Reform des Rechtsunterrichts. Vorbildung des Juristenstandes

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Autor: Adolf Wach
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Titel: Reform des Rechtsunterrichts. Vorbildung des Juristenstandes
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Dritter Band: Die Aufgaben der Politik, Fünfzehntes Hauptstück: Bildung, 81. Abschnitt, S. 146−152
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[146]
81. Abschnitt.


Reform des Rechtsunterrichts. Vorbildung des Juristenstandes.
Von
Exzellenz Wirkl. Geh. Rat D. Dr. Adolf Wach,
Mitglied der Ersten Kammer, o. Professor der Rechte an der Universität Leipzig.


Die Vorbildung des Berufsjuristen – denn nur um diesen handelt es sich – wird in der Neuzeit vielseitig erörtert. Der sachkundige Beobachter konnte schon seit langem über ihre Unzulänglichkeit nicht im unklaren sein. Heute herrscht darüber nahezu Einigkeit. Um so verschiedener sind die Meinungen über die Mängel und die Mittel der Abhilfe. Da nun jeder Jurist hier über Erfahrungen verfügt und sich wohl auch Verbesserungsgedanken zutraut, so findet das aktuelle Thema viele willige Federn und Zungen. Theoretiker und Praktiker wetteifern in der Tagespresse, in der Broschürenliteratur, in Fachzeitschriften, auf Vereinsversammlungen mit Kritik und Vorschlägen. Das Material ist schon jetzt kaum übersehbar. Zur Orientierung diene die Zusammenstellung von Gerland in seiner „Reform des juristischen Studiums“, Bonn 1911, S. 20f., und in Reidnitz’ Juristenbildung, Mainz 1911, S. IX–XXXI.[1] Aber alles Schreiben, Diskutieren und Experimentieren muss ergebnislos bleiben, wenn es nicht gelingt, Klarheit zu gewinnen über unsere Ziele und über die wahren Gründe unserer Beschwerden.

I. Das Ziel.

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Das deutsche Volk nährt sich nicht gern von Phrasen; wohl aber unterliegt es bei seinem, Gott sei Dank, noch immer lebendigen idealistischen Zug der Gefahr des Schlagworts, das eine Idee, ein schönes Ziel bezeichnet und mit dem man Panier aufwirft. Und heutzutage, in dem grossen Sprechsaal der Oeffentlichkeit, bei dem Wirrsal der Meinungen, Interessen und Wünsche ist es schwieriger denn je, sich den Kopf frei zu halten von der Wirkung des laut hinausgerufenen halbwahren Schlagworts. Die Politik ist dafür der eigentliche Tummelplatz. Daran hat alles Anteil, was die Organisation der Rechtspflege berührt. „Klassenjustiz“, „Weltfremdheit“ der Juristen, „Wirklichkeitsjuristen“, „Freirecht“: ebensoviel Unwahrheiten oder doch Halbwahrheiten, wie Worte, wenn sie Mängel unserer Zustände und Reformziele ausdrücken sollen. Der deutsche Juristenstand steht an Geistesbildung, juristischer Schulung, Leistung und Pflichttreue hinter keinem der Welt zurück. Das gilt ebensosehr vom Richter- wie vom Anwaltsstande, von den Männern der Verwaltung, den Theoretikern und Praktikern. Vergegenwärtigt man sich den Umschwung der deutschen staatlichen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in den letzten fünfzig Jahren, die umfassende Neubildung unserer Rechtsordnung, die Gesetzesarbeit in Reich und Gliedstaaten, die doch zum grossen Teil Juristenarbeit ist, die erstaunliche Schnelligkeit der Bewältigung dieses ungeheuren Materials in Literatur und Praxis, die, bei aller berechtigten Bemängelung, unbestreitbare Gesundheit unseres Rechtslebens, so wird man gerechterweise dem deutschen Juristenstand rückhaltlose Anerkennung zollen müssen. Und das hat er geleistet [147] mit der Ausbildung nach traditioneller Schablone. Aber die Kritik derselben kann um deswillen nicht schweigen, ebensowenig wie die Erträglichkeit eines Zustandes uns von seiner Verbesserung abhalten wird.

