Der Thronwechsel in St. Petersburg

Textdaten
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Autor: Paul Lindenberg
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Titel: Der Thronwechsel in St. Petersburg
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 795–796
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Der Thronwechsel in St. Petersburg.

Von Paul Lindenberg.


In der Isaaks-Kathedrale, dem hoheitsvollen Dome St. Petersburgs: es ist der 29. Oktober, der Jahrestag der Errettung Kaiser Alexanders III. bei der von Nihilisten herbeigeführten Katastrophe von Borki vor sechs Jahren; feierlicher Gesang durchhallt den herrlichen Raum, der Metropolit in goldstarrender Gewandung steht vor dem Allerheiligsten in stummem Gebet, in dem hochgewölbten Kuppelsaale blitzt und funkelt es im Dämmerlichte von den Uniformen der Gardeoffiziere, den Kreuzen und Sternen der Großwürdenträger, die sich hier dicht geschart versammelt haben, in den Nebenkapellen drängen sich buntgemischt alle Bevölkerungsschichten von Petersburg zusammen, viele der Andächtigen sind in die Knie gesunken, andere liegen langausgestreckt auf den steinernen Fliesen, sie mit der Stirn berührend, und immer inniger und sehnsüchtiger erschallt das „Herr, erbarme Dich!“ des Kirchenchores, immer heißer werden die Gebete „Gott, erhalte den Zaren!“ und durch die vielen hier Versammelten geht tief und warm die Bewegung der ernsten Stunde, in der vielleicht schon das Leben des kranken Herrschers im fernen Livadia erloschen ist.

Draußen leichtes Schneegestöber, auffallend schweigsam eilen die Menschen die breiten und weiten Straßen entlang, hier und da sich zu kleinen Gruppen stauend und die eben angeschlagenen, noch druckfeuchten Blätter an den Staatsgebäuden lesend, welche von dem Befinden des Kaisers Kunde geben: keine Hoffnung mehr, und manch’ schwielige Hand fährt über die Augen, so mancher Blick trübt sich, manch’ leises Aufschluchzen wird vernehmbar, menschliche Hilfe kann nichts mehr für den Zaren thun!

Ueberfüllt sind die Kirchen und Kapellen, zahllose mühselig verdiente Kopeken werden für Kerzen und Heiligenbilder ausgegeben, in das rastlose Hin und Her des öffenllichen Getriebes mischen sich aus den offenen Kirchenthüren, durch die der Schein hellen Kerzenschimmers dringt, die frommen Weisen der Vorsänger: „Herr, erbarme Dich! Gott, erhalte den Zaren!“

Drei Tage später. Der Abend des ersten Novembers. Eine plötzliche Stockung hemmt den Verkehr auf dem Newski-Prospekt. Offiziere auf schaumbedeckten Pferden galoppieren zu den Ministerien, zum Winterpalais, zu den Palästen der Großfürsten, alles weicht ihnen aus, angstvoll fragend blickt man ihnen nach. Sollte das Ereignis eingetreten sein, das man längst erwartet und an das man doch nicht zu glauben vermocht? Niemand weiß Antwort zu geben, jeder scheut sich, die traurige Antwort auf die drängende Frage zu geben! Da hallt es dumpf und dröhnend durch die Lüfte, die Isaaks-Kathedrale macht den Anfang und die Glocken der zahllosen Kirchen, Kapellen und Klöster fallen ein, immer gewaltiger und klagender rauscht und raunt es durch die gewaltige Stadt bis in die entlegensten Gäßchen, bis in die entferntesten Winkel, und ohne daß es jemand besonders verkündet, weiß man: Zar Alexander III. ist gestorben.

