Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Mutter d. Romulus
Band I A,1 (1914) S. 341345
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Silvia (daneben Rhea Silvia; jeder der beiden Namen wird auch allein gebraucht. Rea öfter; Silvia Ovid. fast, III 11. 45; Plut. de fort, Rom. 8. Polyaen. VIII 1. Aelian. var. hist. VII 16. Griechisch korrekt Ῥέα Σίλβια; überliefert ist freilich zumeist Ῥέα Σιλούια, Σίλβια Strab. V 229. Plut. de fort. Rom. 8. Lydus de mag. I 21. In der Einleitung zu dem kyzikenischen Epigramm Anth. Pal. III 19 heißt sie Σερβήλεια, indem der unkundige Grieche die häufige Gens Servilia mit der seltenen Silvia verwechselte. Die Dichter nennen dieselbe Heroine fast nur Ilia. Öfter die verschiedenen Namen nebeneinander, so Dionys. I 76, 3: Ἱλίαν, ὡς δέ τινες γράφουσι Ῥέαν ὄνομα, Σιλουίαν δ’ἐπίκλησιν. Plut. Rom. 3: ταύτην οἱ μὲν Ἰλίαν, οἱ δὲ Ῥέαν, οἱ δὲ Σιλουίαν ὀνομάζουσιν. Cass. Dio I p. 6 [ed. Boissevain]: Σιλουίαν ἢ Ῥέαν Ἰλίαν. Plut. Parall. 36: Σιλουίαν ἢ Ἰλίαν [überliefert: Σ. ἐν Ἰουλίᾳ]. Schwerlich richtig überliefert ist Serv. Aen. VII 659: nomen matris Romuli, quae dicta est Ilia Rhea Silvia. Schließlich Solin. I 17: Romulus, Marte genitus et Rea Silvia, vel ut nonnulli Marte et Ilia . Lydus de mag. I 21: Ῥέᾳ Σιλβίᾳ καὶ Ἰλίᾳ Σιλβίᾳ), die Mutter des Romulus. Die Annahme einer Frauengestalt als der Stammmutter der Römer bezw. als Mutter ihres Eponymus geht im letzten Grunde auf die Tatsache zurück, daß die Griechen naturgemäß den Namen ,Roma‘ mit dem Femininum ,Ῥώμη‘ übertrugen. Davon bis zur Personifizierung dieser Rhome war nur ein Schritt. So erzählte z. B. Kallias, der Historiker des Agathokles, daß die Troianerin Rhome in Italien den Latinus geheiratet und ihm drei Söhne geboren habe, den Rhomos [342] (= Remus), den Rhomylos (= Romulus) und den Telegonos (bei Dionys. I 72). Schon in der Version des Aristoteles über den Ursprung der Römer und Latiner spielen troianische Frauen eine hervorragende Rolle, unter denen freilich keine besonders hervorgehoben wird (bei Dionys. a. a. O.). Jene Troianerin, die so auf der einen Seite zur Mutter des Romulus und Remus wird, wurde auf der anderen Seite auch mit Aeneas verknüpft. So erzählte schon Hellanikos, der ,Chronograph der Herapriesterinnen von Argos‘, daß Aeneas nach Italien gekommen sei und dort eine Stadt gegründet habe, ὀνομάσαι δ’ αὐτὴν ἀπὸ μιᾶς τῶν Ἰλιάδων Ῥώμης (Dionys. a. a. O.). Aus den Mitteilungen der griechischen Schriftsteller krystallisierten sich schließlich zwei Versionen über die Eltern des Romulus und Remus. Nach der einen sind sie einfach die Söhne des Aeneas, nach der anderen aber die Kinder einer Tochter des Aeneas, in der wir unschwer jene ,Troianerin‘ wieder erkennen. Nun war freilich eine peinliche Lücke entstanden, indem ein Vater der beiden Knaben fehlte. Dionys. I 73: Τούτων δέ τινες μὲν Αἰνειου γενέσθαι υἱοὺς λέγουσι Ῥωμύλον τε καὶ Ῥῶμον –. ἕτεροι δὲ θυγατρὸς Αἰνείου παῖδας, ὅτου δὲ πατρὸς οὐκέτι διορίζοντες. Bald löste jedoch ein findiger Literat das Problem, indem er den Kriegsgott selbst zum Vater des Romulus ernannte. Das sind die Elemente der Ilia-Erzählung des 3. Jhdts.: Aeneas hat eine Tochter, die ,Ilia‘ (von Ilǐus), die ,Troianerin‘ (vgl. o.: ἀπὸ μιᾶς τῶν Ἰλιάδων), und mit dieser zeugt Mars den Romulus und Remus. Zur weiteren Belebung dieser Sage hat dann irgend ein Grieche (Diokles von Peparethos?, vgl. Plut. Rom. 3) die Motive des Mythus von der Tyro verwandt, der durch Homer und Sophokles populär geworden war (Trieber Rh. Mus. XLIII 570ff.; s. auch unter Romulus). So nahm die Ilia die Züge der Tyro an, der Tochter des Salmoneus, der sich am Flußufer Poseidon naht, dem sie später die Söhne Pelias und Neleus gebärt. Zur Strafe für ihren Fehltritt wird sie eingesperrt, bis ihre Söhne sie befreien.

