Ein entführtes Herzogskind

Textdaten
<<< >>>
Autor: Eduard Schulte
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ein entführtes Herzogskind
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 675–679
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[675]

Ein entführtes Herzogskind.

Von Eduard Schulte.


Es war um die Zeit, da Kardinal Richelieu als Minister König Ludwigs XIII. seine Kämpfe gegen die einer machtvollen Monarchie in Frankreich widerstrebenden Elemente führte. Gar mannigfacher Art waren die Gegner. Die Familienhäupter des hohen Adels beanspruchten noch um diese Zeit dem Könige gegenüber nicht geringeren Rang und nicht geringere Rechte – vom Wahlrecht natürlich abgesehen – als im Deutschen Reiche die Kurfürsten gegenüber dem Kaiser; die Hugenotten, die Bekenner des Protestantismus, bildeten, auf ihre eigenen Festungen gestützt, einen Staat im Staate, die obersten Gerichtshöfe, die sich „Parlamente“ nannten, beschränkten sich keineswegs auf die Rechtsprechung, sondern griffen auch in die Verwaltung ein und wurden sogar amtlich als „souverän“ bezeichnet.

Zu den Führern sowohl der aufsässigen Adligen als der Hugenotten gehörte der Herzog Heinrich von Rohan, Fürst von Leon. Er war einer der angesehensten und reichsten Herren in Frankreich, seine Familie war mit Herrscherhäusern verwandt und fühlte sich selbst als Herrscherhaus; er würde keinem deutschen Landesfürsten den Vorrang eingeräumt haben. Aus seiner Ehe mit Margarete von Bethune, der Tochter des Ministers Herzog [676] von Sully, war ihm zu Ende des Jahres 1615 eine Tochter geboren worden, die wie die Mutter Margarete hieß. Mit dem König Heinrich IV. war er eng befreundet gewesen, aber von der Regierung Ludwigs XIII., der im Jahre 1610 auf Heinrich IV. folgte und bis 1643 herrschte, glaubte er sich als Fürst und Protestant benachteiligt; zwischen ihm und dem Kardinal bestand persönliche Feindschaft. Nach mehrjährigen wechselvollen Kämpfen, in denen Rohan sich wiederholt hervorthat, siegte die überlegene Macht und Staatskunst Richelieus. La Rochelle, die Hauptfestung der Hugenotten, mußte sich im Jahre 1628 ergeben, und der Herzog von Rohan flüchtete mit Gattin und Tochter nach Genf, der Mutterstadt des französischen Protestantismus. Im Jahre 1629 schloß König Ludwig mit dem Herzog einen Vertrag, wonach die im Bürgerkrieg verfügte Beschlagnahme des ungehenren, über ganz Frankreich verbreiteten Güterbesitzes der Rohans unter der Bedingung wieder aufgehoben wurde, daß der Herzog, der in Genf der französischen Grenze zu nahe schien, bis auf weiteren königlichen Befehl nach Venedig in die Verbannung gehe.

Im August kam die herzogliche Familie in Venedig an. In treuem Zusammenhalten und in einer glücklichen Häuslichkeit fand sie einen Ersatz für die Entsagungen, die das Fernsein von der Heimat ihr auferlegte.

Der Herzog hörte auch als Verbannter nicht auf, für seine Glaubensgenossen zu wirken. Er trat mit dem griechischen Patriarchen von Alexandrien, Cyrillus, in Verbindung, der eine Einigung des Protestantismus mit der griechischen Kirche plante. Im Einverständnis mit dem Herzog schlug der Patriarch dem Sultan Murad IV. vor, die Insel Cypern gegen ein Kaufgeld von 200000 Thalern und gegen einen jährlichen Tribut von 20000 Thalern an den Herzog von Rohan abzutreten; Rohan sollte König von Cypern werden und seinen Glaubensgenossen auf der Insel eine Zufluchtsstätte bieten. Der Sultan stimmte zu. Nun konnte der Herzog jene zumal für die damalige Zeit beträchtliche Geldsumme nur zahlen, wenn er einige seiner Güter veräußerte. Da er selbst sich in Frankreich nicht zeigen durfte, seine Gemahlin aber seine Verbannung nur freiwillig teilte, so kamen beide überein, daß die Herzogin, eine geschäftlicher Verhandlungen nicht unkundige Dame, statt seiner nach Paris reisen sollte, um den Verkauf der Güter ins Werk zu setzen. Daß das Ehepaar eben jetzt der Geburt eines zweiten Kindes entgegensah, bildete kein Hindernis: im Gegenteil wünschte sich die Herzogin nötigenfalls die Hilfe von Pariser Aerzten zu sichern.