Man darf die Unvollkommenheit unseres Bildungssystems nicht im Stoff suchen. Das Arbeitsfeld des Juristen ist die Welt. Er soll das „nihil humani mihi alienum“ von sich sagen. Denn das Recht ergreift alle Lebensverhältnisse. Aber Allwissenheit ist nicht von dieser Welt; wer sie erstrebt, ist ein Narr oder bleibt ein Dilettant. So wenig vom Arzt, Chemiker, Elektrotechniker oder Bankbeamten juristische Bildung erwartet wird, darf man vom Juristen die Kenntnisse jener Berufskreise fordern. Wir lehnen den „Wirklichkeitsjuristen“ ab, der sich überall Fachkenntnis zuschreibt. Hier hilft der „Sachverständige“, wenn auch der Jurist, mag er richten, regieren, fremdes Recht als Anwalt wahren, immer bemüht sein soll, mit offenem Auge durchs Leben zu gehen, überall das Leben erfassend. So können „Wirklichkeitsstudien“ im wirtschaftlichen, gewerblichen, technischen, künstlerischen Leben nicht in den Bereich der juristischen Ausbildung einbezogen werden. Diese hat ein doppeltes Ziel, von dem wir uns nichts abmarkten lassen: das verständnisvolle Aneignen des Rechts und die Charakterbildung, die Bildung der Persönlichkeit, der das Recht Lebensluft, Rechtsbeugung Verbrechen, das Rechtsgebot der oberste irdische Wille ist. Der Rechtsstoff ist das geltende Recht in durch den Lehr- und Lernzweck bestimmter Begrenzung. Ueber diesen Punkt wird unten zu sprechen sein. Hier muss betont werden, dass „verständnisvolles Aneignen“ nicht ein nur gedächtnismässiges bedeutet, denn Kennen ist vom Verstehen des Gesetzes weit entfernt; und das Aneignen, sich zu eigen Machen vollzieht sich nicht nur durch den Intellekt, das lediglich logische Operieren mit dem Gesetz; denn Richten ist nicht „Rechnen mit Begriffen“, das Gesetz kein Turngerüst des Verstandes. Das Recht ist Lebensgebot, sein Inhalt das Gute, soweit es sich zur allgemeinen Norm eignet, seine Anwendung die Emanation dieses Willens, der Gerechtigkeit, die im Gesetz lebt. Daher nennen die Römer die Jurisprudenz die ars boni et acqui, ein Können, das seine letzte Wurzel im rechtlichen Empfinden und Wollen hat. Solche verständnisvolle Aneignung des Rechts, die zu seiner heilsamen Anwendung und seiner Fortentwicklung befähigt, macht den Juristen. Sie bleibt sein Lebensziel und der für die Aus- und Vorbildung massgebende Gedanke – alles andere führt zur Verbildung oder Verkümmerung. Damit ist unser juristisches Ausbildungssystem zur Frage gestellt.

II. Der Zustand.

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Die Jurisprudenz ist für uns keine freie Kunst. Sie wird auf staatlichen Lehranstalten wissenschaftlich gepflegt und gelehrt, bei den staatlichen Behörden im Vorbereitungsdienst erlernt, und auch dann, wenn sie, wie in der Anwaltstätigkeit, nicht Amtsinhalt ist, durch öffentliche Prüfungen kontrolliert. Aus solcher offizieller Schulung und Kontrolle gehen unsere Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Regierungsbeamte hervor. Durch eine Schlussprüfung wird die Qualifikation zu diesen Berufen erwiesen, m. a. W. festgestellt, dass der Novize des Rechts das Mass juristischer Ausbildung erreicht hat, welches ihn zu selbstständiger Ausübung solcher Funktionen befähigt. – Davon ist auszugehen und dabei hat’s zu bleiben.