Bei den Römern hat zunächst Naevius die Ilia als Tochter des Aeneas auftreten lassen. Serv. Aen. I 273: Naevius et Ennius Aeneae ex filia nepotem Romulum conditorem urbis tradunt. Viel genauer sind wir über die Darstellung des Ennius orientiert. In einem längeren Fragment seiner Annalen (I 35ff.) erzählt Ilia einen Traum, in dem sie ihr künftiges Geschick sah. Sie spricht da zu einer germana soror (v. 41), die sie v. 37 Eurydica prognata nennt. So hieß aber die Gattin des Aeneas; also ist Ilia unbedingt dessen Tochter. So betet sie denn auch v. 52 zur Venus, der genetrix patris nostri (vgl. auch Serv. Aen. VI 777: [Ennius] dicit – Iliam fuisse filiam Aeneae). Neben der Ableitung des Romulus von Aeneas findet sich jedoch bei Ennius schon die zweite, die ihn mit den Königen von Alba verknüpft; denn nach der Geburt der Zwillinge fällt über die Ilia der Albanerkönig Amulius das Urteil, Porphyrio in Hor. carm. I 2, 18: Ilia auctore Ennio in amnem Tiberim iussu Amulii regis Albanorum praecipitata. Leider wissen wir nicht, wie Ennius diese Verbindung hergestellt hat. Vielleicht kamen bei [343] ihm die Kinder des Aeneas nach dem Tode des Vaters in die Obhut des Amulius, wie sonst in die des Latinus. Die gleiche Schwierigkeit bereiten uns die Fragmente des Fabius Pictor. Auch bei ihm war Ilia ohne Zweifel eine Tochter des Aeneas; denn Diodor VII 5 polemisiert gegen diese Ansicht und nennt dann später als Vertreter der von ihm verworfenen Version eben den Fabius (vgl. Mommsen Röm. Forschg. II 268). Aber auf der anderen Seite hat der älteste der Annalisten die Geschichte von der Mutter des Romulus im wesentlichen schon ebenso erzählt, wie wir sie heute bei Livius und Dionys lesen (vgl. die Zitate bei Plut. Rom. 3. Auctor de orig. gentis R. 20. Dionys. I 79). Ob der Zusammenhang des Fabius ein anderer war als der des Ennius, ist unbekannt.

Im Laufe des 2. Jhdts. wurde die ältere Erzählung gründlich umgestaltet, und außerdem erhielt die Ilia einen neuen Namen. Man empfand die chronologische Schwierigkeit, daß zwischen der Zerstörung von Troia und der Gründung Roms nur eine Generation liegen sollte, und füllte den Abstand durch die Reihe der Könige von Alba aus. Nun konnte die Ilia nicht mehr die Tochter des Aeneas sein, sondern sie erhielt jetzt den König Numitor von Alba zum Vater. Gleichzeitig wurde ihr wohl auch der Name Rhea erteilt, da die Bezeichnung: ,Ilierin‘ zu ihrer neuen Ahnenreihe nicht recht paßte. Der unbekannte Autor, der jene Bezeichnung zuerst aufbrachte, machte sich die Mühe, die Ilia umzutaufen, recht leicht. Er suchte die griechischen Götter und Mythen auf eine typisch mütterliche Gestalt ab und wählte dann die nächstliegende, die ,Göttermutter‘ Rheia (oder Ῥέα), die Mutter des Zeus. Dabei ist noch eine etymologische Spielerei von Bedeutung gewesen. War Ilia die Tochter des Albanerkönigs, so gehörte sie auch zu seiner Gens, der Silvia. Sie mußte also, nach römischem Brauch, ebenfalls Silvia heißen (wie Iulia, Cornelia usw.). ,Silvia‘ brachte aber jeder antike Gelehrte unbedenklich mit silva zusammen, dann ergab sich sofort die Übereinstimmung mit Ἰδαία, dem bekannten Beinamen der Rhea, der wirklich diesen Sinn hat (von Ida = Waldgebirge). Dies ist die einzige mögliche Deutung der R. S., wie sie schon Schwegler vertreten hat (Röm. Gesch. I 426ff.). Die vielen anderen Etymologien (zusammengestellt von Höfer bei Roscher Lex. IV 70f.) sind durchweg unbrauchbar. (So z. B. Niebuhrs Deutung als rea die ,Angeklagte‘; dann die ,Laufen machende‘; die Vergleiche mit Remus und Rea-te; schließlich Rea als umbrisch-sabinische Form für dea!!) Die angebliche Ῥέα, die Mutter des Sertorius (Plut. Sert. 2) wird Raia geheißen haben. Der Schriftsteller, bei dem wir den Namen Rhea zuerst finden, ist der Chronograph Kastor (bei Euseb. Chron. I 295, 25 Schoene). Dann z. B. Varro de l. l. V 144 mater Romuli Rhea. Vgl. auch Diels Sibyll. Blätter 95 A. Costa Riv. di storia antica XI 237ff. 631.