Während der Reisevorbereitungen erinnerte ein der herzoglichen Familie befreundeter venetianischer Senator, der ein welterfahrener Mann war, daran, daß es geraten sei, die Geburt eines herzoglichen Kindes in Paris geheim zu halten; werde ein Knabe geboren und erfahre der Kardinal Richelieu davon, so werde dieser gewiß die Mittel finden, das Kind der elterlichen Gewalt zu entziehen, um es in dem katholischen Glaubensbekenntnis aufwachsen zu lassen; daß das künftige Oberhaupt des Hauses Rohan wie der Vater Protestant werde und vielleicht zum Führer protestantischer Gegner der Regierung erwachse, verstoße zu sehr gegen die Politik Richelieus, als daß dieser nicht seine ganze Umsicht und Rücksichtslosigkeit aufbieten werde, um es zu verhindern.

Die Ausführungen des Senators und das Gewicht seiner Gründe leuchteten dem Herzog von Rohan durchaus ein: wußte doch auch dieser sehr wohl, daß der Kardinal der unversöhnlichste und verschlagenste seiner Feinde war. Es wurde daher beschlossen, daß die Herzogin in Paris zunächst in der Verborgenheit leben sollte.

Im Oktober 1630 trat die Herzogin, von ihrer damals fast fünfzehnjährigen Tochter und einer Kammerfrau begleitet, ihre Reise an. Sie bediente sich einer Sänfte, die bald von zwei Pferden, bald von mehreren Dienern getragen wurde. Ein jüngerer Freund des Hauses, ein Marquis von Ruvigny, folgte der Sänfte in einiger Entfernung zu Pferde, begleitet von zwei bewaffneten Lakaien; in der Nähe von Paris ritt er um einige Stunden voraus. Die Vorkehrungen waren so getroffen„ daß die Herzogin spät abends in Paris ankam und im Hause der Dienerin einer vertrauten Freundin abstieg. Am 18. Dezember gab sie einem Knaben das Leben. Das Kind wurde mit seiner Wärterin der Obhut eines den Rohans bekannten Apothekers Namens Rose anvertraut, und in dessen Hause blieb es für die nächsten Jahre. Do es nicht eben kräftig zu sein schien, so taufte man es bald; es erhielt den Vornamen „Tankred“, und als sein Vatersname wurde, da man seine wirkliche Abstammung für jetzt überall verheimlichen wollte, „Le Bon“ genannt. Dem Herzog wurde in aller Stille von der Geburt seines Sohnes Kenntnis gegeben. Allen, die um die Geburt des Kindes wußten, auch der Schwester desselben, wurde strenge Verschwiegenheit anbefohlen. Die Herzogin siedelte nach einiger Zeit des Nachts in ihr Stadtschloß in einer Weise über, daß jedermann glauben mußte, sie lange eben erst von Venedig an.

Der nächste Zweck der Geheimhaltung wurde erreicht: die Geburt des jungen Rohan entging den Spähern Richelieus, die sonst fast alles in Erfahrung brachten, was für ihren Herrn zu wissen nötig oder wünschenswert war. Aber dieser Erfolg, der überdies durch Verrat oder Zufall jeden Tag vernichtet werden konnte, war teuer erkauft. Was geschah und über welche Beweismittel verfügte man, wenn nach Jahren die Zugehörigkeit des Tankred Le Bon zum herzogliche Hause Rohan in Zweifel gezogen wurde? Es war ja fraglich, ob der Same von Mißhelligkeiten, der hier gesät war, einmal aufgehen werde, aber gesät war er, und das war um so ärgerlicher, als die geschäftlichen Verhandlungen, deretwegen die Herzogin ihre Reise nach Paris überhaupt untermomme hatte, nun, da sie sich ihnen hätte widmen können, zwecklos wurden. Der Patriarch Cyrillus storb, und mit dem Tode dieses gewandten und einflußreichen Unterhändlers zerschlug sich der Plan, Cypern anzukaufen; die Pforte trat von dem Verkauf zurück.