Nun zerfällt die Rechtsschulung in den Universitätsunterricht und den Vorbereitungsdienst. Nach Reichsgerichtsverfassungsgesetz § 2 hat der ersten juristischen Prüfung ein mindestens dreijähriges Studium der Rechtswissenschaft vorauszugehen, von dem mindestens drei Semester auf einer deutschen Universität verbracht werden müssen. Der Landesgesetzgebung steht es frei, die dreijährige Studienzeit zu verlängern. Der dreijährige Vorbereitungsdienst findet bei den Gerichten und Rechtsanwälten statt und kann kraft Reichsrechts zum Teil bei der Staatsanwaltschaft verwendet werden, wie nach Landesrecht die Dienstzeit verlängert und zum Teil, aber nicht über ein Jahr hinaus, in der Verwaltung verbracht werden darf.

[148] Hiernach ist theoretische und praktische Schulung grundsätzlich, zeitlich und organisatorisch unüberbrückbar geschieden. Die sog. praktischen Uebungen auf der Universität und etwaige lehrhafte Kurse im Gerichtsdienst bilden bisher die einzigen ausgleichenden und annährenden Mittel.

1. Der Universitätsunterricht leistet, was er nach diesem System mit den vorhandenen Personen und Lehrmitteln zu leisten vermag. Er bewegt sich vorwiegend in einseitigen Vorträgen, die die Studierenden „hören“; nur in den mit Arbeiten derselben verbundenen Kollegien exegetischer oder praktischer Natur haben sie Gelegenheit sich zu betätigen, während ein Gedankenaustausch auch wohl in sog. Konversatorien (Repetitorien) stattfindet. Das akademische Lehrziel ist das Erfassen des gesamten Rechtsstoffs in seinen Grundgedanken, inneren Zusammenhängen und seinem organischen Ausbau. Das kann nur erreicht werden durch systematisch dogmatische Darstellung, die das Einzelne zum Ganzen fügt und aus den Grundgedanken entwickelt. Man wird ohne Uebertreibung sagen können, dass die Vorträge, wie sie an den deutschen Universitäten gehalten werden, geeignet sind, in die Rechtswissenschaft einzuführen und die Kenntnis und Erkenntnis des Stoffs zu vermitteln. Wenn aber dieser Erfolg – nach vieler Klage – nicht erreicht wird, so sind die Gründe keineswegs nur persönlicher Natur: Ungeschick der Dozenten, Unfähigkeit oder Unfleiss der Studenten. Mag sein, dass die jungen Juristen sich vor anderen Kommilitonen durch schlechten Kollegienbesuch auf vielen Universitäten auszeichnen. Aber man soll nicht übertreiben. Würde man der natürlichen Folge des Unfleisses: der Unwissenheit das gebührende Zeugnis im Examen zuteil werden lassen, so würde man über dieses Uebel nicht zu klagen haben; denn diejenigen sog. Zuhörer, die sich lediglich als Amateurs auf der Universität aufhalten, scheiden ohnedies aus. Keinesfalls darf man – wie unten noch näher beleuchtet wird – das unschätzbare Gut der akademischen Freiheit einem schulmässigen Betrieb um des Unfleisses willen opfern. Nein: der Unfleiss, über den man klagt, wurzelt in der Sache und hindert daher auch das „Bestanden“ nicht, wenn sein Ergebnis: die Unbildung verdeckt wird durch eingepauckten Gedächtniskram. Die theoretischen, systematisch-dogmatischen Vorträge versagen den gewünschten Erfolg vor allem aus doppeltem Grund: sie halten oft die durch den Bildungszweck gebotene Grenze nicht ein, – und sie ermangeln in ihrer Einseitigkeit der pädagogischen Kraft.