Von den römischen Historikern erzählte Vennonius die R.-Episode im allgemeinen noch ebenso wie Fabius (Origo g. R. 20). Später nahmen die Rationalisten an der Vaterschaft des [344] Mars Anstoß, und einer von ihnen kam auf die kluge Idee, daß Amulius selbst der Sünder gewesen wäre. Diese Ansicht vertraten Licinius Macer und M. Octavius (Origo 19; vgl. Dionys. I 77. Liv. I 4, 2). Schließlich hat Valerius Antias nach seiner Gewohnheit die Erzählung romanhaft ausstaffiert (Origo 19). Auf ihn dürfte die spätere Vulgata zurückgehen, wie sie uns am ausführlichsten bei Dionys vorliegt. Sie lautet im wesentlichen (Dionys. I 76ff. Liv. I 3f.; vgl. auch Plut. Rom. 3; Parall. 36. Eutrop. I 1. Florus I 1. Serv. Aen. I 273. de vir. ill. 1. Strabo V 229. Cass. Dio I p. 6 Boiss. Iustin. XLIII 2, 4. Polyaen. VIII 1. Appian Bas. 1. Konon narr. 48. Aelian. var. hist. VII 16. Auct. de praenominibus 1). König Amulius von Alba hatte seinen Bruder, den rechtmäßigen Thronerben Numitor, zum Verzicht genötigt und suchte dessen Familie um jeden Preis auszurotten. Seinen Sohn ließ er auf der Jagd umbringen. Seine Tochter R. zwang er, Vestalin zu werden, um sie so zu lebenslänglicher Ehelosigkeit zu zwingen (dieser Zug schon bei Ennius. Cic. de div. I 40 apud Ennium Vestalis illa). Als sie jedoch eines Tages im Haine des Mars Wasser holt, wird sie von dem Gotte in Menschengestalt (oder von Amulius oder von einem Unbekannten. s. o.) vergewaltigt. In den Details der Schilderung schimmert das Vorbild, wie Poseidon sich der Tyro naht, noch deutlich durch (vgl. z. B. Od. XI 235ff. mit Dionys. I 77). Als sie dann später das Zwillingspaar zur Welt bringt, wird sie von Amulius wegen des Fehltritts bestraft. Über ihr weiteres Geschick gab es zwei Versionen (Dionys. I 79). Nach der einen, die sich streng an die Tyro-Sage hielt, wurde sie nur eingesperrt und dann von ihren Söhnen, als sie erwachsen waren, befreit. Diese Szene war z. B. auf einem Relief im Tempel der pergamenischen Königin Apollonis zu Kyzikos dargestellt (Einleitg. zu Anth. Pal. III 19). Die andere Version suchte dagegen das Verhältnis zwischen Tyro und dem Flußgott Enipeus nachzubilden und ließ darum die R. zur Gattin des Tiber werden. Dann erzählte man so: Amulius ließ die R. zur Strafe in den Tiber werfen, wo sie jedoch der Gott dieses Flusses, oder der des Anien, zur Gattin nahm. Diese Version fand sich schon bei Ennius (Porphyrio in Hor. carm. I 2, 18; vgl. Ann. I 54 V.). Der Anien als Gatte z. B. Sen. Aen. I 273: (die Zwillinge), quos cum matre Amulius praecipitari iussit in Tiberim. tum, ut quidam dicunt, Iliam sibi Anien fecit uxorem, ut alii, inter quos Horatius, Tiberis. Manche Autoren haben wohl die Schicksale der R. nach der Geburt ihrer Söhne gar nicht weiter verfolgt und sich mit einer Wendung wie sacerdos vincta in custodiam datur (Liv. I 4, 3) begnügt. So fand Iustin. in seiner Vorlage nichts über das Ende der R. und ließ sie darum höchst albern an der Fesselung selbst sterben (a. a. O.: Ream .... vinculis onerat, ex quorum iniuria decessit).

