Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte

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Autor: Karl Lamprecht
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Titel: Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Erstes Hauptstück: Politik als Staatskunst und Wissenschaft, Abschnitt 5, S. 19−33
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[19]
5. Abschnitt.


Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte.
Von
Geh. Hofrat Dr. Karl Lamprecht, LL. D.,
o. Professor der Geschichte an der Universität Leipzig.


Einleitung. Bearbeiten

Die Geschichtswissenschaft findet immer mehr den Drehpunkt ihrer Methoden in der Psychologie, Erkenntnis der seelischen Entwicklung der Menschen wird zu ihrem eigentlichen Ziele, und je mehr die vergleichenden Methoden auf der Basis entwicklungsgeschichtlicher Anschauungen vorwärtsschreiten, um so mehr wird dieses Ziel gesichtet. Gegenüber dieser Vorwärtsbewegung tritt die frühere historische Anschauung, welche den Staat als den Mittelpunkt alles historischen Interesses erachtete, immer mehr zurück. Äusserlich kann der Prozess in der Umwertung der einzelnen [20] historischen Disziplinen dahin verfolgt werden, dass sich die Stellung der Kulturgeschichte immer selbständiger gestaltet, während die politische Geschichte als eine der Teildisziplinen historischer Wissenschaft neben die Disziplinen der Literaturgeschichte, der Kunstgeschichte, der Wirtschafts- und Sozialgeschichte tritt. Im folgenden soll der Versuch gemacht werden, vom psychologischen Standpunkte aus die Entwicklung der Staatskunst, wie sie ja schliesslich innerste Seele der Entwicklung jedes Staatswesens ist, zu schildern und dabei vornehmlich die typischen Formen hervorzuheben. Geschieht das an der Hand der deutschen Entwicklung, so ist hierfür das Streben nach stärkerer Veranschaulichung nur sekundär massgebend. Vor allem bleibt zu bedenken, dass die bisherigen Forschungen bezw. Umwertungen bekannter Daten noch nicht soweit fortgeschritten sind, um ein allgemein befriedigendes Bild jeglicher politischen Entwicklung, sei es in der Darstellung von Entwicklungsformen, sei es in der Darstellung der Entwicklung von politischen Zeitaltern, zu gestatten.

I. Die Demokratie der Urzeit. Bearbeiten

Will man den Staat, den uns Caesar und Tacitus schildern, wirklich verstehen, so muss man zunächst den historischen Moment zu fixieren suchen, in dem sich die Entwicklung dieses Staatswesens zu eben der Zeit befand, da die Römer ihn beschreiben. Als von vornherein für diesen Staat charakteristisch ergibt sich da schon äusserlich, dass er sehr bald darauf, in der Zeit vom 2.–4. Jahrhundert etwa, zugrunde gegangen ist, und zwar nicht bloss durch äussere Ereignisse, sondern noch mehr durch innerliches Absterben, wie es der Übergang der deutschen Stämme zum Stammesherzogtum und zu verwandten Formen bezeugt. Der Staat des Caesar und Tacitus ist also keine junge Bildung, sondern stellt vielmehr den Abschluss einer längeren Entwicklung dar, deren Anfange wir freilich chronologisch zu fixieren nicht in der Lage sind. Zieht man aber die innere Struktur des germanischen Staates heran, so ergibt sich leicht, dass in ihm schon zwei grosse Verfassungstendenzen verwirklicht sind, nämlich einmal die einer primitiven Geschlechterverfassung, und daneben die einer militärischen Umbildung der mit der Geschlechterverfassung gegebenen Elemente. Das jüngere Element ist dabei also der speziell militärische Charakter, das Aufkommen derjenigen Motive, welche sich mit kriegerischen Wanderungen einstellen mussten, und derjenigen Erscheinungen, welche, wie z. B. das Gefolge, aus der Differenzierung nomadischer und auch schon primitiver agrarischer Verhältnisse in arm und reich ihren Ursprung nehmen konnten. Hält man diese beiden Elemente der Verfassung des 1. Jahrhunderts vor und nach Christus auseinander, so gelingt wohl auch noch ein Rückblick in die Zustände vor der militärischen Umbildung, und von ihm wird bei der Entwicklung der praktischen Politik und Staatskunst in der deutschen Geschichte auszugehen sein.

Was man unter diesen Voraussetzungen als ursprünglich bei den Germanen vorfindet, kann man wohl am besten als urzeitliche Demokratie bezeichnen. Wir sehen da eine Reihe von Geschlechtern, deren jedes, zunächst selbständig neben dem anderen stehend, seine eigene innere Verfassung hat. Diese Verfassung hat zwei Pole. Einmal die Autorität des Ältesten oder Häuptlings. Andererseits die absolut gleichwertige Stellung der einzelnen dem Geschlechte angehörigen Individuen, soweit sie männlich und erwachsen sind. Auf diesen Momenten ist der Hauptsache nach die Geschlechterverfassung mit ihrem primitiven Erbrecht, Vormundschaftsrecht und vor allem mehr moralischen Verfügungsrecht über die einzelnen Personen innerhalb des Geschlechts überhaupt aufgebaut. Über den Geschlechtern aber erhebt sich der Staat noch ganz deutlich als eine aus den Geschlechtern hervorgegangene Bildung, die sich zu den Geschlechtern etwa verhält, wie komposite Pflanzenblüten zu einfachen Blütenformen. Es ist auch noch deutlich zu erkennen, welches die Motive zu der Entwicklung der kompositen Bildung gewesen sind. Hauptsächlich kommen hier die Möglichkeiten des Streites zwischen Individuen oder mehr kompakten Massen der einzelnen Geschlechter in Betracht, wie sie vor allen Dingen in der Blutrache in Erscheinung traten. In diesem Zusammenhang konnte es bekanntlich vorkommen und ist es in späteren Zeiten noch häufig genug geschehen, dass der Totschlag eines Mannes aus der Sippe A zu einer Fehde dieser Sippe gegen jedes beliebige Exemplar des männlichen Bestandes der Sippe B führen konnte, worauf dann die [21] Mannschaft der Sippe B in die gleiche Fehde gegenüber der Sippe A eintrat: – ein Vorgang, der Vernichtung der beiderseitigen Geschlechter führen konnte. Es ist also zunächst das Motiv der Selbsterhaltung, welches zur innerlichen Bindung der einzelnen Geschlechter aneinander in dem Sinne führte, dass eine Form gefunden wurde, die eine gegenseitige Selbstvernichtung zu verhindern geeignet war. Diese Form mag anfangs die der schiedsrichterlichen Vermittlung der Gesamtheit aller Geschlechter in einem bestimmten Verbande gewesen sein. In der taciteischen Zeit ist diese Vermittlungstätigkeit aber schon längst einem als strafrechtlich zu charakterisierenden Verfahren gewichen, so dass sich für deutsche Verhältnisse mit voller Sicherheit behaupten lässt, dass der eigentliche Staat aus der primitiven Geschlechterverfassung durch die Entwicklung strafrechtlicher Formen hervorgegangen sei. Indem nun aber zunächst für diese wichtigste aller internen Angelegenheiten, die Friedensstiftung, die damit zu dem Urzweck des Staates auf germanischem Boden wurde, allmählich weitere Zwecke gegenseitigen Zusammenlebens traten, musste sich die ursprüngliche Versammlung aller Geschlechter, in der über die Niederlegung der Fehde zwischen den Geschlechtern beraten wurde, zu einer allgemeinen Staatsversammlung erweitern, dem bekannten Concilium civitatis, in welchem nunmehr der neue Staat in den Personen aller ihm Angehörigen direkt in sinnliche Erscheinung trat.

Wird man geneigt sein, nach diesem letzten und höchsten Moment der Entwicklung den urzeitlichen Staat nach den hergebrachten aristotelischen Kategorien als Demokratie zu bezeichnen, so ist doch eine zutreffende und allumfassende Charakteristik dieser Staatsbildung nur möglich, wenn man auf den Charakter des besonderen Seelenlebens zurückgeht, in dem sich seine Angehörigen befanden. Das Entscheidende ist hier, dass die Differenzierung der einzelnen Personen nach Willenstätigkeit und Eindrucksfähigkeit, nach Kenntnis und Verständnis noch so wenig vorgeschritten war, dass sich aus der für alle einheitlichen psychologischen Gesamtlage ein Zustand ergab, in dem es noch möglich war, die einzelnen Personen, sowohl in dem Recht des Geschlechts wie staatsrechtlich, als fungibel zu betrachten. Dies aber ist nun, soweit man bisher zu sehen vermag, die allgemeine Voraussetzung aller urzeitlichen Staatsformen. Ist damit die psychologische Grundlage einer primitiven Staatsentwicklung, in der ganz allgemein weniger von Staatskunst als von unbewusstem Staatswerden die Rede sein kann, aufgedeckt, so ist über ihren Charakter noch einiges hinzuzufügen. Die nachgewiesene typische Grundlage des Seelenlebens verhindert nicht etwa, dass sich im Bereiche der Kulturen, für die sie gilt, bestimmte Persönlichkeiten herausbilden konnten bis zur von sehr verschiedener Komplexion des Temperaments und von sehr verschiedener Höhe des Intellekts. Das Charakteristische ist nur, dass diese Verschiedenheit bei der allgemeinen Gleichheit der kulturellen Voraussetzungen, wie sie in dem äusseren Gesamtleben, in wirtschaftlichem und sozialem Status etc. gegeben waren, in den gemeinsamen Verfassungsformen nicht zum Ausdruck gelangten.