Inzwischen eröffnete sich dem Herzog von Rohan ein anderes, ihm noch mehr zusagendes Feld seiner Thätigkeit. Richelieu, der im eigenen Lande die Protestanten hart bedrängte, beschloß, in die Kämpfe des Dreißigjährigen Krieges mit einzugreifen und die deutschen Protestanten gegen Oesterreich und Spanien, die alten Feinde Frankreichs, zu verteidigen. Der Herzog von Rohan wurde von ihm im Jahre 1631 beauftragt, unter den Schweizer Kantonen Bundesgenossen für Frankreich zu werben und später im französischen Heere ein Kommando zu führen. Trotz wechselseitigen Hasses und Mißtrauens that Richelieu diesen Schritt, um den Einfluß und die Thätigkeit Rohans wieder für den königlichen Dienst fruchtbar zu machen, und Rohan nahm den Auftrog an, weil er ja nun wieder für die Rechte seiner Glaubensgenossen eintreten konnte.

Er bewährte sich als Diplomat wie als General und erhielt in Anerkennung seiner Verdienste im Jahre 1634 die Erlaubnis, nach Paris zurückzukehren. Bei dieser Gelegenheit sah er, nachdem er Frau und Tochter begrüßt hatte, seinen damals vierjährigen Sohn zum erstenmal. Geflissentlich besuchte er ihn nur selten und immer nur im geheimen. Ihn der Verborgenheit zu entreißen, konnte er sich auch jetzt noch nicht entschließen. Zwar hatte der König bewirkt, daß Herzog und Kardinal sich vor seinen Augen zur Versöhnung die Hand reichten, aber Rohan wußte genau, daß gerade Richelieu durch solche Scenen nicht ungefährlicher wurde und daß die Gründe, den jungen Tankred vor ihm zu bewahren, nach wie vor fortbestanden.

In der That brach auch der alte Hader zwischen beiden bald wieder in hellen Flammen aus. Es kam so weit, daß Abgesandte des Kardinals, der seinen mächtigsten inländischen Gegnern früher oder später in der Regel doch den Kopf vor die Füße legen ließ, den Herzog mit Gefangennahme, wenn nicht mit Ermordung bedrohten. Rohan flüchtete auf deutsches Gebiet. Er begab sich zu seiuem Freunde, dem Herzog Bernhard von Weimar, der damals in französischem Solde stand, und kämpfte an seiner Seite. Bernhard hegte hochfligende Pläne; er hoffte, sich am Oberrhein ein eigenes Fürstentum zu gründen, und Rohan hatte die Absicht, nach dem Friedensschlusse seine Tochter Margarete mit Herzog Bernhard zu verheiraten.

Während nun der Herzog von Rohan an den Kämpfen in Süddeutschland teilnahm, traf es sich – es war im Jahre 1636 –, daß ein spanisches Heer von den Niederlanden aus in Frankreich einfiel. In der Befürchtung, daß es Paris besetzen könnte, flüchteten viele Einwohner der Hauptstadt. Die Herzogin, auf der während der Abwesenheit ihres Gemahls die Sorge um den jungen Tankred doppelt schwer lastete, fürchtete zunächst nicht für sich, aber sie beschloß, ihren Sohn weiter nach Westen hin irgendwo unterzubringen, wo er vor den Wechselfällendes Krieges sicher wäre. Der Vater [677] ihres Haushofmeisters, ein Herr von Préfontaine, besaß ein festes Schloß in der Normandie, und der Haushofmeister erbot sich, den Knaben dorthin zu schaffen. Die Herzogin hielt den Vater des Haushofmeisters für ebenso zuverlässig wie diesen selbst und nahm das Anerbieten an.

So wurde Tankred nach der Normandie gebracht und dem Herrn von Préfontaine zur Ueberwachung anvertraut. Der Herzog, mit dem die Herzogin nur unter großen Schwierigkeiten Briefe und Botschaften austauschen konnte, erklärte sich mit dieser Maßregel durchaus einverstanden.

Zu ihrer damals einundzwanzigjährigen Tochter Margarete sprach die Herzogin von der Uebersiedlung geflissentlich nicht; nach einiger Zeit erst erfuhr die Tochter davon durch eine plauderhafte Dienerin. Seit Jahren schon war Tankreds zwischen Mutter und Tochter nicht mehr Erwähnung gethan worden. Die Mutter glaubte das Geheimnis am besten gewahrt, wenn es nicht unnötigerweise erörtert wurde, die Tochter machte sich aus dem Bruder, den sie einmal in ihrem Leben gesehen hatte und der ihr also völlig entfremdet war, nicht eben viel und meinte sich etwas zu vergeben, wenn sie mehr erfragen sollte, als man ihr freiwillig mitteilte. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter war, seitdem die letztere das heiratsfähige Alter erreicht hatte, überhaupt kein sehr gutes mehr. Die Herzogin wollte in der Geselligkeit noch eine Rolle spielen, die der Tochter schon etwas unzeitgemäß erschien und die Ansprüche, welche die Tochter an das Leben stellte, gingen ins Ungemessene. Hier war der Boden auf dem die Verheimlichung Tankreds schlimme Früchte zeitigen sollte.

