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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

In den Zeiten anethischer Rechtsgestaltung ist die Politik nach aussen, wie nach innen brutales Machtringen der gepanzerten Faust, Kampf um die grösste Land- und Schatzgewinnung, moralinfreies Streben nach den besten Futterplätzen: Vae victis! Sei im Besitz und du wohnst im Recht.

Die sittlich-rechtliche Synthese wird gekennzeichnet durch Toleranz nach aussen und Freiheit nach innen. Die Sittlichkeit wirkt in der Politik die Anerkennung stets grösserer Massen als Menschen (Humanitätsidee), als Rechtsträger, als zu Respektierende. (Die Entartung dieser Idee führt zur Irrlehre der Gleichberechtigung aller.) Die Herrschaftsmacht wird gemildert durch die ethische Macht der Freiheitsidee.[1] Dem Machtstreben tritt die Freiheit entgegen: gestützt durch finanzielle Kraft des Bürgertums; robuste Arme – der Arbeiter, Kanonen und Panzerschiffe – fremder Staaten. (Wie so häufig, einen auch hier sich Idealismus und Realismus.)

Die Ethik hat ihre Wirksamkeit in der inneren Politik seit dem Mittelalter in den grossen Emanzipationskämpfen offenbart: Seelische Befreiung der Weltlichkeit aus kirchlicher Umklammerung; politische Befreiung des Bürgertums vom Absolutismus der Fürsten;[2] wirtschaftliche Befreiung der ausgebeuteten Arbeiterschaft aus dem Joch kapitalistischer Übermacht.

In der äusseren Politik wirkt die ethische Forderung die Ausbreitung des Schiedsgerichtsgedankens und der Friedensidee, auf der Grundlage der Gleichberechtigung (des gleichen Rechts auf Existenz und Selbstbehauptung) aller Staaten.

Die Politik wird durch das ethische Ferment geläutert:Die brutale Gewalt unterstellt sich der Gerechtigkeit mit der universalen Anerkennung der Menschheitsidee oder (was dasselbe bedeutet) des Freiheitsgedankens.






5. Abschnitt.


Staatsform und Politik im Lichte der Geschichte.
Von
Geh. Hofrat Dr. Karl Lamprecht, LL. D.,
o. Professor der Geschichte an der Universität Leipzig.


Einleitung.

Die Geschichtswissenschaft findet immer mehr den Drehpunkt ihrer Methoden in der Psychologie, Erkenntnis der seelischen Entwicklung der Menschen wird zu ihrem eigentlichen Ziele, und je mehr die vergleichenden Methoden auf der Basis entwicklungsgeschichtlicher Anschauungen vorwärtsschreiten, um so mehr wird dieses Ziel gesichtet. Gegenüber dieser Vorwärtsbewegung tritt die frühere historische Anschauung, welche den Staat als den Mittelpunkt alles historischen Interesses erachtete, immer mehr zurück. Äusserlich kann der Prozess in der Umwertung der einzelnen


  1. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 142: „Die Sittlichkeit ist die Idee der Freiheit...“
  2. Eingeleitet durch die wohlwollende Bevormundung im Polizeistaat. Anti-Machiavel, Kap. 1: „Es ist demnach die Gerechtigkeit, welche das vornehmste Augenmerk eines Fürsten sein soll; es ist demnach die Wohlfahrt seines Volks, so er allem anderen Nutzen vorziehen muss.“
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/39&oldid=- (Version vom 1.8.2018)