Textdaten
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Autor: Hermann Harry Schmitz
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Titel: Theater
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aus: Buch der Katastrophen. S. 103–111
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1916
Verlag: Kurt Wolff Verlag
Drucker: L. C. Wittich
Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Princeton-USA* und Commons
Kurzbeschreibung:
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[103] Theater

Es wurde Hamlet gegeben mit dem berühmten Mustang aus Wien als Gast. Das Theater war ausverkauft. Alles, was so etwas war oder etwas sein wollte, war erschienen. Man muß sich bei solchen Gelegenheiten zeigen.

Es war etwa zehn Minuten vor Beginn. In der Garderobe drängte man sich wild durcheinander, reckte mit krampfhaft vorgebeugtem Leibe Mäntel und Hüte den Garderobefrauen entgegen. Man trat sich gegenseitig auf die Füße und rieb Mitmenschen seinen nassen Regenschirm durch das Gesicht, was mancher nicht liebt. Auch war man nicht besonders erfreut, wenn sich einem in dem starken Gedränge ein Opernglas mit scharfen Kanten, das der Hintermann auf der Brust trug, wie ein schmerzhafter Stempel in den Rücken drückte. Eine alte nervöse Dame war mit ihrem gehäkelten Tuch an dem Knopf des Jacketts eines jungen Mannes hängen geblieben, was sie ganz auf das Ungeschick des jungen Mannes schob.

Man streckte die Arme mit zuckenden Händen nach der Garderobenummer. Man hatte das Bestreben, seine Sachen möglichst an den vorderen Haken untergebracht zu sehen, damit man nachher schnell wegkam. Um Gottes willen nur schleunigst wieder hinaus! Das war der Hauptgedanke, der die Pilger zum Tempel der Musen, zum Tragödienspiel des großen Briten vor allem beschäftigte.

„Wenn wir uns nachher eilen, kriegen wir noch die Elektrische um elf,“ sagte ein dicker, glatzköpfiger Herr mit [104] einem großen Hufeisen aus Brillanten auf der Deckkrawatte und einer schweren Goldkette, mit Berlockes behangen, über dem Bauch, zu einer ebenfalls korpulenten Dame in einem knallroten Seidenkleid, an welchem sie sich gerade die im Gedränge abgetretene Stoßlitze feststeckte. „Konnte der Flegel nicht aufpassen! Wir können ja auch vor Schluß im letzten Akt weggehen, dann haben wir ja auch den Mustang genug gesehen,“ meinte sie verdrießlich. „Am Schluß sind überhaupt diese Stücke immer so traurig. Ich habe wirklich keine Lust, auf die spätere Bahn zu warten.“

Damit war der Mann nicht einverstanden. Er wollte für sein gutes Geld bis zum Schluß bleiben. Er war dafür, man solle sich eilen. Man stritt sich hin und her.

Am Eingang zum Parkett stauten sich die Leute. Ein verwirrter langer Herr mit einer Brille konnte dem Schließer sein Billett nicht vorweisen. Strenge hielt ihm dieser die Hand entgegen. Der nervöse Mann suchte krampfhaft in allen Taschen. Eben habe er es noch gehabt, jener Herr dort mit dem Bart habe es gesehen.

Der Herr mit dem Bart hatte nichts gesehen. Die Leute murrten und drängten den Nervösen beiseite. Starren Blickes, hochrot im Gesicht, wühlte er an sich herum. Zigarren, Schlüssel, Zehnpfennigstücke, Taschenflöckchen, alte Trambilletts fielen ihm in der Hast zu Boden. Die Parkettkarte war unauffindbar.

Eine ältere Dame von auswärts gab dem kommenden Drama in einem Disput mit dem Logenschließer einen besonderen Auftakt. Sie hatte sich im Datum vertan. Ihr Abonnement war für eine andere Serie. Sie machte [105] selbstverständlich die Direktion und das ganze Theater und Shakespeare und Hamlet, als im Augenblick erreichbares Opfer zumal den Logenschließer verantwortlich.