Wuchs Tankred als der von seinen Eltern anerkannte Sproß des Hauses Rohan auf, so würde, das wußte jedermann, das ungeheure Erbe der Familie und auch die gleichfalls beträchtliche Mitgift der Mutter ihm dereinst zufallen, während für seine Schwester Margarete nur der verhältnismäßig geringe Vermögensanteil verblieb, der in den großen Familien nach altem Brauch den Brüdern und Schwestern des Haupterben ausgesetzt zu werden pflegte. Jetzt hatte man von dem Dasein eines männlichen Erben keine Kenntnis; das Fräulein Margarete von Rohan galt als die alleinige Erbin ihrer reichen Eltern und somit als die reichste „Partie“ in Frankreich. Eine Schar von armen oder überschuldeten, verwegenen, jedem Wink der jungen Dame unbedingt dienstbaren Kavalieren drängte sich um sie. Eitel und hochfahrend, wie sie war, verspottete sie das Liebeswerben dieser Leute; sie sagte ganz offen, sie werde, wenn sie sich einmal zu einer Ehe erschließe, nur einen König oder einen Fürsten heiraten. Aber es gefiel ihr, daß jene sich zum Spielball ihrer Launen hergaben. Wie angenehm war es doch, für reich zu [678] gelten! Wer von allen diesen Herren hätte sich um ein armes Mädchen gekümmert! Wie schade, daß der Bruder lebte! Wie vorteilhaft, wenn er nie wieder auftauchte! Konnte man dem Schicksal durch zweckmäßige Maßnahmen nicht etwas in die Hände arbeiten?

Fräulein von Rohan teilte ihre Gedanken und Wünsche andeutungsweise dem oben bereits erwähnten Herrn von Ruvigny mit, der unter ihren Verehrern in erster Reihe stand. Sofort griff dieser die Idee einer Entführung Tankreds auf. Was Margarete nur schwankend in Erwägung gezogen hatte, war nach Ruvignys beredten Darlegungen eine erlaubte, ja notwendige Maßregel der Lebensklugheit. Zwei seiner Freunde, die beide als Kapitäne im Heere dienten, nahmen mit Freuden die Entführung in die Hand. Das Fräulein sagte wohl, es werde nur einen Fürsten heiraten, aber man konnte nicht wissen, wie sie sich einmal entschied. Vielleicht belohnte doch die Hand der reichen Erbin den Glücklichen, der ihr das reiche Erbe erst gesichert hatte.

Den Vorbereitungen, welche nun zur Entführung Tankreds getroffen wurden, blieb das Fräulein von Rohan ganz fern; ihre Freunde handelten für sie, ohne ihre Ruhe durch Fragen und Erörterungen zu stören. Vermöge einer Willkür und eines Mißbrauchs, die in civilisierten Ländern heute nicht mehr möglich wären, erschien einer der Kapitäne mit einer Abteilung maskierter Soldaten zu Anfang des Jahres 1638 vor dem Schlosse Préfontaine und brachte den Schloßherrn durch Drohungen und durch die Auszahlung einer beträchtlichen Summe Geldes dahin, den damals in seinem achten Lebensjahre stehenden Tankred auszuliefern. Ruvigny ließ den Knaben erst nach einem Kloster Montreuil schaffen, dessen Oberin eine Verwandte Ruvignys war, und brachte ihn darauf persönlich nach einem Schlosse bei Calais. Der andere Kapitän, ein Herr von La Sauvetat, der bei einem den Holländern zu Hilfe geschickten Regimente stand, holte das Kind von Calais wieder ab und übergab es einem Dorfschullehrer im nördlichen Holland. Herr von La Sauvetat bezahlte ein bescheidenes Pensionsgeld, das jedoch nicht aus seiner, sondern aus Fräulein von Rohans Tasche floß. Tankred wurde angewiesen, fortan auf den Namen Karl zu hören. Er mußte die Frau des Lehrers „Mutter“ nennen und wurde ganz so erzogen, unterrichtet und gekleidet wie die Dorfkinder.