Die Universität ist Forschungs- und Lehranstalt. Dieser Verbindung und Verwendung der besten wissenschaftlichen Kräfte für den Rechtsunterricht verdanken wir das hohe, geistige Niveau unseres Juristenstandes. Die Resultate der wissenschaftlichen Arbeit kommen unmittelbar den Studierenden zugute. Mancher Gelehrte findet in seinen akademischen Vorträgen die Hauptform seiner wissenschaftlichen Aeusserung. So wird, bei aller Beachtung des Lehrzwecks, die wissenschaftliche Bewältigung des Stoffs die selbständige Aufgabe des Dozenten. Hieraus ergibt sich im Zusammenhang mit dem Lehrplan eine Zumutung an die Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit des auf sich selbst gestellten Studierenden, der der Durchschnitt nicht gewachsen ist. Der Lehrplan umspannt das ganze Rechtsgebiet. Wir können völlig davon absehen, ob eine Vorlesung obligatorisch ist oder nicht und wie man jenen Plan anlegt, – für den Studierenden ist entscheidend, ob die Disziplin examiniert wird. Der Examensgegenstand ist Lerngegenstand, und Examensgegenstand ist und muss bleiben – bis auf Nebensächliches – grundsätzlich das ganze Rechtsgebiet. Das bedeutet einen unermesslichen Stoff. Allerdings wird man ihn dem Studierenden nur ansinnen, soweit er ihm vorgetragen wird. Aber er wird ihm vorgetragen in wissenschaftlicher Konzentration und Vertiefung – und so will er aufgenommen sein: begrifflich in Wesen und Zweck erfasst, verstanden werden. Was will das sagen! Früher, vor der stupenden Gesetzesentwicklung des Reiches und im Reich, sagte man: „bonus institutionista bonus pandektista, bonus pandektista bonus jurista“. Das gemeine Zivilrecht und zwar das römische Recht, das war das A und das O. Darauf kam es an; das wurde geprüft; daneben noch ein wenig Handels- und Wechselrecht, Strafrecht, vielleicht Prozess; alles andere gehörte in die [149] Rumpelkammer. Und wie ist es jetzt? Ueberall Gesetzesrecht, womöglich Kodifikation und das Streben, die Gesetze zu bewältigen. An Stelle der Pandekten-Dogmatik der enorme Stoff des überaus schwierigen B. G. B. mit seinen Nebengesetzen. Es genüge, das heutige Grundbuchrecht dem gemeinrechtlichen Hypothekenrecht, die heutige der gemeinrechtlichen Immobiliarzwangsvollstreckung – von welcher letzterer in Vorlesungen überhaupt kaum die Rede war – oder das gemeinrechtliche Straf- und Prozessrecht dem heutigen gegenüber zu stellen, um den Wandel zu erkennen. Dazu Staatsrecht, Verwaltungsrecht, volkswirtschaftliche Disziplinen u. a. m. Ueberall wird eine in allen Grundgedanken lückenlose, die Zusammenhänge, die Struktur der Rechtsinstitutionen klar legende Darstellung erstrebt und überall eine „verständnisvolle Aneignung“ gefordert. Und wenn auch der nicht geradezu törichte Examinator nicht Paragraphen reiten, nicht Details fordern, sondern sich auf die Elemente beschränken wird, – so stellt ja das gerade: das Prüfen auf die Grundbegriffe, auf das Verständnis der Rechtsinstitution die schwersten Anforderungen.

Und der Studierende, der Rechtskandidat, dem das alles, was man ihm vorträgt, fremd war? Dem ein den inneren Menschen nicht ergreifender, spröder Stoff in Abstraktionen geboten wird? Man klagt über „Unfleiss“, m. a. W. darüber, dass es am Kollegienbesuch mangelt. Aber so war’s von altersher und die Präsenz verbürgt nicht einmal das „Hören“, und das „Hören“ ist ganz wertlos ohne Verstehen und Verarbeiten. Bildet für dieses ein vielleicht schlecht nachgeschriebenes Heft die Grundlage, so ist’s schon um deswillen damit nichts. Aber überhaupt: das Verarbeiten, das verständnisvolle in sich Aufnehmen lediglich auf Grund der Vorlesung ist für viele kaum möglich. Wer klärt Missverständnisse? Wer löst Zweifel? Wer belebt die doch nur den Extrakt des Vortrags darstellende Niederschrift, nachdem das Gehörte längst entschwunden ist? Und wer kann es festhalten, wenn er mehrere Stunden täglich Vorlesungen verschiedenen, fremdartigen und schwierigen Inhalts gefolgt ist? Wie soll der Kandidat scheiden zwischen dem Wissensnotwendigen, Wesentlichen und dem Wissenswerten ? Es bedarf keiner weiteren Ausführung, um begreiflich zu finden, dass das Hören und die selbständige Arbeit vieler erlahmt und sie sich zum Repetitor retten. Der drillt auf das Examen. Hier wird die Frage und Antwort nach bestimmtem Rezept auf die Examinatoren eingepaukt. Hier entsteht ein ad hoc brauchbares Wissen. Freilich vielfach nur Gedächtniskram, bald vergessen, wertlos für das spätere Leben. Aber es erfüllt seinen unmittelbaren Zweck, – denn die Examinatoren müssen sich wohl oder übel damit begnügen. Der Kandidat hat doch etwas gewusst.