Zwei würdige Frauen saßen in der zehnten Parkettreihe. Sie saßen auf Vereinsplätzen zu ermäßigtem Preise.

Frau Büllemann mit gedämpfter Stimme (man verstand auf dem zweiten Rang jedes Wort): „Sitzen da vorne in der ersten Reihe nicht Direktors, von der Ecke ab der achte und neunte Sitz?“

Ihre Nachbarin, Frau Klemmschraub, erhob sich, wie eine Henne den Kopf vorstreckend, ein wenig von ihrem Sitz: „Die dürfen natürlich nicht fehlen. Ausgerechnet in der ersten Reihe. Sie hat ja ihr grünes Kleid nicht an. Leihen Sie mir doch, bitte, mal Ihr Glas!“

Frau Büllemann schaute selbst durch ihr Opernglas nach Frau Direktor Kunkel hinüber: „Das ist das Fraisefarbene vom vergangenen Jahr. Sie hat nur einen neuen Einsatz drin!“

Frau Klemmschraub wippte vor Ungeduld mit den Beinen und nahm schließlich Frau Büllemann das Opernglas vom Gesicht weg: „Gott ist das Stehbörtchen hoch für den kurzen Hals. Das Grüne kleidet sie unbedingt besser, sie sah viel stattlicher aus. Wir sind auf Donnerstag bei Kunkels zum Diner eingeladen, Geheimrats und Majors kommen auch. Sind Sie auch eingeladen?“

„Geben Sie mir endlich mein Glas wieder,“ war die spitzige Antwort, „ich habe das Glas für mich mitgebracht.“ Sie war nämlich bei Direktor Kunkel nicht eingeladen.

[106] Zwei krampfhafte junge Herren im Smoking standen aufrecht an ihren Sitzen und grüßten ostentativ im Theater herum.

Zwei Backfische mit Schneckenfrisuren und weißen Batistkleidern unterhielten sich tuschelnd und mit roten Köpfen über die himmlischen Beine Mustangs und die diskreten Gerüchte, die so in der Stadt gingen über den lockeren Lebenswandel des Künstlers. Dabei aßen sie aus einer Tüte Pralines.

Klempnermeister und Hausbesitzer Knötel Plötz saß mit seiner Frau Vaseline auf dem zweiten Rang, sonntagsangezogen. Herr Knötel Plötz war unzufrieden und nörgelte, daß er viel lieber mit seinem Stammtisch den Ausflug nach Königswinter gemacht hätte, als hier drei Stunden in der Hitze und im Dunkeln zu sitzen. Es wäre das letztemal, daß er auf ein Abonnement hereingefallen sei. Immer, wenn es einem nicht passe, müsse man ins Theater. Er redete sich immer mehr in die Wut: „Hamlet, Hamlet, was geht mich denn verdammt der Hamlet an. Sicher nichts zum Lachen!“

Vaseline hatte literarische Interessen. Sie las in der Leihbibliothek, und das Theater ging ihr über alles. Dieses Unverständnis ihres Gatten machte ihr viel Kummer. Sie hatte auch zwei Jahre Klavierstunden gehabt.

Sie verwies den Schimpfenden mit vorwurfsvollen Worten: „Schäme dich, Knötel. Wenn es jemand hört. Das Stück ist doch von Schiller. Du blamierst dich und mich. Außerdem sind Kirschkamps auch abonniert.“

[107] Auf dem ersten Rang erschien plötzlich eine elegante junge Dame mit einem Reihertuff auf dem Kopf. Sie sah sehr vornehm aus. Niemand kannte sie. Man verrenkte sich die Hälse, und die Operngläser wurden weißglühend. Ein Herr mit Schmissen im Gesicht reckte sich weit über die Brüstung, um die fremde Erscheinung genau zu sehen. Sein Kneifer fiel ins Parkett. Dann erschienen auf den vornehmsten Plätzen des Balkons Herr Geheimrat Talglicht Donnerkuhle mit seiner Gattin und acht Töchtern.