II. Urzeitlicher Absolutismus. Bearbeiten

Die ersten grundstürzenden Wandlungen in dem eben geschilderten Zustande vollzogen sich auf deutschem Gebiete wohl dadurch, dass eine Reihe ursprünglich in dieser Weise nicht vorhandener kriegerischer Motive auftraten. Dahin gehört, wie schon oben angedeutet, die Entwicklung des Gefolges, weiterhin der Aufruf zu mehr oder minder regelrechten Beutezügen und die grosse Zahl derjenigen Erscheinungen, welche auf kriegerische Wanderungen hinweisen. Hiernach könnte man geneigt sein, das Auftreten dieser Motive auf Wanderung überhaupt zurückzuführen. Indes dies wäre doch wohl eine zu äusserliche Lösung. Zu Grunde liegt all den Erscheinungen vielmehr die Entwicklung einer spezifischen Haltung der Unterordnung, wie man es vielleicht auch schon ausdrücken könnte, des Dienstes. Ein solcher Begriff als soziales und politisches Motiv kann sich natürlich nur in einer Kultur eingestellt haben, welche auf irgend eine Weise den Gedanken der Unterordnung überhaupt schon zu entwickeln im Begriff war. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob dies auf deutschem Gebiete durch eine Fortentwicklung des Wirtschaftslebens, sei es auf nomadischer oder agrarischer Grundlage oder sonst irgendwie geschah. Soviel ist aber klar, dass mit der regulären Entwicklung des Begriffs der Unterordnung zugleich eine starke psychologische Wandlung vor sich gehen musste. Es gab jetzt ganz anders als früher die Vorstellung von Befehlen und [22] Gehorchen und dementsprechend eine vorwärtsschreitende Wiliensdisziplin; es gab weiterhin eine differenzierte Tätigkeit der Männer auf den höchsten Lebensgebieten und damit eine Schärfung des Intellektes für besondere Fälle. Dies alles lässt in den eben geschilderten Vorgängen die Anfänge eines neuen psychologischen Zeitalters erblicken, das dann in seiner Fortbildung etwa während des ersten Jahrtausends unserer Geschichte auch eine ganz neue Staatsform, die Form, die ich als urzeitlichen Absolutismus bezeichnen möchte, gezeitigt hat.

In seinen ersten wenig entwickelten Arten kommt dieser Absolutismus in der Form des Heereskönigtums und der daraus hervorgehenden Bildungen schon in den nächsten Jahrhunderten vor und nach Christus vor. Wir sehen, wie bald hier, bald dort sich ein hervorragender Held erhebt, in irgend einer Weise Führer seiner Völkerschaft und das heisst also einer urzeitlichen Demokratie wird, wie er dann diese Führung zu Eroberungen ausnutzt und, sei es daheim oder in der Fremde, ein Reich gründet. Dieses Reich entbehrt freilich noch jeder inneren organischen Durchbildung, – man denke z. B. an das Reich Marobods – es besteht vielmehr regelmässig nur in der Agglomeration einer Anzahl völkerschaftlicher Staaten, die dem Gesamtherrscher für Tribute an Gut, gelegentlich auch zur Erhaltung einer grösseren Heeresmasse an Blut verantwortlich gemacht werden. In dieser rein mechanischen Komplikation dieser Reiche liegt es begründet, dass sie eigentlich niemals einen längeren Bestand gehabt haben. Der Regel nach nur von der Person des Herrschers, manchmal sogar noch von del äusserlicheren vorübergehenden Zuständen abhängig treten sie auf, nehmen gelegentlich binnen kurzem einen ungeheuren Umfang an, wie z. B. eben das Reich Marobods, und verschwinden dann ebenso rasch wieder mit der Person ihres Herrschers. Es sind dies Zustände, die wir bei den slavischen Völkerschaften noch im 10.–11. Jahrhundert vorfinden und die in dieser Zeit namentlich von polnischer Seite her in die Entwicklung der deutschen Geschichte gelegentlich beunruhigend eingegriffen haben.

Ganz anders verlaufen derartige Bildungen bei den Germanen, wie sie denn die Erscheinungen schon einer stärkeren psychologischen Differenzierung und damit die Möglichkeit einer Unterordnung der führenden Männer unter einen obersten Herrscher voraussetzen, seit der Zeit, wo sich mit ihnen namentlich auch durch ihr Übergreifen auf die Provinzen des römischen Kaiserreiches eine starke Sesshaftigkeit der Bevölkerung und der Versuch einer freilich noch sehr ursprünglichen gemeinsamen Verwaltung verbindet. Dies ist das Neue an dem urzeitlichen Absolutismus der Staaten der Völkerwanderung, vornehmlich der Monarchie der Merovinger.

Das Moment, welches in der Monarchie der Merovinger hinzukommt, ist an erster Stelle das der vollendeten Sesshaftigkeit. Indem die in der merovingischen Monarchie vereinigten Völkerschaften und Stämme sich verheimatlichen, werden bei ihnen eine ganze Reihe neuer sittlicher und wirtschaftlicher Zusammenhänge wach. Die definitive Niederlassung in Dörfern ergibt allmählich, mögen die ursprünglichen Wirtschaftsformen noch so kommunistisch und sozialistisch gewesen sein, dennoch den Anfang einer Individualisierung im Wirtschaftsleben, welche den Einzelnen in Lebensfürsorge und Genuss freier hinstellt als bisher; welche ermöglicht, dass die Gegensätze von arm und reich in einer bis dahin schwerlich vorhandenen Grösse und Konsistenz durch die Abfolge der Generationen hin hervortreten; und welche dadurch soziale Motive von äusserster Wichtigkeit in die Fortbildung der Bevölkerung hineinwirft. Gleichzeitig mit diesen wirtschaftlichen Folgen tritt hier schon seit früher Zeit, z. B. schon in den Vicini des Salischen Rechts stark betont, der Begriff der Nachbarschaft auf, des lokalen, zunächst durch die Wirtschaftsverfassung in weiterem Sinne, aber bald auch durch eine Gemeinbürgschaft gegebenen Zusammenhangs. Das Ergebnis der Wirkung dieser neuen Kräfte war natürlich zunächst die Zerstörung der älteren Organisationsform. Die Geschlechtsverfassung, ursprünglich nur rein personal konstruiert und damit die Persönlichkeiten absolut gleichmässig bindend, weicht der Markgenossenschaft, die ihr gegenüber selbst in ihren rohesten Verfassungsformen ein grösseres Mass von Verfassungsfreiheit bedeutet. Mit dem Ruin der alten Geschlechtsverfassung schwindet dann auch der komposite Staat, der Völkerschaftsstaat der Urzeit dahin; wir sehen, wie seine Beamten schon in den ältesten Bestimmungen der Lex Salica kaum noch vorkommen. Aber andererseits wachsen aus dieser sich wandeln den Welt die Keime neuer politischer Verhältnisse hervor. Es sind im wesentlichen zwei: aus dem räumlichen Motiv ergibt sich der Lokalverband und damit die Möglichkeit einer Auswirkung der [23] Staatsgewalt von oben her durch grössere oder kleinere Bezirksverbände bis hinunter in lokale Verhältnisse. Auf der anderen Seite, aus den persönlichen wirtschaftlich-sozialen Motiven, erwächst eine starke Differenzierung des Vermögens der Einzelnen auf agrarischem Gebiete und damit das Bildungsmotiv eines neuen agrarischen Adels. Die Merovinger haben nun mit diesen Motiven gearbeitet. Wir können sehen, wie sie den neuen Adel begünstigen, und wie sie ihn durch ein altes Motiv des urzeitlichen Absolutismus, den Begriff des Dienstes und der Gefolgschaft an sich binden, wie sie auf diese Weise eine Klasse höher stehender Volksgenossen als Organe einer überall durchgreifend gedachten Verwaltung, der Grafen-Verwaltung, entwickeln, und wie sie sogar die neuen sich eben bildenden Lokalverbände in der Decretio Chlotarii et Childeberti ihrem Staate dienstbar zu machen suchen. Es sind das Richtungen der Entwicklung, die es zugleich gestatten, das alte Ziel des germanischen Staates, die Wahrung des Friedens, nun weit hinweg über die früheren kleinen Völkerschaftsgebiete auf ein grosses Reich zu erstrecken. Und mehr noch, indem in den Staat der Merovinger das Christentum einzieht, wird das Staatsideal gelegentlich auch schon auf Zwecke der persönlichen und sozialen Fürsorge erweitert. Freilich handelt es sich in dieser Hinsicht mehr um eine persönliche Tätigkeit der Könige, mehr um einen Ausfluss gleichsam eines individuellen Christentums in Angliederung an die uralte Verpflichtung der Herrschenden, im Haus Milde (Freigebigkeit) zu üben, so dass sich im ganzen und grossen das Staatsideal doch auf Friedenswahrung vornehmlich vermöge einer stark durchgreifenden Rechtspflege beschränkt sieht.