In dieses trübe Bild fällt ein erquickendes Licht durch die Erfolge der praktischen Uebungen. Ich spreche aus Erfahrung; denn ich habe jedes Semester mehr als vierzig Jahre hindurch Praktika gehalten und verdanke Brieglebs Praktikum das erste Verständnis für den Prozess. Ich arbeite seit dem 1. Oktober 1879 fortgesetzt als Richter am Leipziger Landgericht und bin daher in der Lage, das Verhältnis solcher Uebungen zur Praxis abzuschätzen. Sie sind keine Antizipation der Praxis. In ihnen arbeiten Dozent und Student zusammen, findet freier Gedankenaustausch statt, lernt der Hörer zuerst methodisch die Anwendung des Rechts auf den gegebenen Fall, belebt sich ihm der Begriff, gelangt er durch Arbeit zur selbständigen Aneignung dessen, dem er bisher nur rezeptiv gegenüber stand. Der Erfolg wird sich steigern mit der eigenen juristischen und Lehr-Begabung des Dozenten; er wird gefährdet durch ungeschickte Auswahl der Fälle, Tüftelei, dogmatische Feinschmeckerei, wo doch das tägliche Brot not tut. Aber so wertvoll, ja unschätzbar die Praktika sind, sie verbürgen die notwendige, universelle Durchbildung nicht.

Das Resultat ist: der Universitätsunterricht ermangelt der edukatorischen Kraft; er bietet, wenn man Vorlesungs- und Lernstoff identifiziert, zu viel – und er bietet zu wenig an Hilfskräften zur wirklich wissenschaftlichen, verständnisvollen Aneignung. Der Examensdruck, der ja besteht, vermag daran nichts zu ändern. Selbstverständlich auch nicht die Einschaltung eines Examens (Zwischenexamens) in die Studienzeit, das viele empfehlen, das Bayern und Oesterreich haben und auf das in anderem Gedankengang zurückzukommen ist. Ob eine Verbindung der Studien mit der Praxis in irgend einer Form helfen kann, durch [150] die dem Studierenden Anschauung gegeben, der Stoff lebendig gemacht, sein „Wirklichkeitshunger“ gestillt würde? Auch darüber später.

2. Der Vorbereitungsdienst bringt heute die praktische Schulung. Wie er im einzelnen, in Ausführung der erwähnten reichsgesetzlichen Vorschriften landesrechtlich geordnet ist, kann beiseite bleiben. Seine allgemeinen Charakteristika sind, dass er durch alle Stationen des Justizdienstes in freiwilliger und streitiger Gerichtsbarkeit, im Zivil- und Strafprozess, beim Amtsgericht und den Landes-Kollegialgerichten, wie der Staatsanwaltschaft hindurchführt, dass er zum Teil Dienst beim Anwalt ist, und dass er, auch wenn die Justizverwaltung das Aufsteigen vom Einfacheren zum Komplizierteren zum Leitmotiv nimmt, im grossen und ganzen von den Personen abhängt, in deren Hände der Referendar kommt, dass von einer methodisch geordneten praktischen Ausbildung eigentlich nicht gesprochen werden kann. Und dieser Vorbereitungsdienst dauert 4 Jahre oder etwas kürzer, füllt also eine für die Entwickelung der Persönlichkeit entscheidende Zeit. Und was ist das Ergebnis? Ein grobes Missverhältnis von Zeitaufwand und Erfolg. Selbst da, wo die Referendare nicht übermässig mit Protokollieren oder anderen unerspriesslichen Geschäften befasst werden, wie insbesondere in Sachen der freiwilligen Gerichtsbarkeit, ist jenes Missverhältnis festzustellen. Erheblich fördernd ist die zeitweilige Wahrnehmung richterlicher Geschäfte oder die Vertretung des Anwalts, also ein selbständiges Handeln. Durch die Einrichtung von gemeinschaftlichen Kursen unter Leitung eines Richters wird auf eine methodische Schulung – in freilich unzureichender Weise – in einzelnen Staaten hingearbeitet.

