Seite:Handbuch der Politik Band 1.pdf/50

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

sich schon sehr weit entfernt hatte. Da nun offenbar ein wirklich wohlfundamentierter moderner Staat nur auf Grund starker wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandlungen entstehen konnte, so hatten von vornherein diejenigen, welche, wie besonders Friedrich IV., vielmehr einen Aufbau auf Grund der bestehenden Verhältnisse und damit im Grunde noch nach der sozialen Dreiteilung des Mittelalters befürworten, eigentlich das Recht der Wirklichkeit für sich. In der Tat gelang es auch den liberalen Parteianschauungen nicht, diesem ständischen Programm der Konservativen aus den Voraussetzungen der eigenen Entwicklung her ein anderes gleich klares und sicheres Programm entgegenzusetzen. Sie sahen sich vielmehr darauf reduziert, irgendwelche Formen des Programms des französischen Liberalismus herüberzunehmen. In dieser Situation hätte der Liberalismus wohl am Ende den kürzeren ziehen müssen, wäre ihm nicht zweierlei im höchsten Grade zu Hilfe gekommen. Einmal nämlich war er doch im Grunde der unbedingte Ausdruck der immer mehr im Leben der Nationen zu ihrem Rechte gelangenden subjektiven Persönlichkeit und besass insofern ein Erstgeburtsrecht für die politische Zukunft. Dann aber war er aus den eben erwähnten Zusammenhängen heraus der ligitime Vertreter des Gedankens einer künftigen Einheit der Nation. In diesem Zusammenhange war es gegeben, dass er von dem Augenblicke an, da diese Einheit immer lebhafter erstrebt wurde, und das heisst wesentlich seit Beginn der vierziger Jahre, Oberwasser erhielt, bis er in den Revolutionen von 1848 49 und in den aus ihnen hervorgehenden Verfassungen weiterhin siegt, wenn auch die Einheit des Reichs auf liberaler Grundlage damals noch nicht errungen wurde.

Inzwischen aber war auch aus den kirchlichen Verhältnissen heraus eine Partei hervorzugehen im Begriffe, die immer mehr bis zur Gegenwart hin eine sehr beträchtliche Rolle gespielt hat. Es lag in der Natur der Dinge, dass das eigentliche Programm der modernen subjektiven Persönlichkeit, die Durchbildung der Sekte, sich gegenüber den alten Kirchen des europäischen Kontinents, und insbesondere Deutschlands, nicht so ohne weiteres verwirklichen liess. Zwar machten sich in den beiden Kirchen von besonderer Gebundenheit, der lutherischen und der katholischen, gelegentlich separatistische Strömungen geltend, aber von irgendwelcher grossen Bedeutung sind sie bisher nicht geworden. Das Programm des kirchlichen Liberalismus als des eigentlichen Vertreters des Subjektivismus erschöpft sich vielmehr bisher in der immer stärkeren Betonung der Lösung von der freien Kirche im freien Staate. Und täuscht nicht alles, so wird in der Tat von diesem Worte her eine neuere Verfassungsentwicklung kirchlichen Charakters beginnen. In den alten Kirchen wurde die öffentliche Wirksamkeit, die uns hier in Zusammenhange mit der Entwicklung des Staates allein beschäftigt, im Bereiche der lutherischen Kirche durch eine die Gemeinde bevormundende Orthodoxie gelähmt. In der katholischen Kirche dagegen traten Vorgänge ein, die nur von einer weiten kulturgeschichtlichen Perspektive aus verständlich werden können. Es handelt sich um die allen katholischen Staaten Europas gemeinsame Erscheinung des modernen Klerikalismus. Es gehört zu den bekanntesten Tatsachen auf kulturgeschichtlichem Gebiete, dass einmal entwickelte Kulturbildungen in der menschlichen Gemeinschaft, der sie angehören, bis zu deren Verfall nicht wieder völlig zugrunde gehen. So lebt z. B. im deutschen Bauerntum noch ein gutes Stück des Geistes der deutschen Urzeit deutlich fort. So sind die Tendenzen des Luthertums in vielen Köpfen noch fest in der Form des 16. Jahrhunderts verbreitet. Es versteht sich daher von selber dass die besondere Form des Christentums, die in der katholischen Kirche des Mittelalters entwickelt worden war, nicht mit diesem Mittelalter zugrunde ging, sondern in den unteren Kreisen der katholischen Laien fortlebte. Nun gestaltete sich aber dieses Fortleben durch einen besonderen Umstand hervorragend günstig. Die katholische Kirche hat bekanntlich nach der Reformation in dem Tridentinsichen Konzil auch ihrerseits eine Art von Erneuerung erlebt. Vornehmlich geschah dies auf dem Gebiete der Exegese und der Dogmatik. Für den Kult und das religiöse Leben der Laien dagegen traten an Stelle einer direkten Erneuerung die merkwürdigen leidenschaftlichen Formen des religiösen Lebens der spanischen Kirche, die ihrerseits aus gewissen Reformationsbestrebungen schon des 15. Jahrhunderts entstanden waren, andererseits aber in sich die ganze sinnliche Glut des mittelalterlichen, auf eine ständige Kampfstellung gegenüber Heiden eingerichteten Katholizismus enthielten. Diese Formen, wie sie in dem Prunk der katholischen Barockkirche und dem Pomp der Prozessionen, wie in den sinnlich reizenden Darstellungen der Heiligenbilder des 17. und 18.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/50&oldid=- (Version vom 4.7.2021)