Schaut man über die merovingischen Zeiten hinweg hinein in das Reich der Karolinger, so kann man eigentlich nicht sagen, dass für die interne Entwicklung zu den merovingischen Zielen neue hinzugekommen wären. Nach aussen freilich tritt das Ideal der Kaiserkrone hinzu, und von ihm aus ergeben sich auch starke Reflexe auf das innere Verfassungsleben. Im ganzen aber sind die Ziele die alten, und nur dies unterscheidet das Zeitalter des neuen, anfangs ungemein kräftigen Herrschergeschlechts, dass sie mit grösserer Sicherheit durchgeführt werden. Inzwischen aber war schon eine neue Staatsverfassung im Anzuge:

III. Der Lehensstaat des Mittelalters. Bearbeiten

Der Lehensstaat ist bekanntlich eine weit über die ganze Erde hin verbreitete Verfassungsform, die ganz regelmässig in naturalwirtschaftlichen Zeiten auftritt, wenn wir zunächst einmal die Datierung von der wirtschaftsgeschichtlichen Seite hernehmen wollen. Der Zusammenhang ist hier sehr einfach. Entsteht in urzeitlichen Staaten, mögen sie noch reiner Demokratie oder auch urzeitlichem Absolutismus angehören, mit zunehmender Sesshaftigkeit und zunehmender Entwicklung der Naturalwirtschaft das Bedürfnis steigender Friedenswirtschaft und Staatsverwaltung, so können in einem solchen Zustande, da Grund und Boden das einzig vorhandene wirtschaftliche Machtmittel ist, die Beamten nicht in Geld, sondern sie müssen in Erträgnissen von Grund und Boden bezahlt werden. Hieraus entsteht dann eine besondere Form relativer Unabhängigkeit der Beamten, denn während der geldwirtschaftlich bezahlte Beamte immer von dem Erfliessen seines Gehaltes von einer bestimmten Zentralkasse abhängig bleibt, ist der naturalwirtschaftlich besoldete im Besitze des Grundes und Bodens, dessen Erträgnisse ihm als Gehalt dienen, und verfügt damit, geldwirtschaftlich ausgedrückt, gleichsam über das Kapital, als dessen Zinsen sein Gehalt erscheint. Diese Stärke gibt ihm eine verhältnismässig grosse Freiheit. Allerdings lassen sich lehensstaatliche Verhältnisse auch noch anders entwickelt denken. Namentlich in späteren Stadien des Lehenswesens, bei Beginn der Geldwirtschaft, kann es vorkommen, dass zahlreiche Lehen auf Geld eintreten. Dieser Fall, wie eine ganze Reihe anderer hier nicht zu erwähnender Indizien, ergibt nun schon, dass es sich bei dem Lehenswesen allerdings vornehmlich um eine naturalwirtschaftliche Erscheinung handelt, dass das naturalwirtschaftliche Motiv aber an sich das Wesen des Lehenswesens noch nicht deckt. Vielmehr tritt als eigentlich charakteristisch ein psychologisches Motiv auf, das der Treubindung. Der Fall ist deshalb in so hohem Grade interessant, weil uns die Quellen für die Lehenszeit zum ersten Male stark genug fliessen, um eine unbedingt sichere Verbindung zwischen den höheren psychologischen Motiven und der Entwicklung der staatlichen [24] Form aufzudecken. Man weiss, dass das Lehenswesen erst dadurch vollständig wird, dass sich mit der Übertragung von Grund und Boden an den belehnten Beamten seinerseits ein besonderer Eid gegenüber der Regierungsgewalt, in den meisten Fällen dem Herrscher, verknüpft. Diese Konstruktion ist insofern eigentümlich, als wir hier für ein wichtiges Verhältnis des Staatsrechts ein durchaus sittliches Motiv, das des Treugelöbnisses, eingespannt finden. Das Rätsel löst sich durch einen Blick auf die Sittengeschichte. Wir befinden uns in einer Zeit psychologischer Entwicklung, die man als typisches Zeitalter bezeichnen kann, und in der die heutigen scharfen Gegensätze zwischen Sitte und Recht noch nicht bestehen, vielmehr alle sittlichen Begriffe noch so gebunden erscheinen, dass ihnen in bezug auf die beiden Personen, welche bei ihnen jeweils in Frage kommen, der Zwang der Reziprozität, ja der vertragsmässigen Gegenseitigkeit innewohnt. In einem Zeitalter von einer solchen Gebundenheit der sittlichen Begriffe versteht es sich ohne weiteres, dass einer dieser Begriffe, der der Treue, direkt in den Mittelpunkt und das eigentliche Herz der staatlichen Entwicklung und Konstruktion des öffentlichen Rechts treten kann, derart, dass er für den ganzen Staat dieser Zeit das eigentlich Charakteristische ist.

Freilich werden wir später sehen, dass diese Erscheinung, die auf den ersten Blick befremdend wirken kann, doch keineswegs eine Ausnahmeerscheinung ist. Immer und überall ist der Staat nichts, als die soziale Reflexbildung des besondern Charakters der jeweils vorhandenen psychologischen Persönlichkeit des Einzellebens.

Der reguläre Lehensstaat ist in Europa am besten in den westlichen Staaten entwickelt worden. Hier vereinigten sich Landübertragung und Treueid im Bereiche verhältnismässig kleiner Herrschaften zu einer teilweise überaus wohlgegliederten, architektonisch von unten her das Ganze bis oben hin umfassenden Form, sodass wenigstens in der Rechtstheorie der Satz „nulle terre sans seigneur“ ausgebildet werden konnte. Tritt damit hier der mittelalterliche Staat in vollendeter Form auf, so ist dafür wohl vor allem die Kleinheit der Staatswesen, die sich bildeten, von Bedeutung gewesen. Mit der Lehensverwaltung lassen sich weit ausgedehnte Territorien nur sehr schwer beherrschen, denn die für eine solche Herrschaft notwendigen Verkehrsmittel und namentlich die Regelmässigkeit der Wirksamkeit solcher Mittel ist naturalwirtschaftlichen Zeiten im allgemeinen versagt. Mit dieser regulären und glücklichen Fortbildung der mittelalterlichen Staatsform hängt es zusammen, dass die westlichen Staaten Europas denn auch einen sehr ruhigen und glücklichen Übergang zu der absoluten Monarchie des 15.–18. Jahrhunderts erlebt haben. Der absolute Staat dieser Zeit stellt sich zu dem Lehensstaat nicht anders als der urzeitliche Absolutismus zu der ihm vorhergehenden Demokratie. Er ist in gewissem Sinne eine Fortbildung, insofern nämlich die neuen politischen Motive, denen er verdankt wird, aus dem älteren Staatswesen, ohne dass dieses ganz zerstört wird, organisch hervorwachsen und eigentlich nur einer stärker eintretenden Individualisierung der einmal vorhandenen Kultur verdankt werden. Im 14. und 15. Jahrhundert ist allerdings diese Individualisierung sehr beträchtlich gewesen, und es ist bekannt, wie in dieser Zeit langsam die Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft abgelöst zu werden beginnt, und wie schon vor diesem Prozesse sich die Entwicklung zwischen agrarisch arm und agrarisch reich in der Durchbildung der Grundherrschaft des 13. und 14. Jahrhunderts herausgestellt hatte. Diese starken Motive des Wirtschaftslebens reflektieren dann in dem höheren Geistesleben in dem, was man wohl als Individualismus der neuen Zeit gegenüber der sogenannten Gebundenheit des Mittelalters zu bezeichnen pflegt. Inwiefern damit der Übergang zur absoluten Monarchie verknüpft ist, wird weiter unten geschildert werden.