Durch die ganze Welt zuckt die Nachricht, denn ein weltbewegendes Ereignis hat stattgefunden – was werden seine Folgen sein, wie wird sich die politische Lage gestalten, welch’ neuer Wille wird das ungeheure Reich regieren, wie werden sich die Wirkungen in den anderen Staaten zeigen? Aber zunächst muß die Politik hinter das menschliche Mitgefühl zurücktreten. Man mochte oft nicht mit den Regierungsmaßregeln Alexanders III. einverstanden sein, man mochte die im Innern Rußlands getroffenen Maßnahmen bekämpfen und die von ihm nach außen hin gesponnenen oder unterbrochenen Beziehungen als Feindseligkeit empfinden – als Mensch genoß er allgemeine Hochachtung, zollte man ihm nicht bloß in Rußland warme Sympathien, die nun das Mitleid mit seinem schweren Schicksal verstärken!

Das Glück war nie den Romanoffs hold! Aber keiner von ihnen hat so im Bewußtsein drohenden Unheils gelebt wie der entschlafene Zar. Es waren keine heiteren Kindertage gewesen, die er in dem prunkvollen elterlichen Schlosse an der Newa verlebt; sicher hatte er sich seine Zukunft anders ausgemalt, der stets schweigsame und zurückhaltende Jüngling. Er wollte sie sich nach seinem Belieben gestalten, vielleicht fern der Residenz leben, für deren lockere Zerstreuungen er nie Neigung gehabt, und die stille, aber desto innigere Zufriedenheit in seiner eigenen Familie finden – da starb sein glänzend beanlagter Bruder und ihm, dem jedes Streben nach Macht, Glanz und Prunk fern gelegen, fiel die Thronfolge zu. Und schneller, als er es gefürchtet, mußte er dieser Pflicht genügen – an jenem Märztage 1881, an welchem man seinen Vater blutüberströmt in das Winterpalais hereinbrachte, wo er nach wenigen Sekunden seinen Geist aufgab.

Mit Hingebung und unermüdlichem Arbeitseifer widmete sich Alexander III. seinem hohen Berufe; aus seiner Umgebung suchte er leichte Sitten, Heuchelei und Trägheit zu verbannen, er, der Wahrheitsliebende und Aufrichtige, von Anfang an gab er ein leuchtendes Beispiel strengen Pflichtgefühls, untadliger Lebensart, emsigsten Fleißes, und er war wahrlich nicht daran schuld, wenn es so wenig in seinem Lande befolgt wurde. Von den Sorgen und Lasten der Regierung suchte er Erholung in seiner Familie, bei seiner Gemahlin Maria Feodorowna, mit der ihn eine innige Herzensneigung verband, bei seinen Kindern, bei seinen Geschwistern. Aber die launische Glücksgöttin gönnte ihm auch dieses nicht; man weiß von den Zerwürfnissen zwischen ihm und seinem ältesten Sohne Nikolaus, sein zweiter Sohn Georg, den der Vater besonders [796] zärtlich liebte, erkrankte im blühendsten Alter unheilbar an der Schwindsucht, auch der dritte Sohn Michael soll leidend sein, und nachdem er, der Starke, Gewaltige, von dem man rühmt, daß er mit einer Hand ein ganzes eng zusammengelegtes Kartenspiel zerreißen und ein Hufeisen auseinander brechen konnte, unverletzt mehreren Attentaten entgangen war, befiel ihn die schleichende Krankheit, der er jetzt zum Opfer gefallen!