III. Bisherige Verbesserungsvorschläge.

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Sie befassen sich teils nur mit dem Universitätsunterricht, teils mit dem Vorbereitungsdienst, teils mit beiden. Ihre Zahl ist Legion. Nur die wichtigsten können erwähnt werden.

Die Verlängerung des Universitätsstudiums auf vier Jahre hat nur äusserlichen Wert, wenn auch anerkannt werden muss, dass der Fülle des Stoffes und der Steigerung der Aufgaben durch die oft übertrieben zahlreichen Praktika das Triennium nicht mehr entspricht. Aber wenn das Examenssemester nicht mitzählt, mögen sieben Semester genügen. Bei angemessener Prüfung ergibt sich solche, tatsächlich schon jetzt geübte Ausdehnung der Studienzeit von selbst.

Die Zwischenprüfung ist, von einem neuerlichen, unten zu besprechenden Vorschlag (Zitelmann, Die Vorbildung der Juristen, Leipzig 1909) abgesehen, gedacht als der Abschluss der propädeutischen Studien, als welche man vorzüglich die historischen ansieht, etwa unter Hinzunahme des deutschen Privatrechts (Bayern). Der Wert ist höchst problematisch. Man will den Fleiss steigern. Aber selbst wenn es gelingen sollte, ist der Preis zu hoch. Die Schulung soll eine einheitliche sein; für sie gibt es keine nur vorbereitenden Disziplinen. Die lehrhaft brauchbare historische Darstellung muss in dem Werdegang des geltenden Rechts, nicht im antiquarischen oder vergleichenden Element gipfeln. Daher ist es fraglich, ob nicht eine historische Vorlesung der dogmatischen mit grösserem Nutzen folgt, als vorausgeht. Keinesfalls darf das Historische mit dem Zwischenexamen abgetan werden. Dazu kommt das ständige, leidige Examinieren. Entscheidend aber ist, falls man nicht das Prüfungswesen zur Reichssache machen will, die politische partikularisierende Wirkung solchen Zwischenexamens. Es zerstört die Freizügigkeit der Studierenden, bindet sie an ihre Landesuniversität. Veränderungen des Inhalts und der Organisation der Prüfungen überhaupt bleiben ausser Frage. Die in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Differenzen sollen unter Austausch der Erfahrungen durch Verständigung der Regierungen möglichst ausgeglichen werden.