In Deutschland ist der Verlauf der lehensstaatlichen Periode kein so normaler gewesen, wie im westlichen Europa. Anfangs allerdings, im 8. bis 10. Jahrhundert, schien der Lehensstaat gerade in Deutschland besonders kräftig entwickelt zu sein. Im Grunde aber handelte es sich dabei mehr um eine Fortdauer des urzeitlichen Absolutismus, der durch die Idee des Kaisertums noch einmal besonders befruchtet wurde, und eine Indienststellung des Lehensgedankens in die herkömmlichen Verwaltungsgleise dieses Absolutismus, als um eine klare rasch zu völlig bestimmter Auffassung führende Durchbildung des Lehenswesens. Unter diesen Umständen stellte sich nachher, im 12. und 13. Jahrhundert, heraus, dass die nun nicht mehr aufzuhaltende Durchführung des Lehensstaates den alten Absolutismus allerdings zu zerstören imstande war, nicht aber die Kraft [25] besass, von sich aus in einer rein monarchischen wohlgegliederten Staatsform über das viel zu grosse Reich hin Fuss zu fassen. So ergab sich denn für das Reich, das in gänzlichem Ruin seiner Finanzen und in vergeblichen Versuchen zur Begründung einer Verwaltung im Laufe des 13. Jahrhunderts zerschellt war, ein halb staatloser Zustand, der auch dann noch fortdauerte, als seit Rudolf von Habsburg die Krone neue Träger erhalten hatte. Die Lage wurde noch komplizierter dadurch, dass in diesen Zustand hinein nunmehr die Entwicklung der Geldwirtschaft fiel, bei der die Organisation des neuen Zustandes nicht voll und gleichmässig organisch dem Volksleben eingefügt werden konnte, sondern vielmehr in den Städten besondere, lokal stark betonte Zentren suchte, was dann zur Entwicklung mehr oder minder selbständiger Städtewesen geführt hat. Da nun gleichzeitig in den dem Reiche sich mehr oder minder auslösenden Territorien der Feudalismus speziell begründet zu werden begann, diese Gründung aber wiederum schon deshalb misslang, weil zu ihrer Durchführung der unbedingt notwendige Treubegriff des früheren Mittelalters allmählich hinwegfiel, so ergab sich ein allgemeines Chaos der Entwicklung, durch welches namentlich die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, sowie die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts charakterisiert wird. Versuchte man aus ihm in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und noch in der ersten des 16. durch die Entwicklung eines Föderativsystems herauszugelangen, so war dies ein Gedanke, der in einem Zeitalter des aufkommenden persönlichen Individualismus gewiss sehr nahe liegen musste. Allein, war er durchführbar? Föderativstaaten sind im allgemeinen Staatsbildungen sehr hoher Kultur, und ihre Berechtigung beruht in der wohlerwogenen gegenseitigen Abgrenzung mehr heimatlicher und territorialer und sehr weiter grosse Landstrecken umfassender Reichsinteressen, auf einem Gegensatz mithin, der in dieser Weise dem 15. Jahrhundert wohl kaum schon als Motiv einer Staatsbildung geläufig sein konnte. Wie dem auch sei, der Versuch der Bildung eines Föderativstaates gelang nicht. Es kam vielmehr zu einer sozialen Revolution, die sich mit der kirchlichen Revolution zeitlich zusammenfand, und da die Kaiser der späteren Zeiten nur noch sehr selten gänzlich misslungene Versuche zur Durchbildung eines Reiches in der Richtung des nunmehr in Europa herrschenden Absolutismus gemacht haben, so ging das Reich einem durch nichts mehr aufzuhaltenden Ruin entgegen. Der Absolutismus aber hat sich in Deutschland in den einzelnen Territorien durchgebildet.

IV. Absolutismus des individualistischen Zeitalters. Bearbeiten

Sucht man die Wurzeln des Absolutismus des 15.–18. Jahrhunderts klar zu legen, so liegt nach der bisherigen Auffassung der Dinge am nächsten, von wirtschaftlich- und sozialgeschichtlichen Erscheinungen auszugehen. Es würde da gesagt werden können, dass die grossen Grundherrschaften der künftigen Herrscher in den einzelnen Territorien schon seit ihrer Durchbildung im 10. Jahrhundert anfingen, ein starkes wirtschaftliches Rückgrat des kommenden Absolutismus abzugeben, dass weiterhin die Überweisung oder die Usurpation von Reichsrechten die Territorien rechtlich mit staatlicher Gewalt ausstattete, dass von diesen beiden Motiven her schon im 13. Jahrhundert von Landesstaaten geredet werden konnte, dass diese sich dann mit dem ersten Einziehen geldwirtschaftlicher Tendenzen von der lehensstaatlichen Gliederung ihrer Verwaltung frei machten, und dass dieser Vorgang unter der allgemeinen Zunahme der Geldwirtschaft sich bis zum 18. Jahrhundert stärker und stärker fortsetzte. Von diesen verschiedenen Motiven wäre wohl bloss das letzte noch einer weiteren Ausführung bedürftig. Der Urkundenvorrat des 12.–14. Jahrhunderts beweist beinahe für alle Gegenden Deutschlands die allmähliche Abwandlung der ursprünglichen Lehensverwaltung, und da, wo diese Verwaltung schon ganz selbständig geworden war, ihren Ersatz durch neue Verpflichtungen im Sinne eines primitiven modernen Beamtentums. Die Übergangsformen sind dabei sehr mannigfaltig, aber überall sehen wir, wie an Stelle des treueidlich gebundenen und naturalwirtschaftlich besoldeten Beamten der früheren Jahrhunderte ein mehr oder minder geldwirtschaftlich besoldeter und dem Herrn zu absoluter Verfügung stehender, vielfach militärisch geschulter und sich anfangs keineswegs besonderer Standesrechte erfreuender Verwaltungsdiener tritt, der in der Regel den Namen Amtmann geführt hat. Ist dabei der Amtmann in den einzelnen Staaten die Stütze der Lokalverwaltung, so tritt allmählich immer stärker über [26] ihm eine wohlfunktionierende Zentralverwaltung auf, namentlich seitdem die Fürsten Kanzleien mit ausgiebigem schriftlichem Verfahren entwickelt und ihren Wohnsitz ziemlich ständig in nur einer oder höchstens mehreren Residenzen aufgenommen haben. Gewiss hatten da die Fürsten mit der Entwicklung der Verwaltung das Machtmittel in der Hand, das ihnen gestattete, ihren räumlich ziemlich begrenzten Besitz in einer ganz anderen Weise, als dies im Lehensstaat der Fall gewesen war, intensiv zu verwalten und aus dieser Verwaltung heraus die Vorstellung zu gewinnen, dass dieser Besitz ein Ganzes sei, das man eventuell als solches auch ausspielen und abschliessen könne. Indes aus alledem geht der spezifische Begriff des Staates des 16.–18. Jahrhunderts doch noch nicht hervor. Vielmehr kommt hier ein psychologisches Motiv in Betracht, das nur dem Verlaufe der allgemeinen Kulturgeschichte entnommen werden kann. Auf diesem Gebiete bedeuten bekanntlich die Jahrhunderte des ausgehenden Mittelalters und das 16. Jahrhundert die Zeit der Renaissance und der Reformation: die Zeit der Befreiung des mittelalterlichen Menschen, die Zeit, in der jeder Einzelne anfängt, sich als Persönlichkeit zu fühlen. Es ist eine Tendenz von einer Gewalt, wie sie sich in jedem Lande Europas von den bekannten Persönlichkeitsmoden der Alltagsmenschen schon des 15. Jahrhunderts bis zu dem starken Ichbewusstsein der grossen Künstler und Reformatoren verfolgen lässt. Im 17. und 18. Jahrhundert wird dann vollends klar, und im 18. Jahrhundert namentlich im Gegensatz zu den späteren Zeiten, worin dieser Individualismus eigentlich bestand. Es handelt sich dabei um eine freiere Stellung der Persönlichkeit, die noch nicht so weit geht, diese Persönlichkeit gegenüber den grössten bindenden Mächten des Lebens: der Kirche, dem Staate, der wissenschaftlichen Tradition, dem alten Glauben als absolut freies Subjekt hinzustellen; Pflicht zur Durchbildung einer eigenen Lebensanschauung als für den Einzelnen unerlässlich war noch keine Forderung dieser Zeiten, und ein Nachdenken über den Staat von absolut freier Grundlage aus schien gefährlich. Die freie Persönlichkeit war also noch nicht Subjekt, sondern den grössten Werten ihrer Gegenwart unbedingt und eingestandenermassen unterworfen. Damit hängt es zusammen, wenn der Einzelne gegenüber allen anderen gleichsam als isoliert erscheint. Er hat noch nicht das Bedürfnis der Auswirkung, welches die subjektive Persönlichkeit des 18. und 19. Jahrhunderts besitzt, denn er macht in den höchsten Dingen noch keineswegs für Lösungen persönlichen Charakters Propaganda, und er ist, da ihm diese eben genannten Besonderheiten seines Wesens anhaften, nicht so sehr Gemüts- und Willensmensch, wie das der Mensch des 19. Jahrhunderts ist, sondern auf den Verstand gestellt, rationell und intellektuell. Zieht man die seelischen Konsequenzen aus diesen Zuständen, so begreift sich, dass der Mensch des 15.–18. Jahrhunderts in Staatsdingen, die immer Auswirkung und Leidenschaft voraussetzen, sehr zurücktrat und sich im allgemeinen gegenüber den grossen Mächten des Daseins in einer isolierten Stellung befand, welche die Gesellschaft in weiter nichts als eine Summation von Einzelnen auflöste. Es ergibt sich also, dass der psychologische Zustand dieser Zeit den Absichten und Zwecken des territorialen Staatswesens nur isolierte Individuen entgegenstellte, den bekannten Sand am Meer, von dem man so häufig mit Rücksicht auf die Individuen des 18. Jahrhunderts gesprochen hat. Unter diesen Umständen begreift es sich, dass die neue Verwaltungsmaschinerie des Absolutismus von aussen wenig Anstoss erhielt. Immer weniger von dem alten korporativen Leben des Mittelalters fand sie sich gegenüber, immer hilfloser und vereinzelter stellten sich ihr die einzelnen Personen dar, immer entschiedener und bis in die grössten Einzelheiten hinein griff sie für den Staat auf staatliche Befehle hin durch. Dabei war charakteristisch, dass sie ein eigentliches Ziel positiver staatlicher Betätigung in sich nicht besass, sie ist in dieser Beziehung vielmehr, als ein rein neutrales Werkzeug der Machtauswirkung, von der Entwicklung und der Vorstellung über den Staatszweck von anderer Seite her abhängig geblieben. Doch waren in dieser Richtung allerdings einige Ziele mit der Existenz der absoluten Monarchie als solcher gegeben. Dem absoluten Herrscher musste immerhin die Zusammenfassung des Staates zu einem Ganzen, die Geltendmachung der finanziellen Hilfskräfte und der militärischen Gewalt nahe liegen. Auch der Gedanke der einheitlichen Vermehrung seines Besitzes und aus ihm heraus die Vorstellung dieses Besitzes als eines in sich einheitlich gegebenen Wesens musste ihm kommen, und so war prinzipiell und primitiv der Staatsgedanke allerdings schon im Charakter des Absolutismus gegeben. Allein darüber hinaus ist der eigentliche Inhalt der politischen Tätigkeit des Absolutismus doch erst durch die Abfolge der grossen [27] Weltanschauungen gegeben worden, welche die Zeit vom 15.–18. Jahrhundert hervorbrachte. Es ist dies ein sehr wichtiger und wohl zu beachtender Punkt; hier erscheint die Entwicklung des politischen Absolutismus wieder vollkommen nicht bloss in den allgemeinen geschichtlichen Vorgang sondern sogar auch im Einzelnen in die Materien der Kulturgeschichte eingebettet. Der Gang der Entwicklung der Weltanschauung dieser Zeit brachte es nun mit sich, dass anfangs für die Konstruktion des Staatszweckes noch nicht philosophische, sondern kirchlich-religiöse Motive massgebend waren, ein Hintergrund, der sich in der heute ziemlich geläufigen Einteilung des Absolutismus in einen patriarchalischen und in einen aufgeklärten ohne weiteres ausspricht. Freilich war bei alledem nicht ausgeschlossen, dass irgend ein absoluter Herrscher in irgend einem der kleinen Territorien von der Bedeutung dieser grossen Strömung keine Notiz nahm und auf eigene Faust als ein Tyrann regierte. Einige Beispiele dieser Art gehören bekanntlich zu den Kuriosen der deutschen Geschichte des 17. und auch noch, ja erst recht 18. Jahrhunderts. Im ganzen aber erschien der Zweck des Staates jetzt von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr durch die Staatstheorien und damit durch das Produkt einer allerdings noch in kleinem Kreise sich abspielenden öffentlichen Meinung geleitet, eine Erscheinung, welche es verstehen lässt, dass in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts unter dem Eintritt grosser, neuer seelischer Verhältnisse der ausgehende absolute Staat in einer uns heute kaum noch verständlichen Weise den Einwirkungen der nunmehr immer kräftiger werdenden öffentlichen Meinung anheim fiel.