Wohl sträubte sich der Knabe gegen diese Aenderungen; er sagte, er habe früher seidene Kleider und einen schönen Wagen gehabt; aber nach einigen Wochen erlahmte sein Widerstand. Daß er ein Sohn des herzoglichen Hauses Rohan war, wußte er selbst nicht. Er glich einem armen Dorfjungen, und niemand in der ganzen Provinz kümmerte sich darum, ob er das echte oder das angenommene Kind des Lehrers sei. Von einem Familiennamen, der dem Knaben zugelegt worden wäre, verlautet aus dieser Zeit nichts. Dem Lehrer war die Abstammung seines Zöglings ebenfalls unbekannt; er sah in ihm nur einen von Herrn von La Sauvetat unterhaltenen Pensionär und stellte keine weiteren Fragen.

Die Entführung Tankreds war somit glücklich gelungen; es galt nun, die Herzogin von Rohan von allen Nachforschungen ein für allemal abzubringen. Von den verbündeten Freunden des Fräuleins von Rohan angestiftet und unterwiesen, sandte Herr von Préfontaine einen seiner Söhne an die Herzogin nach Paris mit dem Vorgeben, daß Tankred plötzlich schwer erkrankt sei; sie möge unverweilt einen tüchtigen Pariser Arzt senden, der den Knaben in Behandlung nehme. Sogleich kam die Mutter dieser Aufforderung nach; in Durchkreuzung der Pläne ihrer Gegner selbst an das Krankenbett ihres Kindes zu eilen, mußte sie, wie jenen sehr wohl bekannt war, auch jetzt vermeiden, wen sie nicht das so lange mit Erfolg gehütete Geheimnis der Abstammung Tankreds gefährden wollte. Der Arzt, den sie mit der dringenden Bitte, für die Rettung des Knaben sein Möglichstes zu thun, nach der Normandie sandte, stieß unterwegs infolge der von den Verbündeten getroffenen Vorkehrungen auf einen ihm entgegen gesandten Boten des Herrn von Préfontaine: die Weiterreise sei unnötig geworden, ließ der treulose Schloßherr bestellen, denn der Knabe sei bereits verstorben. Die Richtigkeit dieser Angabe in Zweifel zu ziehen, hatte der Arzt keinen Grund, und so sparte er sich weitere Reisebeschwerden und weiteren Zeitverlust und kehrte mit der Nachricht vom Tode des Knaben nach Paris zurück. Auch die Herzogin hegte keinerlei Argwohn. Nie war ihr, wenn ihr auch ihre Tochter innerlich fern stand, der Gedanke gekommen, daß diese fähig sein könnte, ein Verbrechen gegen den eigenen Bruder anzustiften oder zu begünstigen.

Beinahe wäre jedoch die Wahrheit schon jetzt an den Tag gekommen. Ein Gerücht, welches von der Entführung Tankreds durch maskierte Soldaten ungewisse Kunde gab, drang aus der Normandie bis zur Herzogin. Sie sandte darauf einen langjährigen Diener ihres Hauses ab, um an Ort und Stelle Nachforschungen anzustellen. Aber der Diener kam mit dem Bescheide zurück, daß das Gerücht irrig sei, und daß das Kind, von dessen Entführung man fabele, im Grabe ruhe. Daß der Diener nur deshalb so aussagte, weil die verbündeten Gegner durch den täglich im Hause der Herzogin verkehrenden Herrn von Ruvigny seine Absendung erfahren und ihn bestochen hatten, das ahnte die Herzogin nicht. Ueber den in ihren Augen nun nicht mehr anzuzweifelnden Verlust des einzigen Sohnes tief betrübt, schickte sie einen Boten mit der Todesnachricht an ihren im Feldlager am Oberrhein weilenden Gemahl.

Der Herzog von Rohan hatte, bevor diese Botschaft ankam, ebenfalls von jenem Gerücht erfahren, welches von der Entführung Tankreds durch maskierte Soldaten meldete. Er schrieb darüber in großer Bestürzung an die Herzogin und erbat sich genauere Nachricht; er sei überzeugt, sagte er in dem Briefe, daß nur der Kardinal Richelieu die Entführung ins Werk gesetzt haben könne. In der That ließ ja die Verwendung von Soldaten viel eher den Schluß zu, daß die Staatsgewalt, als daß eine Vereinigung von Privatpersonen die Hand im Spiele gehabt habe. Kurz darauf traf jener Bote mit der Anzeige ein, daß Tankred an einer plötzlich ausgebrochenen Krankheit schnell gestorben sei. Der Herzog, der noch nichts Näheres wußte, verband in seinem festgewurzelten Argwohn gegen den Kardinal beide Nachrichten dahin, daß der Tod seines Sohnes ebenso wie die Entführung durch Richelieu veranlaßt sein müsse. Einige Tage später fand die Schlacht bei Rheinfelden statt, in welcher der Herzog durch zwei Schüsse schwer verwundet wurde. Auf dem Krankenbett schrieb er an seine Gemahlin noch einen kurzen Brief, worin er erklärte, der Kummer um seinen Sohn verzögere die Genesung. Als er sein Ende nahe fühlte, bestimmte er durch ein Testament, daß seine Tochter, die er ja nun für sein einziges Kind halten mußte, den ganze Besitz seines Hauses erben sollte, soweit er nicht durch ausdrückliche hausgesetzliche Bestimmungen wegen Mangels eines männlichen Nachkommen an Seitenlinien fiel. Am 13. April 1638 starb der Herzog und wurde in Genf begraben.