Die wichtigsten Reformpläne bezielen ein Ineinandergreifen von theoretischem und praktischem Unterricht, von Studium und Vorbereitungsdienst. Sie sind in neuester Zeit besonders laut geworden: ein Rückgriff auf frühere Anregungen (u. a. [151] Dernburg). Man befürwortet, den praktischen Dienst dem Studium teilweise vorauszuschicken, oder beides nebeneinander hergehen, oder das Studium durch die Praxis unterbrechen zu lassen. Die Gründe sind immer dieselben; man will den Mangel der Anschauung beheben, den „Wirklichkeitshunger“ der Studierenden befriedigen, sie ins Rechtsleben in foro einführen und durch alles das ihr Interesse an der Sache, ihre Empfänglichkeit und ihr Verständnis für die theoretischen Vorträge steigern. Das soll nach den Einen dadurch geschehen, dass die Praxis unmittelbar nach Beendigung der Schulzeit beginnt und so den Zweck jener Einführung und des elementaren Unterrichts erfüllt[2]. Wie lange diese „Vorpraxis“ auszudehnen und ob zu ihr ein Dozent heranzuziehen, das sind untergeordnete Fragen. – Ausser ihr oder auch an ihrer statt wird eine praktische Ferienbeschäftigung der Studiernden (Nebenpraxis), der Besuch von Gerichtssitzungen unter sachkundiger Leitung und ähnliches mehr empfohlen. Eine das Studium unterbrechende Zwischenpraxis, an die sich – darüber differieren die Meinungen – nach vollendetem Universitätsunterricht die Schlusspraxis anreiht, scheint neuerdings manchen die Lösung des Problems. Zitelmann denkt sich das so: zuerst eine dreisemestrige dogmatisch-historische Einführung in die Rechtswissenschaft und zwar im 1. Semester in das Staats-Verwaltungs-Kirchen- und Völkerrecht, im 2. in das bürgerliche Recht, im 3. in das Strafrecht, in die Prozesse; darauf nach bestandenem Examen eine zweijährige Praxis, die nur subaltern sein könnte, allein ausreichen soll, um Anschauung zu schaffen und den Wissensdurst zu steigern; nun ohne weiteres Rückkehr für den Studienreifen und Studiengeneigten an die Universität zu vertieftem fünfsemestrigen Unterricht in all’ die bisher nur obiter getriebenen Disziplinen; endlich eine einjährige Praxis mit dem Abschluss des Assessorexamens und zwar jetzt schon unter Trennung der Justiz- und Regierungskandidaten. Man hat sich zu diesem Plan von praktischer und theoretischer Seite ablehnend gestellt. Und es lässt sich nicht verkennen, dass trotz manches Anmutenden die Bedenken überwiegen: vom Standpunkt des Praktikers der Einwand der Unbrauchbarkeit dieser nur dreisemestrig vorgeschulten Referendare – und man kann hinzufügen der folgeweisen Unfruchtbarkeit des zweijährigen Zwischendienstes – vom Standpunkt des Universitätslehrers die berechtigte Scheu vor dem „vertieften“ Wiederholen des schon einführungsweise Vorgetragenen und die Befürchtung, dass jetzt zwar nicht die ersten Semester, wohl aber die spätern würden verbummelt werden, zumal dieses Studium ohne Examen schliesst und man sich auf die Assessorprüfung später vorbereiten wird. – Nicht minder unbrauchbar sind die Vorschläge der Vor- und Nebenpraxis. Wie kann man die elementare begriffsmässige Schulung auf die Praxis abschieben wollen, während sie dazu schlechthin ungeeignet ist und der Unterricht in den Grundbegriffen die wichtigste und schwierigste Aufgabe des Dozenten bildet. Was aber die „Nebenpraxis“ leisten soll, lässt sich ausreichend im akademischen Unterricht erreichen.

IV. Die Reform.

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Der akademische Unterricht vermag nicht in die Praxis einzuführen und der praktische nicht die wissenschaftliche Beherrschung des Stoffes zu vermitteln. Daher kann nicht der eine den andern ersetzen – bei keinerlei Wandelung und Erweiterung. Es wird also auch fernerhin der eine, wie der andere unentbehrlich sein. Auch wird das Universitätsstudium der praktischen Schulung vorausgehen müssen. Denn ohne Kenntniss der Rechtssätze und Begriffe bleibt die Anschauung ohne Frucht und die etwaige Verwendung in der Praxis auf das äusserliche Handwerk beschränkt. Aber Universitätsunterricht, wie Vorbereitungsdienst bedürfen der Reform.

1. Der akademische Unterricht muss in höherem Grade, wie bisher, zur Arbeit anleiten und zur verständnisvollen Aneignung des Gehörten fördern. Praktika und Exegetika [152] reichen nicht aus. Das, was in schädlicher Weise der Repetitor und Einpauker leistet, muss fördersamst planmässig die Universität leisten. Dazu bietet sich das Institut der Assistenten und Privatdozenten, die in Zusammenarbeit mit dem Fachlehrer konversatorisch und repetitorisch den Studierenden bei der Bewältigung des Stoffes an die Hand gehen. Diese ergänzenden Repetitorien sind mit der Fachvorlesung pflichtmässig zu hören. – Ferner wird darauf Bedacht zu nehmen sein, dass die dogmatischen Vorlesungen durch Ausschaltung gewisser für den Kathedervortrag nicht geeigneter Partien und Details entlastet werden, unter Ueberweisung derselben in die konversatorisch zu leitende und kontrollierende Selbstarbeit. – Endlich muss dem theoretischen Unterricht ein Anschauungs-Apparat zur Unterstützung dienen, der aus reponiertem Aktenmaterial und dergleichen leicht zu beschaffen ist.