Das ganze Publikum war sichtlich erregt. Wer war die Dame mit dem Reihertuff?

Es klingelte zum zweiten Male. Im Parkett schoben sich noch zitternd und völlig konfus einige weltfremde Frauen und Männer hin und her in den Reihen. Sie konnten ihre Plätze nicht finden. Die Reihen erhoben sich, um die irren Suchenden durchzulassen, setzten sich und erhoben sich wieder, da die Unglückseligen ihre Nummer in dieser Reihe nicht fanden. Man murrte schon und blieb feindlich sitzen mit spitzen, vorgedrängten Knien. Beim Niederklappen klemmte man hie und da seinem Nachbarn den Rockschoß oder der Nachbarin die Volants ein. Das wurde dann sachlich erörtert. Manche vergaßen beim Niedersitzen den Sitz herunterzuklappen und setzten sich unfreiwillig zu tief.

Es klingelte zum dritten Male, und der Vorhang hob sich.

Die Terrasse auf dem Schloß in Helsingör. Bernardo sprach mit dem Posten. Auftritt von Horatio und Marcellus.

[108] An der Tür ins Parkett plötzliches Stimmengewirr und Drängeln. Ein Herr stürzte in den verdunkelten Zuschauerraum, über Läufer und Stufen stolpernd. Er kaute an einem Schinkenbrot. Er hatte im Theaterrestaurant das Klingelzeichen überhört.

Horatio und Marcellus fanden nur geringes Interesse, alles wandte sich dem verspäteten Besucher zu. Man machte: „Psst, psssst! – Unglaublich, unverschämt!“ hieß es. Es dauerte eine Weile, bis sich die Unruhe gelegt hatte.

„Ist das Mustang?“ flüsterten die Backfische. Es war natürlich Horatio. Sie versuchten Aufklärung im Programm zu finden. Das Rascheln mit dem Programm hatte unwillige Strafblicke der Umsitzenden zur Folge.

Der Vorhang fiel über dem ersten Akt. Hamlets Worte:

„Die Zeit ist aus den Fugen: Fluch zu denken,
Daß ich geboren ward, sie einzurenken!“

klangen noch nach.

„Ich verstehe es wirklich nicht von Kunkels, daß sie bei ihren Gesellschaften immer das Porzellan und selbst das Besteck vom Traiteur geben. Ob sie kein Silber haben?“ meinte Frau Klemmschraub im Anschluß an die Worte Hamlets.

„Es ist sehr angenehm, bei Kunkels zu verkehren. Man kommt auf zwanglose Weise mit den Ersten der Stadt zusammen,“ sagte Frau Büllemann.

„Goldig, süß, einfach ganz herziglieb ist doch der Mustang,“ schwärmten die Backfische. „Gib mir jetzt die Tüte, du ißt mir alle Pralines,“ sagte die eine entrüstet.

[109] „Musik scheint bei dem Stück nicht zu sein,“ fiel es irgend jemand auf.

Viele hatten es herausbekommen, wer nun eigentlich der Hamlet war. Sie waren stolz und sagten es den Nachbarn.

Der zweite Akt.

Der dicke Herr, der mit der Elfuhr-Elektrischen fahren wollte, jagte mit beiden Händen in den Taschen aufgeregt herum. Es war ihm plötzlich unklar geworden, wo er die Garderobenummer hatte. Erst strich er vorsichtig an sich herum, damit es niemand merkte. Seine Unruhe teilte sich seiner Gattin mit. Nach vergeblichem Suchen stierte er wie irr ins Leere und grub dabei mit Zeigefinger und Daumen in der Westentasche. Platznachbarn interessierten sich für ihn.