Des Herzogs Ueberzeugung, daß der Kardinal Richelieu in die Schicksale des Kindes eingegriffen habe, war sicherlich unbegründet, aber sie war geeignet, die Aufmerksamkeit der Herzogin von den wirklich schuldigen Personen auch fernerhin abzulenken.

Im Jahre 1641 brachte Herr von La Sauvetat den nun elfjährigen Tankred nach Leiden und übergab ihn einem Kaufmann Namens Potheuck. Fräulein von Rohan, die nun reich war, scheint jetzt ein höheres Pensiousgeld bezahlt zu haben als früher, denn Tankred besuchte die höheren Schulen in Leiden. Man plante, ihn später nach Ostindien einzuschiffen.

Inzwischen wurde Fräulein von Rohan nicht nur von einer stattlichen Schar von Freiern, denen sich ein Prinz von Savoyen und ein Prinz von Lothringen zugesellt hatten, sondern auch vom königlichen Hofe aus gedrängt, sich endlich zu einer Heirat zu entschließen. Einer der Freier, ein Herr von Chabot, erfreute sich der Fürsprache des Herzogs von Orleans und des Prinzen von Condé und auf deren Verwendung hin auch der Königin Anna und des Kardinals Mazarin, der im Jahre 1642 nach Richelieus Tode die Führung der Staatsgeschäfte übernommen hatte. Auch persönlich wußte sich Herr von Chabot bei dem Fräulein in Gunst zu setzen, und so trug er über seine fürstlichen Mitbewerber den Sieg davon. Trotz des Widerspruchs der Herzogin von Rohan, ihrer Mutter, die an dem geringen Herkommen und noch mehr an dem katholischen Glaubensbekenntnis des Herrn von Chabot Anstoß nahm, heiratete sie ihn im Juni 1645; vor der Trauung ging sie die Verpflichtung ein, die der Ehe etwa entstammenden Kinder im katholischen Glauben aufwachsen zu lassen. Der Hof zeigte sich von diesem Entschlusse sehr befriedigt, und es wurde ihr im Namen König Ludwigs XIV., der im Jahre 1643 als fünfjähriger Knabe den Thron bestiegen hatte, das Recht zugesprochen, auch als Frau den herzoglichen Titel und Namen der Rohans zu führen. Dafür grollten ihr die Protestanten; entzog sie ihnen doch durch ihre [679] Heirat die mächtige SUitze, die sie seither an dem Hause Rohan gehabt hatten.

Eine besondere Gegnerschaft aber erwuchs ihr in den Freunden ihrer früheren Tage, den Mitwissern ihrer Heimlichkeiten, den Vollstreckern ihrer stillen Wünsche. Herr von Ruvigny forderte Herrn von Chabot und wurde von ihm verwundet. Obwohl Ruvigny und seine Genossen sich durch Bekanntgeben der Entführungsgeschichte selbst bloßstellten und gefährdeten, schwiegen sie, über den Undank ihrer Dame empärt, im Kreise ihrer Vertrauten doch nicht länger, und die Hochzeitsfeierlichkeiten waren kaum zu Ende, als sich alle Welt von dem in Leiden weilenden und durch die eigene Schwester um sein Erbrecht betrogenen jungen Rohan erzählte. Auch der Herzogin-Mutter blieb diese Kunde nicht mehr verborgen.