Eine derartige organisatorische planmässige Reform würde den weiteren Vorteil einer Schule für die Lehrkräfte der Universität bilden. Zurzeit ist die Habilitation oft ein gewagtes Unternehmen. Auf eine gelehrte – mitunter auch wenig gelehrte Arbeit erfolgt nach gutem, ja vielleicht dürftigem Kolloquium und ebenso dürftiger Probevorlesung die Habilitation. Ob der so zur Lehrtätigkeit Zugelassene für sie die Befähigung besitzt, weiss weder er, noch weiss es die Fakultät. Aber nun ist er Dozent, schreibt Bücher, wird in eines Besseren Ermangelung berufen oder kraft Ersitzung Professor, vielleicht auch bleibt er sein Lebtag Privatdozent, den Gott im Zorn dazu gemacht hat. – Die vorgeschlagene Reform schafft aber nicht nur eine Bildungsstätte für den Dozenten, sondern erleichtert auch wirtschaftlich seine Existenz, denn es ist selbstverständlich, dass derartig planmässig beschäftigte Assistenten und Dozenten nicht ohne Gehalt arbeiten.

Man wende nicht ein, dass es an geeigneten Personen fehlen werde. Unter den jüngeren Praktikern wird es an brauchbaren Hilfskräften nie fehlen, – und der ordentliche Professor wird sich leichtlich geeignete Schüler heranziehen. – Finanzielle Bedenken haben bei der Wichtigkeit der Sache keine Berechtigung.

2. Der Vorbereitungsdienst ist aus einem ganz äusserlich geordneten, in seinem Erfolg auf den Zufall abgestellten in eine methodische Schulung umzuwandeln. Es hängt zurzeit vom Zufall ab, ob der Referendar das Glück hat, einen geeigneten Lehrmeister an seinem Richter oder Staatsanwalt zu finden, ob die Beschäftigung, die ihm wird, hinlänglich instruktiv ist. Dass muss anders werden. Man mag mit einer knapp bemessenen Station beim Amtsgericht beginnen, die in den verschiedenen Gebieten der streitigen und freiwilligen Gerichtsbarkeit orientiert. Dann muss eine methodische praktische Unterweisung folgen – und das kann nur geschehen beim Landgericht, bei dem die Referendare in grösserer Zahl zu Ausbildungskursen zu vereinigen sind, die von hierzu berufenen und dafür zu remunerierenden Instruktoren: Richtern, Staatsanwälten, Anwälten zivil- und strafprozessualisch, sowie im Gebiet der freiwilligen Gerichtsbarkeit anzuleiten sind. Dann mag die Zeit der praktischen „Betätigung folgen“, deren Hauptgewicht in die Judikatur, die staatsanwaltliche und anwaltliche Tätigkeit zu legen ist. Das Bestreben, den Referendar überall sattelfest zu machen, z. B. auch in Nachlass- und Vormundschaftssachen, in Grundbuchsachen, in Konkurssachen, in der Berufungsinstanz gleichermassen, wie in der ersten ist zwecklos. Man hat zu bedenken, dass wir nicht aufhören zu lernen, dass der junge Richter nicht alsbald in höherer Instanz funktionieren wird und dass, wer in erster Instanz tüchtig ist, es auch in der höheren sein wird. Wesentlich ist, wo die stärksten für die Novizen des Rechts förderlichsten Bildungselemente liegen. Gänzlich gebrochen muss werden mit der handwerksmässigen Beschäftigung, besonders durch, wohl gar durch fiskalische Gesichtspunkte bestimmten, Ersatz des Gerichtschreibers durch den Referendar. Man muss einsehen, dass die praktische Schulung Aufwendungen des Staates erheischt, wie die akademische und dass Arbeit unter eigener Verantwortlichkeit die intensivste Bildungskraft besitzt.





  1. Besondere Beachtung verdient das Gutachten Boyens für den XX. Deutschen Anwaltstag in Jurist. Wochenschrift Nr. 15, 1911.
  2. Jetzt besonders Krückmann, Vorpraxis, akademische Rechtsprechung und anderes. Tübingen 1910. Dagegen Gerland a. a. O. S. 107 f.