengen der geheimnisvollen Nervensubstanz zu erzeugen; [655] man müsse ihm also helfen indem man fertige Nervensubstanz unmittelbar ins Blut bringe. Sie bereiteten also aus Kaninchen- und Schafhirn einen Extrakt und spritzten ihn den Kranken ein. Es wurden zwar nicht alle dadurch geheilt, wohl aber ein Teil der Kranken.

So versicherten wenigstens die Erfinder des neuen Heilmittels und einige andere Aerzte, welche dem Beispiele von Babes und Paul folgten. Wie weittragend mußte nicht die Entdeckung eines solchen Mittels erscheinen! Aus der Nervensubstanz unserer Haustiere konnte fortan die Kulturmenschheit Beruhigungsmittel für ihre aufgeregten Nerven schöpfen! Auf die ersten Versuche folgten aber weitere, die von Ungläubigen mit mehr Kritik ausgeführt wurden, und da zeigte es sich, daß die Besserungen und Heilungen auch dann eintreten konnten, wenn man den Kranken sagte, daß man sie mit Nervenextrakt behandle, in Wirklichkeit aber ihnen destilliertes Wasser einspritzte. Hier war also die Suggestion, die auf nervöse Personen so großen Einfluß ausüben kann, das eigentliche Heilmittel: der Glaube an die Heilkraft des Mittels hat die Besserung im Zustande der Kranken hervorgerufen.

Unsere biederen Bergbewohner, die gegen Herzleiden das Herz des behenden Hirsches empfehlen, werden als abergläubische Kinder ausgelacht. Wie ungerecht ist man gegen sie! Es wird heutzutage von angesehenen Aerzten ein neues Heilmittel gegen nervöse Herzen, Herzschwäche u. dergl. empfohlen. Es heißt Kardin, und wie wird es bereitet? Aus dem Herzen des Rindes, das – – volle acht Monate in verschiedenen Flüssigkeiten erweicht wird!

In ähnlicher Weise hat man einen Nierenextrakt, „Nephrin“, gegen Nierenleiden, einen Extrakt von Lebersaft gegen Leberleiden empfohlen. Wer an Muskelschwäche leidet, wird vielleicht in der Zukunft mit einem Extrakt frischer Muskeln, mit einem „Musculin“ behandelt werden können.

Die Zuckerharnruhr oder der Zuckerdiabetes ist ein ziemlich weit verbreitetes Leiden, dessen Natur vielfach dunkel ist. Neuere Untersuchungen scheinen darauf hinzuweisen, daß sie mit mangelhafter Thätigkeit der Bauchspeicheldrüse (Pankreas) zusammenhängt. Ist da die Hoffnung nicht berechtigt, daß wir die Krankheit heilen können, wenn wir einen Auszug der Drüse Diabetikern einspritzen oder sie die Drüse genießen lassen? In der That ist man eifrig damit beschäftigt, Versuche nach dieser Richtung hin anzustellen.

Die größte Verbreitung erreichte aber die Anwendung der von Brown-Séquard empfohlenem Drüsenflüssigkeit, die bis heute von rund 1200 Aerzten etwa 200 000 Mal gegen verschiedene Leiden angewendet worden ist.

Ueber den Wert oder Unwert dieser Organsäfte bei der Behandlung der Kranken wird in ärztlichen Kreisen noch lebhaft hin und hergestritten, und wir hätten diese Frage wohl gar nicht in der „Gartenlaube“ berührt, wenn nicht wenigstens auf einem Gebiete der Organsaftbehandlung eine thatsächliche unbestrittene Errungenschaft zu verzeichnen wäre, die sogar die Heilung kretinös entarteter Menschen bis zu einem gewissen Grade in Aussicht stellt. Es ist dies die Behandlung einiger schwerer Leiden mit der Schilddrüse, auf deren Geschichte wir ausführlicher eingehen möchten.

Vor zwanzig Jahren war es, da beschrieb der englische Arzt William Gull eine „neue“ Krankheit. Die von ihr befallene, bis dahin gesunde und völlig normale Frau zeigte ein kretinenähnliches Aussehen; ihre Haut war gedunsen, der Ausdruck des geschwollenen Gesichtes apathisch, geistlos, der ganze Organismus matt und schwach geworden, die geistigen Kräfte waren geschwunden. Man fand später noch andere Unglückliche, die in dieser Art erkrankt waren, und nannte dieses eigenartige Leiden Myxoedema, was etwa „Schleimschwellung“ bedeutet, da das Gedunsensein auf Anhäufung einer Schleimsubstanz unter der Haut beruhte. Das Myxödem kommt in Deutschland sehr selten, in England dagegen häufiger vor. Der Ausgang der Krankheit war bis jetzt Tod nach jahrelangem Siechtum. Lange blieben die Ursachen und das Wesen des Leidens in Dunkel gehüllt, bis man dahinter kam, daß bei diesen Kranken ein Organ des Körpers verkümmert zu sein pflegte: es war dies die Schilddrüse, die vor dem unteren Teile des Kehlkopfes und dem oberen der Luftröhre liegt. Wozu diese Schilddrüse da ist, darüber stritt man seit jeher, und viele Aerzte neigten zu der Annahme, daß sie überhaupt ein wenig wichtiges Organ sei, daß man sie entbehren könnte.