„Mustang hat gute Momente, aber er müßte sich mehr in das Ensemblespiel einpassen,“ sagte Doktor Sodbrand vom „Journal“ zum Kritiker der „Volksstimme“ nach Schluß des zweiten Aktes. „Dann möchte ich den Hamlet nicht so bewußt. Mustang ist begabt ohne Zweifel.“ Sie sprachen noch Tiefes und Feingeistiges über das Spiel.

Nach dem dritten Akt war die große Pause. Man stürmte das Büfett im Foyer. Aller Sehnsucht lag in einem belegten Brot und einem Fläschchen Tafelbier.

„Ttja, tja, tja, eine ordentliche Arbeit, das alles auswendig zu lernen,“ bemerkte ein Oberlehrer.

Ein dicker, unsympathischer Herr mit Borstenwarzen im Gesicht und einer Sattelnase entrüstete sich, daß man noch immer solche Stücke spiele. Es wäre eine Schmach, [110] wo man Kunstwerke, wie „Das weiße Rößl“ und manche gute pikante Ehekomödie zur Verfügung habe.

Der vierte Akt begann.

„Stabeisen steigt wieder. Die Preise ziehen ganz bedeutend an. Haben Sie abgeschlossen?“ wandte sich ziemlich laut ein gut genährter Herr mir gekreuzten Hämmerchen auf der Deckkrawatte an einen neben ihm stehenden Herrn, der angenehm nach Havannazigarren duftete und auch Hämmerchen, aber an der Uhrkette, trug.

„Ja, aber Kupfer ist flau. Die London-Notiz ist 56 £ 12 S 6 d, 6 Monate 57 £ 2 S 6 d. Ich konnte wegen des verflixten Theaters die Schlußnotierung nicht abwarten. Ich werde nie wieder abonnieren.“

Einige schüchterne „pssst“ wiesen sie zur Ruhe.

Die Backfische fanden, daß Horatio X-Beine hatte.

Die Ophelia vom vergangenen Jahre wäre schöner gewesen, nörgelten die krampfhaften jungen Herren. Man verhandelte leise hier und da, wohin man nach der Vorstellung gehen wollte.

Fortinbras, der Prinz von Norwegen, hatte kaum sein letztes Wort im letzten Akt gesprochen, als der größte Teil des Publikums auch schon nervös aufsprang und, während der Vorhang noch fiel, hinausdrängte.

Theatereleven, Freibillettler, enthusiasmierte Backfische klatschten. Man rief nach Mustang. Er konnte sich mehrere Male zeigen. Das war viel interessanter als das Stück.

Man machte beim Herausgehen seine Bemerkungen. „Interessant ist es doch eigentlich nur in Premieren, wo man pfeifen kann. So was wie Hamlet ist schon schlimm. [111] Man darf nichts sagen, weil der Dichter so berühmt ist. Man würde sich blamieren. Aber bei einem jungen modernen Dichter, der noch lebt und in der Schule noch nicht gelehrt wird, darf man noch seine eigene Kritik haben. Da braucht man sich nichts gefallen zu lassen,“ – reflektierte ein Ehrlicher.

„Endlich kann man sich eine Zigarre anstecken,“ sagte erleichtert der Herr mit den Hämmerchen auf der Krawatte, als er die Freitreppe des Theaters hinabstieg.

„Man sollte sich eigentlich wirklich so was nicht ansehen und sein Billett der Köchin schenken. Man erlebt doch, weiß Gott, genug Trauriges. Gestern noch sah ich, wie eine alte Frau von der Elektrischen stürzte und vorige Woche, wie einem Briefträger ein Geraniumtopf aus der vierten Etage auf den Kopf fiel,“ – gab ein behaglicher Herr, der von seinen Renten lebte, kund.

Das Theater lag nach einer Viertelstunde still und dunkel. Dem Logenschließer fehlten drei Operngläser, die er verliehen hatte.