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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3

Rumpelkammer. Und wie ist es jetzt? Ueberall Gesetzesrecht, womöglich Kodifikation und das Streben, die Gesetze zu bewältigen. An Stelle der Pandekten-Dogmatik der enorme Stoff des überaus schwierigen B. G. B. mit seinen Nebengesetzen. Es genüge, das heutige Grundbuchrecht dem gemeinrechtlichen Hypothekenrecht, die heutige der gemeinrechtlichen Immobiliarzwangsvollstreckung – von welcher letzterer in Vorlesungen überhaupt kaum die Rede war – oder das gemeinrechtliche Straf- und Prozessrecht dem heutigen gegenüber zu stellen, um den Wandel zu erkennen. Dazu Staatsrecht, Verwaltungsrecht, volkswirtschaftliche Disziplinen u. a. m. Ueberall wird eine in allen Grundgedanken lückenlose, die Zusammenhänge, die Struktur der Rechtsinstitutionen klar legende Darstellung erstrebt und überall eine „verständnisvolle Aneignung“ gefordert. Und wenn auch der nicht geradezu törichte Examinator nicht Paragraphen reiten, nicht Details fordern, sondern sich auf die Elemente beschränken wird, – so stellt ja das gerade: das Prüfen auf die Grundbegriffe, auf das Verständnis der Rechtsinstitution die schwersten Anforderungen.

Und der Studierende, der Rechtskandidat, dem das alles, was man ihm vorträgt, fremd war? Dem ein den inneren Menschen nicht ergreifender, spröder Stoff in Abstraktionen geboten wird? Man klagt über „Unfleiss“, m. a. W. darüber, dass es am Kollegienbesuch mangelt. Aber so war’s von altersher und die Präsenz verbürgt nicht einmal das „Hören“, und das „Hören“ ist ganz wertlos ohne Verstehen und Verarbeiten. Bildet für dieses ein vielleicht schlecht nachgeschriebenes Heft die Grundlage, so ist’s schon um deswillen damit nichts. Aber überhaupt: das Verarbeiten, das verständnisvolle in sich Aufnehmen lediglich auf Grund der Vorlesung ist für viele kaum möglich. Wer klärt Missverständnisse? Wer löst Zweifel? Wer belebt die doch nur den Extrakt des Vortrags darstellende Niederschrift, nachdem das Gehörte längst entschwunden ist? Und wer kann es festhalten, wenn er mehrere Stunden täglich Vorlesungen verschiedenen, fremdartigen und schwierigen Inhalts gefolgt ist? Wie soll der Kandidat scheiden zwischen dem Wissensnotwendigen, Wesentlichen und dem Wissenswerten ? Es bedarf keiner weiteren Ausführung, um begreiflich zu finden, dass das Hören und die selbständige Arbeit vieler erlahmt und sie sich zum Repetitor retten. Der drillt auf das Examen. Hier wird die Frage und Antwort nach bestimmtem Rezept auf die Examinatoren eingepaukt. Hier entsteht ein ad hoc brauchbares Wissen. Freilich vielfach nur Gedächtniskram, bald vergessen, wertlos für das spätere Leben. Aber es erfüllt seinen unmittelbaren Zweck, – denn die Examinatoren müssen sich wohl oder übel damit begnügen. Der Kandidat hat doch etwas gewusst.

In dieses trübe Bild fällt ein erquickendes Licht durch die Erfolge der praktischen Uebungen. Ich spreche aus Erfahrung; denn ich habe jedes Semester mehr als vierzig Jahre hindurch Praktika gehalten und verdanke Brieglebs Praktikum das erste Verständnis für den Prozess. Ich arbeite seit dem 1. Oktober 1879 fortgesetzt als Richter am Leipziger Landgericht und bin daher in der Lage, das Verhältnis solcher Uebungen zur Praxis abzuschätzen. Sie sind keine Antizipation der Praxis. In ihnen arbeiten Dozent und Student zusammen, findet freier Gedankenaustausch statt, lernt der Hörer zuerst methodisch die Anwendung des Rechts auf den gegebenen Fall, belebt sich ihm der Begriff, gelangt er durch Arbeit zur selbständigen Aneignung dessen, dem er bisher nur rezeptiv gegenüber stand. Der Erfolg wird sich steigern mit der eigenen juristischen und Lehr-Begabung des Dozenten; er wird gefährdet durch ungeschickte Auswahl der Fälle, Tüftelei, dogmatische Feinschmeckerei, wo doch das tägliche Brot not tut. Aber so wertvoll, ja unschätzbar die Praktika sind, sie verbürgen die notwendige, universelle Durchbildung nicht.

Das Resultat ist: der Universitätsunterricht ermangelt der edukatorischen Kraft; er bietet, wenn man Vorlesungs- und Lernstoff identifiziert, zu viel – und er bietet zu wenig an Hilfskräften zur wirklich wissenschaftlichen, verständnisvollen Aneignung. Der Examensdruck, der ja besteht, vermag daran nichts zu ändern. Selbstverständlich auch nicht die Einschaltung eines Examens (Zwischenexamens) in die Studienzeit, das viele empfehlen, das Bayern und Oesterreich haben und auf das in anderem Gedankengang zurückzukommen ist. Ob eine Verbindung der Studien mit der Praxis in irgend einer Form helfen kann, durch

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/165&oldid=- (Version vom 21.11.2021)