Die Schilddrüse ist aber oft der Sitz eines anderen weit verbreiteten Leidens; krankhafte Entartungen der Schilddrüse bilden den Kropf. Diese langwierige Krankheit, die manchmal den Menschen zu ersticken droht, machte Operationen, Entfernungen der Schilddrüse nötig. Da stellte sich denn heraus, daß man die ganze Schilddrüse nicht so ohne weiteres entfernen durfte, denn die Operierten verfielen dadurch mitunter in einen beklagenswerten Zustand, der dem Myxödem sehr ähnlich war. Infolge dieser und anderer Erfahrungen drängte sich mehr und mehr die Ueberzeugung auf, daß der Schilddrüse in der Erhaltung des gesunden Lebens eine hohe Bedeutung zukomme, daß sie ein blutreinigendes Organ sei. Man suchte also in Fällen, wo die Drüse entfernt wurde, gesunden Tieren entnommene Drüsen einzuheilen. Dies gelang zwar nicht, aber schon das Aufsaugen der Schilddrüse durch den Körper zeigte einen günstigen Einfluß.

Auf Grund dieser Wahrnehmungen haben nun vor einiger Zeit Murray und Howiz versucht, das Myxödem, das aller ärztlichen Behandlung bis dahin getrotzt hatte, dadurch zu heilen, daß sie den Kranken den Saft der Schilddrüsen von Hämmeln und Kälbern einspritzten oder dieselben die Drüsen einfach verzehren ließen. Und siehe da, der Versuch gelang. Die Kranken wurden geheilt, die Schwellungen und die allgemeine Schwäche schwanden, wenn auch erst nach Wochen oder Monaten, und auch die geistigen Kräfte kehrten wieder zurück.

Man wandte hierauf dieselbe Behandlungsart auf Fälle jener myxödemähnlichen Erkrankung an, die auf die operative Entfernung der erkrankten Schilddrüse gefolgt war, und erzielte auch hier wesentliche Besserungen und Heilungen. Durch das Verzehren der Schilddrüsen von Tieren wurde eben dem Körper jenes noch unbekannte Etwas zugeführt, dessen er zu seinem Gedeihen bedarf. Es scheint aber, als ob die Heilung durch einmalige Kur keine dauernde würde. Wird das Verzehren der Schilddrüse ausgesetzt, so kann das Leiden von neuem ausbrechen, so daß für solche Kranke die Schilddrüse zu einem unentbehrlichen Nahrungsmittel wird.

Das Myxödem ist ein seltenes Leiden; die Schilddrüse scheint aber nach den neuesten Erfahrungen als Heilmittel gegen eine schlimme in verschiedenen Gebirgsthälern häufiger vorkommende Krankheit brauchbar zu sein – gegen den Kretinismus, der zur völligen Verkümmerung des Menschen in körperlicher und geistiger Hinsicht führt. Selbstverständlich erfordert diese Behandlung eine sorgfältige ärztliche Ueberwachung, denn es ist auf diesem Gebiete noch so vieles unklar und man will auch bei ihr Schattenseiten bemerkt haben.

Durch sorgfältige Forschungen wurde ferner schon früher festgestellt, daß zwischen dem Kropfleiden und dem Kretinismus ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Der Kretinismus kommt in jenen Gebieten vor, in welchen auch der Kropf einheimisch ist. Ja, man ist zu der Ansicht gekommen, daß viele der schwersten Erscheinungen des Kretinismus eben durch das Fehlen der Schilddrüsen hervorgerufen werden.

Bei einem Teil der Kretinen fehlt dieses Organ, es ist von der Geburt an verkümmert, bei anderen, die große Kröpfe besitzen, ist die Drüse krankhaft entartet und kann dem Körper nicht mehr dienen, kann nicht die blutreinigenden Stoffe erzeugen.

Es ist nun durchaus nicht ausgeschlossen, daß das konsequente, ärztlich überwachte Verzehren von Schilddrüsen seitens kretinös kranker Menschen von guten Folgen begleitet sein kann. Die ersten Versuche, die nach dieser Richtung hin gemacht wurden, sind durchaus nicht entmutigend. Alle, namentlich fortgeschrittenere Fälle des Kretinismus können natürlich durch die neue Behandlung nicht geheilt werden, wohl aber ist es eine Pflicht der Menschlichkeit, genau zu ermitteln, inwieweit man auf diese Weise den Unglücklichsten der Unglücklichen helfen kann.

Die Geschichte der Heilversuche von Kranken vermittelst der Schilddrüse belehrt uns im allgemeinen, daß in der „Organsafttherapie“ doch ein beachtenswerter Kern steckt. Wir dürfen nur nicht in den Fehler unserer Vorfahren verfallen und allen Drüsen- und Gewebssäften gleiche oder ähnliche Heilkräfte zuschreiben. Erst nach jahrelangen sorgfältigen Prüfungen wird man in der Lage sein, das Wertlose vom Nützlichen zu scheiden. J.