Die ausführliche und sehr bekannte Behandlung der Ilia-Geschichte bei Ennius (vgl. Ovid. Tristia II 259) hat dazu geführt, daß auch die späteren Dichter gern die R. auftreten lassen, die sie mit Rücksicht auf Ennius fast stets Ilia [345] nennen. So Verg. Aen. I 273. VI 778. Tibull. II 5, 51. Stat. silv. I 2, 242f. II 1, 99. Ovid. fast. II 598. III 9ff.; amores III 6, 45ff. Horat. carm. I 2. 17. IV 8, 22. III 9, 8, vgl. auch III 3, 32; serm. I 2, 126. Claudian. Probino et Olybrio cons. 225. Daß die Dichter vor allem an die Ilia des Ennius denken, zeigen recht hübsch die Attribute, in denen sie ihre troianische Abkunft charakterisieren (Troica sacerdos bei Horat. carm. III 3, 32; vgl. Verg. Aen. VI 778 Assaraci – sanguinis Ilia mater). Um das Zusammentreffen zwischen Mars und der R. S. möglichst pikant zu gestalten, wird es gewöhnlich in der Form dargestellt, daß der Gott die Vestalin schlafend am Ufer überrascht. Stat. silv. I 2, 242f.: victa sopore doloso Martia fluminea posuit latus Ilia ripa; vgl. Ovid. fast. III 9ff. Dieses Motiv ist für die Darstellung der R. in der Kunst maßgebend geworden. Wir haben eine ganze Reihe von Darstellungen, in denen Mars vom Himmel herabkommt, nackt, aber mit Helm und Schild, Lanze und Schwert versehen. Unten liegt gewöhnlich am Ufer die schlafende R., mit nacktem Oberkörper (vgl. z. B. das Gemälde aus den Thermen des Titus, abgebildet: Baumeister Denkmäler II 886 und das Relief aus Aquincum abgeb. Roscher Lex. IV 65. Für die übrigen Kunstwerke s. unter Mars sowie die Aufzählung Höfers bei Roscher a. a. O.). Helbig vermutet, daß das Motiv der schlafenden R. dem der schlafenden Ariadne nachgebildet ist (Campan. Wandmalerei 6). In einer anderen Situation haben wir die R. zunächst auf der sog. Ara Casali (Helbig Führer durch die Sammlungen in Rom² nr. 162). Auf dem ersten Streifen der Rückseite nähert sich der Gott in der üblichen Weise der schlafenden R. Auf dem zweiten Streifen sehen wir jedoch die vollbekleidete R. S. auf einem ansteigenden Felsen sitzen mit den Zwillingen im Schoß. Sie wendet den Kopf hilfesuchend nach oben. Von rechts treten an sie zwei Männer heran, die wohl Abgesandte des Amulius sind. Links liegt der Flußgott Tiber am Boden. Sodann stellt ein Wandgemälde vom Esquilin anscheinend drei Szenen aus dem Leben der R. dar (vgl. Helbig Führer² 1165). Auf dem ersten Bild nötigt Amulius die R., Vestalin zu werden. Auf dem zweiten überrascht sie Mars beim Wasserholen. Der Künstler folgt also noch korrekt den Angaben der Historiker. Auf dem dritten Bild endlich spricht Amulius über R. das Urteil. Die Liebe des Mars zur R. wurde gern als Verzierung auf Waffen dargestellt. Einen solchen Helm erwähnt Iuvenal XI 106; für Schilde bezeugen es Claudian I 96 sowie Apollin. Sidon. carm. II 395.

In der Spätzeit übten die Christen wie an den anderen anstößigen Mythen so auch an dem Verhältnis zwischen dem Gotte und der Vestalin R. scharf Kritik (Augustin de civ. dei III 5). Vergil, der die Namen der alten Überlieferung gern frei verwendet, hat der R. schließlich noch eine Doppelgängerin geschaffen. Aen. VII 659 läßt er eine Rhea sacerdos auftreten, die von Hercules die Mutter des Aventinus wird (vgl. auch Servius zu dem Vers).