V. Der moderne Staat. Bearbeiten

Der Staat der modernen Demokratie, der in seinen Grundzügen allen staatlichen Entwicklungen des mittleren und westlichen Europas gemeinsam ist, scheint an erster Stelle aus wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Vorgängen hergeleitet werden zu müssen. In dieser Hinsicht ist für ihn vor allen Dingen die volle Entwicklung der Geldwirtschaft charakteristisch und damit die Entstehung eines Wirtschaftslebens, das man als kapitalistisch oder Wirtschaftsleben der Unternehmung zu bezeichnen pflegt. Vom kulturgeschichtlichen Standpunkte aus betrachtet, scheint als das Wesentliche dieser Wirtschaftsform vielmehr die freie Stellung der Persönlichkeit hingestellt werden zu müssen, indem das Geld als einziger Wertmesser aller Güter auf sie und ihren besonderen Wert in eine freie Beziehung, die man am besten Kredit nennen kann, gesetzt wird. Denn heute ist ja Kredit weiter nichts als die bestimmte ökonomisch-moralische Ausstattung einer gegebenen Persönlichkeit, gleichgültig, ob diese Ausstattung in rein wirtschaftlichen oder moralischen oder rechtlichen oder sonst irgend welchen Werten nutzbaren Charakters besteht. Ein wirtschaftlicher Zustand, der auf die Erzeugung eines solchen Wesens der Einzelpersönlichkeit hinausläuft oder ihm wenigstens zudrängt, war nun natürlich nicht geeignet, die alte soziale Schichtung, die Einteilung in Bauer, Bürger und Edelmann, die im westlichen Europa wenigstens im 17. und 18. Jahrhundert und bei uns noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein bestand, bestehen zu lassen. Er drängte sich vielmehr zersetzend in diese alten Bildungen ein, und so war eine soziale Umorganisation beinahe überall eine Folge der wirtschaftlichen Umwälzung. Dabei ist es dann freilich nicht geblieben. Wir werden später sehen, wie der modernen Persönlichkeit auch auf wirtschaftlichem Gebiete gewisse auf Zusammenfassung hinauslaufende Züge eigentümlich sind, welche der späteren Evolution des modernen Kapitalismus einen ganz anderen, auf Vereinigung (Trustwesen) hingehenden Charakter gegeben haben.

Indes würde es doch falsch sein, als tiefstes historisches Motiv des neuen Zeitalters nur unmittelbare Zusammenhänge wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Natur anzusehen. Vielmehr zeigt in diesem Falle ganz besonders stark die deutsche Geschichte, dass es sich auch diesmal zuunterst um einen rein psychologischen Vorgang handelt, der seinerseits allerdings wohl durch wirtschaftliche oder soziale Reize ausgelöst werden kann, dies aber keineswegs braucht, wie denn in Deutschland die entscheidende Bewegung schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts aus ganz anderen, wesentlich schon den höheren Kulturzweigen angehörigen Entwicklungen hervorgegangen ist. Es wird über diesen Punkt bald ausführlich Rechenschaft gegeben werden. Das psychologische Moment, das hier in Betracht kommt, kann man ab das des Subjektivismus bezeichnen. Wir [28] sehen in England in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in Frankreich in der ersten Hälfte des 18. und in Deutschland um die Mitte des 18. Jahrhunderts, und zwar in Deutschland in den Erscheinungen der Empfindsamkeit, des Sturms und Drangs und später in dem Klassizismus und der Romantik, sowie in den Parallelerscheinungen zu diesen zunächst literarischen Gebieten Personen auftreten, denen starkes Gemütsleben, ausserordentliche und stetige Energie, willenskräftige Auswirkung auf andere Personen und ein intellektuell höher stehender Zustand als der des vorhergehenden Zeitalters eigentümlich ist. Von dem ihnen wesentlichen Kern ihres Expansionsbedürfnisses aus erfassen diese Personen vornehmlich einmal die grosse Zeitenfolge, in denen ihr Leben steht, woraus sich dann eine intensive Beschäftigung mit der Vergangenheit und damit der subjektiv-historische Sinn des 19. Jahrhunderts ergibt, und weiterhin räumlich dem Grundsatze nach die ganze Welt (primitiver Kosmopolitismus) und in der Praxis wesentlich die Nation (Nationalgefühl und Nationalbewusstsein). Mit diesen Kräften greifen sie dann überall ein und entwickeln daraus neue politische und historische Ideale. Da dabei jede dieser Persönlichkeiten ganz auf sich gestellt ist und mithin den Trieb zur Ausbildung einer eigenen Weltanschauung besitzt, so ist es prinzipiell in dieser Lage eigentlich gegeben, dass ihr voller politischer Ausdruck eine gemüts- und willensreiche Anarchie hätte sein müssen. In der Tat ist dies der Ausgangspunkt des politischen Denkens in den neuen Kreisen gewesen. Im Fühlen, Wollen und Denken die weitesten Horizonte suchend, räumliche wie zeitliche, fand dieser Zustand doch bald gewisse Schranken, so vor allen Dingen die der Nation und der nationalen Geschichte. Und indem diese Schranken bewusst empfunden wurden, entwickelte sich gerade daraus der Trieb zu gegenseitiger Durchdringung, zur Vereinigung auf der breiten Basis der eben angedeuteten Horizonte. Und hier tritt dann ein anderes Motiv der subjektiven Persönlichkeit hervor, das schon im Laufe des 19. Jahrhunderts, noch mehr aber im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts immer wirksamer geworden ist. Das ist das Motiv der modernen Vereinsbildung in allen ihren unendlich zahlreichen Formen.