Beide Herzoginnen von Rohan bemühten sich nun, den jungen Tankred in ihre Hände zu bekommen. Wäre er in die Gewalt der jungen Herzogin gefallen, so würde er vermutlich ins Ausland geschafft, vielleicht sogar ganz aus dem Wege geräumt worden sein. Vermöge der Verwendung besserer Rechtsmittel erlangte jedoch die Herzogin-Mutter die Auslieferung Tankreds, und noch im Jahre 1645 sah sie nach neunjähriger Trennung ihren nun fünfzehnjährigen Sohn wieder. Seine französische Muttersprache hatte er, da er seit Jahren nur Holländisch sprach, fast vergessen, sein Benehmen verriet seine bäuerische Erziehung, und in der ersten Zeit zog er die ihm gewohnte grobe Kost der feinen herzoglichen Küche vor. Aber er fand sich bald in der ihm fremden Umgebung zurecht und lernte in einigen Jahren, es seinen gleichalterigen Standesgenossen in ritterlichen Uebungen und höfischer Sitte gleichzuthun. Keinen Augenblick zweifelte die Herzogin, daß er wirklich ihr Sohn sei; er hatte nicht nur Aehnlichkeit mit dem Herzog von Rohan, sondern es wiederholte sich auch bei ihm ein Naturspiel, das jenen gekennzeichnet hatte. eine Locke seines dunklen Haares war blond.

Wesentlich anders stellte sich die Frage, ob sich gerichtlich werde erweisen lassen, daß der Ehe des herzoglichen Paares überhaupt ein Sohn entsprossen und daß der junge Mensch, der jetzt plötzlich aus Holland herbeigeholt worden war, mit dem jungen Rohan eine und dieselbe Person sei. Die Rechtsbeistände der Herzogin-Mutter verschafften sich von Personen, welche um die Geburt Tankred Le Bons, seine späteren Schicksale, seine Entführung und seinen Aufenthalt in der Fremde wußten, eine Reihe protokollarischer Aussagen, mit deren Hilfe jener Beweis geführt werben sollte; aber in dieser Reihe boten einige vorläufig noch nicht ausgefüllte Lücken Raum zu rechtlichen Zweifeln und Angriffen.

Zur Sicherung der Erbrechte Tankreds wandte sich die Herzogin-Mutter an den für die Rechtsprechung über die Hugenotten besonders gebildeten, halb aus Katholiken, halb aus Protestanten zusammengesetzten Gerichtssenat und erlangte von ihm, daß ein Familienrat einen anerkannten Vormund für Tankred einsetze. Die junge Herzogin suchte diesen ersten Schritt zur rechtlichen Anerkennung Tankreds abzuwehren; sie ließ gegen den Gerichtsbeschluß Einsprache erheben und forderte, als Prozeßgegnerin ihrer Mutter zugelassen zu werden. Zugleich reichten 80 Herren des vornehmsten katholischen Adels, Herr von Chabot an der Spitze, bei der Königin die Erklärung ein, daß sie die Abstammung Tankreds von dem herzoglichen Ehepaare für unerwiesen hielten. In diesen Kreisen wurde die Auffassung vertreten, daß die Herzogin-Mutter diesen Tankred, der ein Mensch von unbekanntem und gleichgültigem Herkommen sei, nur deshalb aus dem Dunkel auftauchen lasse und für ihren Sohn ausgebe, um sich dafür zu rächen, daß ihre Tochter sich gegen den mütterlichen Rat und Wunsch mit Herrn von Chabot verheiratet habe; ein unrechter Erbe werde hervorgezogen und als der rechte bezeichnet, damit es möglich werde, der rechten Erbin die Güter der Rohans wieder zu entreißen.

Die Herzogin-Mutter wandte sich nun ebenfalls an die Regentin und überreichte die Erklärung von 42 meist protestantischen und mit den Familien Rohan und Bethune verwandten Herren, welche die Ansprüche Tankreds für begründet hielten. Diese Namen mußten um so mehr ins Gewicht fallen, als manche dieser Herren, namentlich die Häupter der Rohanschen Seitenlinien, eher ein Interesse daran hatten, Tankreds Erbrecht beseitigt als anerkannt zu sehen; denn ihnen blieben, wenn es beseitigt wurde, diejenigen Rohanschen Güter, die nur für männliche Erben bestimmt waren und deren Besitznahme zu erstreiten Herr von Chabot, dem nur das Erbrecht der Tochter zur Seite stand, sich seit Jahren vergeblich bemühte. Eine königliche Verfügung entschied, daß ein erweiterter, durch Katholiken verstärkter Gerichtssenat über Tankreds Ansprüche befinden sollte. Der Herzogin-Mutter wurde darauf von ihren Freunden geraten, bis zur Volljährigkeit Tankreds keine weiteren Schritte zu thun, da die Gegenpartei vom königlichen Hofe unterstützt werde. Das gerichtliche Verbot, den angeblichen Sohn des Herzogs von Rohan als ihren Sohn zu bezeichnen, ließ sie unbeachtet. Mit der Volljährigkeit Tankreds sollte der Prozeß von neuem beginnen.

