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dem nicht der blinde, sondern jener allerscharfsichtigste[1] gemeint ist, welcher keine falsche oder vielmehr überhaupt keine materielle Münze annimmt, mag sie auch (sonst) in Geltung sein. 20 Mit Recht flieht (Jakob) also vor dem, der der göttlichen Güter unteilhaftig ist, und der, ohne es zu merken, gegen sich selbst Anklage erhebt, indem er den anderen beschuldigt, wenn er nämlich sagt: „Wenn du es mir angezeigt hättest, so hätte ich dich frei gelassen (1 Mose 31, 27). ‘Eben dies’, (erwidert der Asket), ‘wäre ja schon ein hinreichender Grund gewesen zu fliehen, wenn du selbst, ein Sklave unzähliger Herren, dir Herrenrang anmaßtest und anderen die Freiheit verkündetest. 21 Ich habe mir aber für den Weg, der zur Tugend führt, nicht einen Menschen zum Beistand genommen, sondern bin göttlichen Worten gefolgt, die mich bis jetzt leiten und mir jetzt gebieten, von hier fortzuziehen. 22 Wie hättest du mich denn frei gelassen? Doch nur, wie du in hochtrabenden Worten angibst, mit der Fröhlichkeit, die mir zuwider ist, mit einer unmusischen Musik, unter dem Schall von Pauken, der unverständlich und unvernünftig durch die Vermittlung des Gehörorgans der Seele Schläge versetzt und mit Zither[2], mißtönenden und verstimmten Instrumenten oder vielmehr Handlungen im Leben. Das ist es gerade, weswegen ich zu fliehen beschloß, du aber gedachtest mich auf der Flucht zurückzulocken, damit ich wieder umkehrte, verleitet durch die natürliche Täuschung und Verführung der Sinne, die ich kaum zu zügeln vermocht hatte.’

[4] 23 Haß ist die Ursache der eben geschilderten Flucht, Furcht die der zu schildernden. Es heißt nämlich in der Schrift: „Rebekka sagte zu Jakob: siehe, dein Bruder Esau droht, dich zu töten. Höre nun auf meine Stimme, mein Kind: stehe auf und fliehe zu Laban, meinem Bruder, nach Haran und wohne bei ihm einige Tage, bis der Groll und der Zorn deines Bruders sich von dir abwendet und er vergißt, was du ihm getan hast. Dann werde ich schicken und dich von dort holen lassen“ (1 Mos. 27, 42–46).[3] 24 Man ist mit Recht


  1. Das bei Philo häufige Bild, das hier näher ausgeführt wird, stammt aus Platos Gesetzen; vgl. Wendland, Philos Schrift über die Vorsehung S. 91. [Vgl. Ü. d. Nüchternheit § 40, V. 91, 1, Μ. Α.]
  2. [Geschickte Verwendung des Schlusses des Bibelverses: mit Freude und Liedern (μουσικαί), Pauken und Zither. I. H.]
  3. Dieselbe Auslegung der Verse (vgl. unten § 39ff.) Über die Wanderung Abrahams § 208ff. – Über den folgenden Abschnitt § 23–52 handelt ausführlich Bousset Jüdisch-christlicher Schulbetrieb S. 128ff. Während er mit Recht die These Massebieaus ablehnt, in Philos Anschauungen sei eine Entwicklung WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt von einem in den früheren Schriften vorherrschenden strengen Rigorismus zu der positiven Wertung des irdischen Lebens, die besonders an unserer Stelle hervortritt, festzustellen, ist sein eigener Versuch, unseren Abschnitt als „unphilonisch“ zu erweisen und auf jüdische Vorgänger Philos zurückzuführen, kaum als gelungen zu betrachten; in der Tendenz ähnliche Stellen (vgl. All. Erkl. I § 57; III § 163. 166; Über die Trunkenheit § 86–88; Über die Wanderung Abr. § 74ff.; Über die Nüchternheit § 39ff.), zeigen, daß Philo den sonst, wie es scheint, bei ihm nicht vorkommenden Gedanken, das praktische Leben sei eine unerläßliche Vorstufe des theoretischen, sehr wohl direkt aus einer hellenistischen Quelle entlehnen konnte: die Lehre, daß man sich erst nach Erfüllung der politischen Pflichten am Abend des Lebens der Muße philosophischer Betrachtung hingeben dürfe, begegnet bei Seneca de otio c. 2, 2; vgl. unsere Anm. unten zu § 37. [Vgl. auch über die exegetische Bindung Philos an unserer Stelle Heinemann RE V A 2343f.]
Empfohlene Zitierweise:
Philon: Über die Flucht und das Finden. H. & M. Marcus, Breslau 1938, Seite 59. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:PhiloFugGermanAdler.djvu/010&oldid=- (Version vom 21.5.2018)