Fragt man sich nun, in welchen konstitutionellen Formen und Begriffen sich das neue Persönlichkeitsideal auswirken musste, so ergibt sich für die kirchliche Entwicklung als Antwort: in der Sekte, und für die politische Entwicklung: in der Partei. Sekte und Partei sind in dem hier gemeinten Sinne Erscheinungen, welche die früheren Zeitalter noch nicht gekannt haben. Dabei ist es selbstverständlich, dass für die kirchliche Entwicklung damit die politische Formel der freien Kirche im freien Staate gegeben war, soweit Europa, bei dem sich die Sektenbildung eben erst aus den Kirchen entfalten musste, in Betracht kam, während sich auf dem neuen Boden Amerikas die Sektenbildung alsbald fast ganz ungestört vollziehen konnte. Und so ist es weiterhin auf politischem Gebiete das Parteileben mit dem ihm zugrunde liegenden Demokratismus im englischen Sinne (Demokracy), welcher als politische Haupterscheinung des 19. Jahrhunderts hervortritt.

Verfolgen wir nach dieser Abgrenzung der Hauptbegriffe speziell die deutsche Entwicklung, so ergibt sich hier, wie schon einmal angedeutet, zunächst die eigentümliche Erscheinung, dass das neue Zeitalter ganz entgegen den Lehren der Marx’schen Geschichtstheorie nicht mit Erscheinungen auf wirtschaftlichem Gebiete, sondern alsbald mit Vorgängen in der höchsten geistigen Entwicklung beginnt. Um 1750 haben wir in Deutschland keine ökonomische Revolution, sondern vielmehr Klopstocks Messiade erlebt. Zum Verständnis dieser Tatsache mag hier mit einigen Worten auf eine spezielle, nur kulturgeschichtliche Betrachtung eingegangen werden. Der eigentliche Fehlen der Marx’schen Geschichtstheorie ist der, dass vermöge eines Irrtums des dialektischen Schlusses unter voller Vernachlässigung der psychologischen Faktoren von wirtschaftlichen Vorgängen unmittelbar auf geistige Erscheinungen und auf deren Folgen geschlossen wird. Ein Vorgang aber wie der diesem Schlusse als zugrunde liegend gedachte kommt nie und nirgends im geschichtlichen Leben vor, vielmehr ist der Entwicklungsgang für die Massenerscheinungen des geschichtlichen Lebens immer der, dass durch irgendwelche von aussen kommende Reize Potenzen geschichtlichen Fortentwicklung, die als solche schon in den grossen geschichtlichen Einheiten, Nationen usw. liegen, zur Auslösung gelangen, gleichgültig, welcher besonderen Art diese Reize sind. Nun sind diese Reize in der Tat sehr häufig wirtschaftlicher Natur, wie es denn keinem Zweifel unterliegt, dass die moderne deutsche Kultur wesentlich durch die Reize der Umwandlungen unseres Wirtschaftslebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausgelöst wurde. Allein es kann auch geschehen, dass [29] die Reizmassen, welche zur Entwicklung eines allgemeinen psychologischen Fortschrittes notwendig sind, von ganz anderer Seite herkommen. Dies ist zum Teil beispielsweise in der Entwicklung der italienischen Renaissance geschehen, und hierher gehört nun auch der Fall des Fortschrittes des deutschen Seelenlebens um 1750. Die Reize, welche damals den Fortschritt bewirkten, kamen wesentlich aus der allmählich immer stärker werdenden Fortbewegung der durch den dreissigjährigen Krieg nur unterbrochenen, nicht aber ganz gestörten bürgerlichen Verhältnisse, aus der Behaglichkeit, welche diese Verhältnisse schufen und der damit gewährten Möglichkeit einer stärkeren geistigen Beschäftigung der Nation. Nun ist aber klar, dass in solchen Fällen, in denen die vorwärtstreibenden Reizmassen von vornherein nicht wirtschaftlicher, sondern geistiger Natur sind, dementsprechend die nächsten Erscheinungen des sozialpsychologischen Lebens, die durch sie hervorgetrieben werden, von vornherein einen wesentlich geistigen, nicht wirtschaftlichen oder sozialen Charakter haben werden. Dies ist nun der entscheidende Punkt, dessen Klarstellung zum Verständnis der Vorgänge in der Entwicklung der modernen Kultur seit 1750 in Deutschland notwendig erfolgen muss.

Das Eigentümliche ist unter diesen Umständen, dass das moderne Zeitalter auch auf politischem und sozialem Gebiete alsbald mit einer ideologischen Erscheinung beginnt, und dass erst in einer zweiten Periode dieses Zeitalters, die etwa um 1770 oder 80 einsetzt, sich daneben Wirkungen einer innerlichen, organischen, wirtschaftlichen und sozialen Umwälzung bemerkbar machen. Die subjektive Persönlichkeit wirkt sich mithin in der deutschen Geschichte zunächst nicht auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiete, sondern vielmehr auf den höheren geistigen Gebieten der Dichtung, der, Kunst und der Philosophie und dem Gebiete der praktischen Anwendung dieser Tätigkeiten aus und erst langsam geht sie von da auf das politische und schliesslich auch das kirchliche Gebiet über.

Unter diesen Umständen versteht sich, wenn wir nunmehr in die Entwicklung des Staats und der Staatskunst speziell dieser Zeit eintreten, dass zunächst nicht praktische Lösungen, sondern Theorien entstehen, und dass diese anfangs, wie z. B. bei dem jungen Schiller oder bei Fichte in einer gewissen Periode seines Lebens, ja sogar bei Kant in einen idealen Anarchismus auslaufen. Da soll im Staate vor allen Dingen die „Freiheit des Particuliers“ gewahrt werden, und am besten scheint diese gewahrt, wenn überhaupt gar kein Staat besteht. Von diesen Vorgängen her ist es begreiflich, dass, in einem zweiten Stadium der Entwicklung, vor allen Dingen die pädagogischen Fragen eine Rolle spielen. Der Gedanke war dabei, dass, wenn man den Einzelmenschen nur richtig erziehe, sich dann als Produkt dieser Erziehungstätigkeit der richtige Staat von selbst einfinden werde. Und auch auf dem Gebiete der Erziehung ging man zunächst nicht von pädagogisch-praktischen Motiven aus, sondern – besonders ausgeprägt Schiller – von der Auffassung, dass die blosse Erkenntnis und das Ergreifen des Schönen ohne weiteres auch zu einer gefestigten subjektiven Sittlichkeit führen müsse, verlegte also den Kernpunkt der pädagogischen Fragen in die Ästhetik. Dem gegenüber war es dann ein bedeutender Fortschritt, als Pestalozzi in die Frage der eigentlichen praktischen Erziehung eintrat, und eben darum ist seine Lehre von so ausserordentlicher Bedeutung geworden. Allmählich, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts näherte man sich darauf immer mehr wirklich politischen Fragen, und indem sie auftraten, ergab sich aus der früher schon auseinandergesetzten Notwendigkeit der Parteibildung alsbald die in der Natur der Dinge liegende Scheidung in ein konservatives und in ein liberales oder fortschrittliches Denken. Die Anfänge dieses Denkens lassen sich schon bei den patriotischen und politischen Schriftstellern der 80er und 90er Jahre des 18. Jahrhunderts deutlich verfolgen. Bis zu den Anfängen von Theorien, sei es konservativer, seien es fortschrittlicher Anschauung, gelangte man dann etwa um 1800. Und praktisch machen sich die beiden Anschauungen erst in der Beurteilung und politischen Behandlung des ungeheuren Umschwungs geltend, den Deutschland durch das Eingreifen Frankreichs und die Tätigkeit des ersten Napoleons um diese Zeit erlebte. Bald darauf, in den stillen Jahren nach 1815, kommen dann die Zeiten, in denen Anfänge politischer Parteien da, wo in den Territorien sich ein Repräsentativsystem durchgesetzt hatte, wahrnehmbar werden. Und auf diesem durchaus praktischen Boden erfolgt dann auch die erste eigentliche Programmbildung. Nach Lage der damaligen Verhältnisse waren für diese Programmbildung die Konservativen im Vorteil. Man muss immer bedenken, dass in diesen Zeiten weder die wirtschaftliche noch die soziale Lage in Deutschland von der der vergangenen Jahrhunderte [30] sich schon sehr weit entfernt hatte. Da nun offenbar ein wirklich wohlfundamentierter moderner Staat nur auf Grund starker wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandlungen entstehen konnte, so hatten von vornherein diejenigen, welche, wie besonders Friedrich IV., vielmehr einen Aufbau auf Grund der bestehenden Verhältnisse und damit im Grunde noch nach der sozialen Dreiteilung des Mittelalters befürworten, eigentlich das Recht der Wirklichkeit für sich. In der Tat gelang es auch den liberalen Parteianschauungen nicht, diesem ständischen Programm der Konservativen aus den Voraussetzungen der eigenen Entwicklung her ein anderes gleich klares und sicheres Programm entgegenzusetzen. Sie sahen sich vielmehr darauf reduziert, irgendwelche Formen des Programms des französischen Liberalismus herüberzunehmen. In dieser Situation hätte der Liberalismus wohl am Ende den kürzeren ziehen müssen, wäre ihm nicht zweierlei im höchsten Grade zu Hilfe gekommen. Einmal nämlich war er doch im Grunde der unbedingte Ausdruck der immer mehr im Leben der Nationen zu ihrem Rechte gelangenden subjektiven Persönlichkeit und besass insofern ein Erstgeburtsrecht für die politische Zukunft. Dann aber war er aus den eben erwähnten Zusammenhängen heraus der ligitime Vertreter des Gedankens einer künftigen Einheit der Nation. In diesem Zusammenhange war es gegeben, dass er von dem Augenblicke an, da diese Einheit immer lebhafter erstrebt wurde, und das heisst wesentlich seit Beginn der vierziger Jahre, Oberwasser erhielt, bis er in den Revolutionen von 1848 49 und in den aus ihnen hervorgehenden Verfassungen weiterhin siegt, wenn auch die Einheit des Reichs auf liberaler Grundlage damals noch nicht errungen wurde.