Bloß ein Alter von neunundvierzig Jahren hat er erreicht. 1845, am 10. März (den 26. Februar a. St.) kam er zur Welt. Seine Mutter Marie war, wie jetzt die Braut des neuen Zaren, eine Hessen-Darmstädtische Prinzessin. Durch den Tod seines Bruders Nikolaus wurde er am 24. April 1865 Thronfolger, und im Jahre darauf, am 9. November, vermählte er sich mit der Tochter König Christians IX. von Dänemark, Dagmar, welche beim Uebertritt zur russischen Staatskirche den Namen Maria Feodorowna erhielt und an deren Seite ihm ein reiches Eheglück beschieden war. In ihrer Heimat, am Hofe des Dänenkönigs, verbrachte er auch am liebsten die Tage der Erholung. Durch wie gewaltige Rüstungen er während seiner späteren Regierung das russische Heer auch verstärkt hat, er selbst hatte keine kriegerischen, nicht einmal soldatische Neigungen. Im Türkenkrieg des Jahres 1877 kommandierte er den linken Flügel der Donauarmee; die Eindrücke, die er auf diesem blutigen Feldzuge empfing, übten eine abschreckende Wirkung auf sein Gemüt. Wenn er trotzdem in seiner weitgehenden Freundschaft für Frankreich, in seiner Empfänglichkeit für die Ideen des Panslawismus und seinem Streben, die Macht der russischen Staatskirche über alle russischen Unterthanen auszudehnen, eine Politik betrieb, die keineswegs immer einen nur friedlichen Charakter hatte, so läßt sich dies dadurch erklären, daß er in der Verwirklichung seiner politischen Ideale die größte Garantie für die Erhaltung des Friedens nach innen und außen erblickte.

Zar Alexander III. †. Zar Nikolaus II.
Nach Aufnahmen von Levitsky und Sohn, Hofphotographen in St. Petersburg.

Die ewige Ruhe hat jetzt Alexander III. bei seinen Vorfahren in der Gruft der Peter-Pauls-Kathedrale auf jener gleichnamigen kleinen Newa-Insel, auf welcher drohende Festungswerke die äußerlich schlichte Kirche umgeben, gefunden. Den im Innern des Gotteshauses aufgestellten, von Palmen und Epheulauben umgebenen einfachen weißen Marmor–Sarkophagen der Romanoffs wird sich bald ein neuer hinzufügen, auf goldener kleiner Tafel nur die Worte zeigend: „Alexander III., Kaiser von Rußland. 1881–1894.“

Von dem Vater wenden sich die Augen zum Sohne. Am Tage nach der Trauerpost boten in den Straßen St. Petersburgs die Zeitungsverkäufer die Proklamationen des neuen Kaisers Nikolaus II. aus. Nicht nur äußerlich, auch innerlich scheint er das gerade Gegenteil des verstorbenen Kaisers zu sein. Von schmächtiger Figur, von lebhaftem Wesen, Bart und Haare blond, in den blauen Augen Lebenslust und Freundlichkeit, wenig für militärischen Pomp eingenommen, fühlt er fraglos die verantwortungsreiche Last, die ihm das Geschick verliehen, leichter und sorgloser als sein Vater. Geboren am 18. Mai 1868 zählt er jetzt sechsundzwanzig Jahre. Von vornherein zum Thronfolger bestimmt, hat er auch eine vielseitigere Erziehung als sein Vater erhalten. Sein Haupterzieher, General Bogdanowitsch, ist ein entschiedener Anhänger „westdeutscher“ Bildung. Ueber seine Neigungen, über seine Befähigung, seine sozialen und politischen Ansichten ist viel Widersprechendes in die Oeffentlichkeit gelangt. Eins ist sicher, daß Kaiser Nikolaus II. nicht eine derartige Abneigung gegen Deutschland und deutsches Wesen hegt, wie sein Vorgänger auf dem Throne sie lange Zeit gehegt hat, und zum großen Vorteile dürfte es ihm ferner gereichen, daß er sich auf einer neunmonatigen Reise um die Erde tüchtig im Auslande umgesehen und alle Kulturbestrebungen mit Interesse verfolgt hat. Wie er sein schwieriges Amt verwalten, welche Stellung er zu den übrigen europäische Reichen nehmen wird, das zu erörtern ist heute müßig und unmöglich. Möchte er, gleich seinem Vater, an der Seite des lieblichen deutschen Fürstenkindes einen festen Hort im Glück des Familienlebens finden und, wie jener von starker Friedensliebe beseelt, seines verantwortungsvollen Herrscheramtes walten; möchte es ihm ferner beschieden sein, durch segenbringende Reformen seinen Unterthanen den inneren Landesfrieden so zu begründen, daß er in der Zufriedenheit des Volks seine sichere Stütze hat!