Für unser heutiges Rechtsbewußtsein sind diese Vorgänge, diese Eingriffe adligen und königlichen Einflusses in noch unentschiedene Rechtsfragen höchst befremdlich, ja peinlich. Heutzutage hätten sich nicht nur die Tochter und ihre Helfershelfer wegen Entführung, es hätte sich auch die Mutter wegen Fälschung des Personenstandes zu verantworten gehabt, und eine Klärung und Feststellung der Rechte eines Minderjährigen hätte weder von Gunst und Haß der Mächtigen im Lande abgehangen, noch würde sie in eine ungewisse Zukunft verschoben worden sein.

Indessen erhoben sich die von Richelieu erfolgreich niedergehaltenen Gegner des schrankenlosen Königtums in Frankreich unter Mazarin noch einmal. Im Jahre 1648 begann der unter dem Namen der „Fronde“ bekannte Bürgerkrieg, der bis 1653 dauerte. Das Parlament von Paris, das nach Richelieus Willen nur noch eine Art Registratur für königliche Befehle sein sollte, war die Seele des Widerstandes. Hatte Herr von Chabot eine königliche Verfügung zu erlangen gewußt, die den seither von seiner Gemahlin allein geführten Rohanschen Herzogstitel auch auf ihn übertrug, so weigerte sich das Parlament, diese Verfügung anzuerkennen. Aehnliche Vorgänge in großer Zahl bezeugten und steigerten den wechselseitigen Groll zwischen den Parteien im Staate. Der Hof mußte aus Paris flüchten, und die königlichen Truppen wurden von einem aus Anhängern und Verbündeten des Parlaments gebildeten Heere bekämpft.

Die alte Herzogin von Rohan ließ ihren Tankred ebenfalls in das Parlamentsheer eintreten; er nahm als Freiwilliger Dienst in einem Kavallerieregiment. Sie meinte, daß die Familientradition ihrem Sohn gebiete, gegen Mazarin zu kämpfen, wie ihr Gemahl gegen Richelieu gekämpft hatte, und sie hoffte, so das Parlament für ihren Sohn zu gewinnen, da ja der königliche Hof für ihre Gegner gewonnen war.

Allein es kam anders. Am 31. Januar 1649 fiel der Truppenteil, dem Tankred angehörte, bei Vincennes in einen feindlichen Hinterhalt. Tankred wehrte sich tapfer und ergab sich auch nicht, als er bereits verwundet war. Von neuem durch einen aus nächster Nähe abgegebenen Schuß getroffen, sank er bewußtlos vom Pferde. Die Feinde schafften ihn nach Vincennes. Als seine Verwundung und Gefangennahme in Paris bekannt wurde, sandte man einen Unterhändler, um ihn loszukaufen. Der feindliche Befehlshaber von Vincennes, ein Herr von Drouet, verweigerte nun, da ihm der Name Tankreds von Rohan genannt wurde, die Freigabe und wollte erst an den Hof berichten. Er ließ jedoch für die Pflege des Verwundeten zwei Wärterinnen kommen. Aber schon am Morgen des 1. Februar starb Tankred, wenig über achtzehn Jahre alt. Die Leiche wurde erst in der protestantischen Kirche zu Charenton beigesetzt. Dem Wunsche der Mutter, ihn in Genf neben seinem Vater zu bestatten, trat ein von dem immer noch im Knabenalter stehenden Könige Ludwig XIV. unterzeichneter Brief an den Rat der Stadt Genf entgegen. Aber im Jahre 1654 erlangte die Herzogin doch noch die Erfüllung ihres Wunsches, und als sie 1660 starb, ließ sie sich ebenfalls in Genf beerdigen, und zwar zwischen dem Herzog und Tankred. Die Inschrift, welche sie diesem auf den Grabstein hatte setzen lassen und in welcher sie ihn als echten Sohn und Erben des Herzogs von Rohan bezeichnete, mußte jedoch auf Anstiften der jungen Herzogin, die wieder den König zu gewinnen gewußt hatte, entfernt werden.

Der Tod Tankreds schnitt weitere Untersuchungen über die Frage ab, ob er wirklich der war, für den die Herzogin ihn ausgab, und gerichtlich erwiesen ist seine Abstammung nicht. Die gleichzeitig lebenden Verfasser von Geschichtswerken und Denkwürdigkeiten aber erklären ihn fast einstimmig für den echten Herzog von Rohan.