Inzwischen aber war auch aus den kirchlichen Verhältnissen heraus eine Partei hervorzugehen im Begriffe, die immer mehr bis zur Gegenwart hin eine sehr beträchtliche Rolle gespielt hat. Es lag in der Natur der Dinge, dass das eigentliche Programm der modernen subjektiven Persönlichkeit, die Durchbildung der Sekte, sich gegenüber den alten Kirchen des europäischen Kontinents, und insbesondere Deutschlands, nicht so ohne weiteres verwirklichen liess. Zwar machten sich in den beiden Kirchen von besonderer Gebundenheit, der lutherischen und der katholischen, gelegentlich separatistische Strömungen geltend, aber von irgendwelcher grossen Bedeutung sind sie bisher nicht geworden. Das Programm des kirchlichen Liberalismus als des eigentlichen Vertreters des Subjektivismus erschöpft sich vielmehr bisher in der immer stärkeren Betonung der Lösung von der freien Kirche im freien Staate. Und täuscht nicht alles, so wird in der Tat von diesem Worte her eine neuere Verfassungsentwicklung kirchlichen Charakters beginnen. In den alten Kirchen wurde die öffentliche Wirksamkeit, die uns hier in Zusammenhange mit der Entwicklung des Staates allein beschäftigt, im Bereiche der lutherischen Kirche durch eine die Gemeinde bevormundende Orthodoxie gelähmt. In der katholischen Kirche dagegen traten Vorgänge ein, die nur von einer weiten kulturgeschichtlichen Perspektive aus verständlich werden können. Es handelt sich um die allen katholischen Staaten Europas gemeinsame Erscheinung des modernen Klerikalismus. Es gehört zu den bekanntesten Tatsachen auf kulturgeschichtlichem Gebiete, dass einmal entwickelte Kulturbildungen in der menschlichen Gemeinschaft, der sie angehören, bis zu deren Verfall nicht wieder völlig zugrunde gehen. So lebt z. B. im deutschen Bauerntum noch ein gutes Stück des Geistes der deutschen Urzeit deutlich fort. So sind die Tendenzen des Luthertums in vielen Köpfen noch fest in der Form des 16. Jahrhunderts verbreitet. Es versteht sich daher von selber dass die besondere Form des Christentums, die in der katholischen Kirche des Mittelalters entwickelt worden war, nicht mit diesem Mittelalter zugrunde ging, sondern in den unteren Kreisen der katholischen Laien fortlebte. Nun gestaltete sich aber dieses Fortleben durch einen besonderen Umstand hervorragend günstig. Die katholische Kirche hat bekanntlich nach der Reformation in dem Tridentinsichen Konzil auch ihrerseits eine Art von Erneuerung erlebt. Vornehmlich geschah dies auf dem Gebiete der Exegese und der Dogmatik. Für den Kult und das religiöse Leben der Laien dagegen traten an Stelle einer direkten Erneuerung die merkwürdigen leidenschaftlichen Formen des religiösen Lebens der spanischen Kirche, die ihrerseits aus gewissen Reformationsbestrebungen schon des 15. Jahrhunderts entstanden waren, andererseits aber in sich die ganze sinnliche Glut des mittelalterlichen, auf eine ständige Kampfstellung gegenüber Heiden eingerichteten Katholizismus enthielten. Diese Formen, wie sie in dem Prunk der katholischen Barockkirche und dem Pomp der Prozessionen, wie in den sinnlich reizenden Darstellungen der Heiligenbilder des 17. und 18. [31] Jahrhunderts vorliegen, gaben nun dem mittelalterlichen Katholizismus der unteren Schichten allmählich jene besondere leidenschaftliche Färbung, welche für den Glauben der breiten Masse des katholischen Volkes in der Gegenwart charakteristisch ist. Indes diese Entfaltung erklärt nur eine Seite des modernen Klerikalismus. Daneben steht eine andere, aus deren Entwicklung her die klerikalen Massen ihre Führer erhielten. Wir haben schon oben gesehen, wie der historische Sinn ein für die subjektive Persönlichkeit der modernen Zeit charakteristisches Merkmal ist, und wie gerade von dieser Seite her den freiheitlichen Bestrebungen dieser Persönlichkeit ein unter Umständen mehr bindendes Motiv entgegentrat. Die erste höchst markante Erscheinung, in der diese Kombination von Bedeutung wurde, knüpfte sich nun an die Romantik. Die Frühromantik begann mit einem Streben nach fast willkürlicher Freiheit, und sie endete für eine nicht geringe Anzahl gerade von hervorragenden Vertretern mit dem Übertritte zum Katholizismus. Die Personen, die auf diese Weise in den Katholizismus hineingerieten und die gebildeten Angehörigen des Katholizismus, die sich auf diese Weise entwickelten, ergaben nun schon für das zweite und dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts eine kleine Gruppe von Führern, die, wenn sie in Kindern und Kindeskindern an die Spitze der grossen klerikalen Massen traten, eine politische Handlung von ungewöhnlicher Bedeutung vollzogen. Die hier angedeutete Kombination trat nun bekanntlich zuerst in den zwanziger Jahren in Frankreich auf. In Deutschland kann man vielleicht die Ausstellung des heiligen Rockes zu Trier im Jahre 1844 als das entscheidende Datum betrachten, an dem sich die Nation der Existenz des Klerikalismus bewusst wurde.

Nach alledem traten also aus der ersten Periode der Entwicklung der subjektiven Persönlichkeit mit den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer deutlicher markiert drei grosse Parteien hervor: die konservative, die liberale und die klerikale. Und alle diese Parteien trugen den Charakter noch dieser ersten Periode: sie waren nach grossen allgemeinen Idealen orientiert, hatten ursprünglich verhältnismässig wenig Beziehungen zu Wirtschaft und Gesellschaft und können deshalb als ideologisch bezeichnet werden.

