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mit der Ausbildung nach traditioneller Schablone. Aber die Kritik derselben kann um deswillen nicht schweigen, ebensowenig wie die Erträglichkeit eines Zustandes uns von seiner Verbesserung abhalten wird.

Man darf die Unvollkommenheit unseres Bildungssystems nicht im Stoff suchen. Das Arbeitsfeld des Juristen ist die Welt. Er soll das „nihil humani mihi alienum“ von sich sagen. Denn das Recht ergreift alle Lebensverhältnisse. Aber Allwissenheit ist nicht von dieser Welt; wer sie erstrebt, ist ein Narr oder bleibt ein Dilettant. So wenig vom Arzt, Chemiker, Elektrotechniker oder Bankbeamten juristische Bildung erwartet wird, darf man vom Juristen die Kenntnisse jener Berufskreise fordern. Wir lehnen den „Wirklichkeitsjuristen“ ab, der sich überall Fachkenntnis zuschreibt. Hier hilft der „Sachverständige“, wenn auch der Jurist, mag er richten, regieren, fremdes Recht als Anwalt wahren, immer bemüht sein soll, mit offenem Auge durchs Leben zu gehen, überall das Leben erfassend. So können „Wirklichkeitsstudien“ im wirtschaftlichen, gewerblichen, technischen, künstlerischen Leben nicht in den Bereich der juristischen Ausbildung einbezogen werden. Diese hat ein doppeltes Ziel, von dem wir uns nichts abmarkten lassen: das verständnisvolle Aneignen des Rechts und die Charakterbildung, die Bildung der Persönlichkeit, der das Recht Lebensluft, Rechtsbeugung Verbrechen, das Rechtsgebot der oberste irdische Wille ist. Der Rechtsstoff ist das geltende Recht in durch den Lehr- und Lernzweck bestimmter Begrenzung. Ueber diesen Punkt wird unten zu sprechen sein. Hier muss betont werden, dass „verständnisvolles Aneignen“ nicht ein nur gedächtnismässiges bedeutet, denn Kennen ist vom Verstehen des Gesetzes weit entfernt; und das Aneignen, sich zu eigen Machen vollzieht sich nicht nur durch den Intellekt, das lediglich logische Operieren mit dem Gesetz; denn Richten ist nicht „Rechnen mit Begriffen“, das Gesetz kein Turngerüst des Verstandes. Das Recht ist Lebensgebot, sein Inhalt das Gute, soweit es sich zur allgemeinen Norm eignet, seine Anwendung die Emanation dieses Willens, der Gerechtigkeit, die im Gesetz lebt. Daher nennen die Römer die Jurisprudenz die ars boni et acqui, ein Können, das seine letzte Wurzel im rechtlichen Empfinden und Wollen hat. Solche verständnisvolle Aneignung des Rechts, die zu seiner heilsamen Anwendung und seiner Fortentwicklung befähigt, macht den Juristen. Sie bleibt sein Lebensziel und der für die Aus- und Vorbildung massgebende Gedanke – alles andere führt zur Verbildung oder Verkümmerung. Damit ist unser juristisches Ausbildungssystem zur Frage gestellt.

II. Der Zustand.

Die Jurisprudenz ist für uns keine freie Kunst. Sie wird auf staatlichen Lehranstalten wissenschaftlich gepflegt und gelehrt, bei den staatlichen Behörden im Vorbereitungsdienst erlernt, und auch dann, wenn sie, wie in der Anwaltstätigkeit, nicht Amtsinhalt ist, durch öffentliche Prüfungen kontrolliert. Aus solcher offizieller Schulung und Kontrolle gehen unsere Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte, Regierungsbeamte hervor. Durch eine Schlussprüfung wird die Qualifikation zu diesen Berufen erwiesen, m. a. W. festgestellt, dass der Novize des Rechts das Mass juristischer Ausbildung erreicht hat, welches ihn zu selbstständiger Ausübung solcher Funktionen befähigt. – Davon ist auszugehen und dabei hat’s zu bleiben.

Nun zerfällt die Rechtsschulung in den Universitätsunterricht und den Vorbereitungsdienst. Nach Reichsgerichtsverfassungsgesetz § 2 hat der ersten juristischen Prüfung ein mindestens dreijähriges Studium der Rechtswissenschaft vorauszugehen, von dem mindestens drei Semester auf einer deutschen Universität verbracht werden müssen. Der Landesgesetzgebung steht es frei, die dreijährige Studienzeit zu verlängern. Der dreijährige Vorbereitungsdienst findet bei den Gerichten und Rechtsanwälten statt und kann kraft Reichsrechts zum Teil bei der Staatsanwaltschaft verwendet werden, wie nach Landesrecht die Dienstzeit verlängert und zum Teil, aber nicht über ein Jahr hinaus, in der Verwaltung verbracht werden darf.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 3. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_3.pdf/163&oldid=- (Version vom 21.11.2021)