Ganz anders ist nun die Entwicklung in der zweiten Periode des modernen Subjektivismus abgelaufen. Was hier geschehen ist und noch geschieht, kann an dieser Stelle mit wenig Strichen angedeutet werden. Alle Welt weiss, in welcher ausserordentlichen Weise sich seit etwa Mitte des 19. Jahrhunderts unser Wirtschaftsleben und dementsprechend auch unsere soziale Schichtung umgewandelt hat. Es handelt sich hier um eine ungeheure Reihe von Vorgängen, an deren Spitze man vielleicht ein Ereignis auch aus dem Jahre 1844 stellen kann. Damals wurde in Berlin die erste Industrieausstellung abgehalten und zu gleicher Zeit der Verein für das Wohl der arbeitenden Klassen gegründet. Im übrigen ist bekannt, dass bereits die Einheitsbewegungen der vierziger Jahre, wenn auch zunächst noch ideologisch, doch schon Unterströmungen verkehrspolitischen und kommerziellen Charakters hatten. Und für die fünfziger und sechziger Jahre wurde es dann von besonderer Bedeutung, wie aus dem Wirtschaftsleben der modernen Unternehmung eine ganze Standesbildung der Unternehmung hervorzuwachsen begann, am frühesten, besonders deutlich ausgesprochen, der Stand der Arbeitnehmer, die heutige vierte Klasse, dann aber auch, etwas später, der Stand der Arbeitgeber. Sehr bald aber trat dazu eine andere Erscheinung, die sich auf dem Gebiete der Sozialgeschichte immer wiederholt. Die neuen Klassen, ganz modern organisiert, färbten, eben weil sie Träger des fortschrittlich Neuen waren, auf die vorhandenen Klassen ab, ja noch mehr, zersprengten und zersplitterten sie in der Fortentwicklung des modernen Wirtschaftslebens oder bildeten sie wenigstens vollkommen um. Am wenigsten hat vielleicht unter dieser so revolutionären Erscheinung das Bauerntum gelitten. Von alters her am Boden haftend, hat es diesem die Kraft entnommen, zu bleiben wie es war. Am meisten aber musste von den neuen Vorgängen, die sich ja zunächst auf dem Gebiete der Geldwirtschaft vollzogen, natürlich das Bürgertum erschüttert werden. Insbesondere hat die sogenannte Bourgeoisie und in ihr wieder das Handwerk zum grossen Teil die Grundlage seiner früheren Existenz verloren. Ganz besonders eigenartig wirkte aber die allgemeine Umwälzung auf den grossen Grundbesitz. Es ist eine bekannte Tatsache der deutschen Wirtschaftsgeschichte, dass dieser sich schon im 18. Jahrhundert teilweise zur Unternehmung ausgestaltet hatte. Brachte den Grossgrundbesitzern nun das 19. Jahrhundert die Agrikulturchemie und den landwirtschaftlichen Nebenerwerb und damit die steigende Möglichkeit kapitalistischen Betriebes, [32] so verstand es sich eigentlich von selbst, dass sie sich mehr oder weniger zu Unternehmern umbildeten, und dass mithin neben die industriellen und kommerziellen Unternehmer eine der Hauptsache nach dem Junkertum entnommene Schicht der agrarischen Unternehmer trat. Überblickt man nun die sozialen Wandlungen, von denen soeben die Rede war, so wird man kaum im Zweifel sein, dass sie, wenn die Parteibildung als solche der eigentlich bezeichnende politische Vorgang des subjektiven Zeitalters ist, zu Parteibildungen führen mussten. In der Tat ist dies die Signatur der Zeit seit etwa 1860 und 70. Die früheste und glänzendste auf dieser Basis gewachsene Parteibildung ist die der Sozialdemokratie. Dagegen haben es die führenden Stände der Unternehmung, also die industriellen, kommerziellen bezw. agrarischen Unternehmer, lange Zeit zu eigener Parteibildung nicht gebracht, weil sie ihrer Natur nach die einen zur liberalen, die anderen zur konservativen Partei neigten und sich mithin als durch diese alten ideologischen Parteien mitvertreten erachten konnten. Allein dieser Zustand hat sich in den letzten zwanzig Jahren geändert. Zunächst hat sich das agrarische Unternehmertum in dem Bunde der Landwirte, dann das industrielle und kommerzielle in dem Hansabund eine Partei geschaffen, und mehr als Reflexbewegung zum Bunde der Landwirte ist dann auch für die Bauern ein entsprechender Bund ins Leben getreten. Damit sind denn tatsächlich alle sozialen Strömungen, die aus dem modernen Wirtschaftsleben hervorgegangen sind, politisch zu Worte gelangt, und die auf dieser Basis entstandenen Bildungen durchbrechen heute den Organismus der älteren ideologischen Parteien so störend, dass sich ein wirkliches Chaos durcheinanderlaufender Bestrebungen ergeben hat.

Allein, sind damit die Aussichten und Sorgen der Gegenwart erledigt? Keineswegs! Soweit man zu sehen vermag, sind es zwei Richtungen, welche in Zukunft massgebend in die Entwicklung der heutigen chaotischen Zustände eingreifen können.

Einmal breitet sich, allerdings zunächst nicht so sehr in Deutschland als in den fortgeschritteneren Ländern des modernen Demokratismus eine Bewegung aus, welche, ganz konsequent aus den Prinzipien des Subjektivismus hervorgehend, sich gegen Sekte und Partei als noch nicht den letzten konstitutionellen Ausdruck der modernen Zeit wendet. Mag man schon früher, zuerst wohl unter Napoleon I., im Plebiszit die Form gefunden haben, jede einzelne Person unmittelbar in den höchsten Fragen des Staatslebens zur Entscheidung heranzuziehen, so sind neuerdings in den Formen der Initiative und des Referendums Motive gefunden worden, durch deren Anwendung diese Heranziehung der einzelnen Personen tatsächlich stetig erfolgen kann. Partei und in gewissem Sinne auch Sekte als die untersten und elementarsten Formen persönlicher Einwirkung erscheinen dadurch wenigstens teilweise erledigt, und es liesse sich denken, dass sie von dieser Entwicklung her allmählich zwar vielleicht nicht ganz beseitigt, sicherlich aber in ihrer Bedeutung beträchtlich geschwächt würden. Sollte dieser Verlauf eintreten, so würde er sich gewiss auch in Deutschland, wenn auch vielleicht erst in späterer Zeit, nicht vermeiden lassen.

Neben dieser entfernteren Möglichkeit aber gibt es eine zweite, die sozusagen unmittelbar vor der Tür steht. Aus den wirtschaftlichen und sozialen Bestrebungen der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hat sich, seit etwa 1890 bis zur Gegenwart immer stärker anschwellend, auf den neuen Naturalismus gestützt, bekanntlich ein jetzt fast schon auf allen Gebieten des Lebens wirksamer moderner Idealismus erhoben. Dieser Idealismus dringt nun auch in das Gebiet der Politik mit konkreteren Forderungen vor. Es ist möglich, dass er, wie er jetzt schon auf dem Gebiete der Erziehungskunst um sich greift und dort ausgeprägte Programme entwickelt, so auch auf politischem Gebiete zu vielleicht mehrfacher, unter Umständen in sich gegensätzlicher Ausgestaltung von Programmen führen wird, dass dann auf Grund dieser Programme und der ihnen zugrunde liegenden Strömungen neue, wieder mehr ideologisch orientierte Parteien entstehen, und dass diese neuen Parteibildungen in dieser oder jener Form den Sieg über die älteren Bildungen davontragen werden.

Wie nun auch diese Entwicklungen in Zukunft verlaufen mögen, soviel wird aus der bisher gegebenen Darstellung ersichtlich sein, dass auch in der neuesten Periode deutscher wie auch europäischer staatlicher Entwicklung überhaupt die grossen politischen Tendenzen nur als Exponenten der unter ihnen verlaufenden kulturgeschichtlichen Entwicklung erscheinen, mag diese zunächst an ihrer Oberfläche mehr als wirtschafts- und sozialgeschichtlich oder mehr als geistesgeschichtlich gefärbt erscheinen. Und auch dem Ergebnis wird sich niemand, der die Dinge tiefer verfolgt, entziehen [33] können, dass diesen mehr äusseren Erscheinungen der kulturgeschichtlichen Bewegung schliesslich ein innerer Kernpunkt entspricht, der auf ein fortgesetztes Fortschreiten des psychischen Gesamtverhältnisses menschlicher Gemeinschaften und damit auf ein psychogenetisches Agens hinausläuft. Bei solchen Ergebnissen wird man sich dann nicht wundern können, dass in den ganzen Auseinandersetzungen über den modernen Staat von der Monarchie nicht die Rede gewesen ist. Der Grund hierfür ist einfach. Die konstituierenden Kräfte der neuen Zeit kommen grundsätzlich dem Königtum nicht zu gute. Das schliesst natürlich nicht aus, dass dieses dennoch an gewissen Stellen und unter gewissen Umständen wie z. B. in Deutschland Kräftigung erfahren kann. Grundsätzlich indes kann darüber kein Zweifel sein, dass die tiefsten Motive der Entwicklung auf die Notwendigkeit der Monarchie wenigstens nicht unmittelbar hinweisen, und dass darin für die deutsche Entwicklung nach dem Charakter ihres bisherigen Verlaufs gewiss eine Schwäche der Gegenwart beruht.