Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Meervogel
Band XI,1 (1921) S. 115117
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Keiris, ein Meervogel. Die Namensform κεῖρις steht bei Hesych. κεῖρις· ὄρνεον ἱέραξ, οἱ δὲ ἀλκυόνα, und ist vom Dichter der Ciris übernommen, durch den alle späteren Lateiner, zunächst Ovid, die rein gelehrte Bezeichnung kennen werden (Thes. ling. lat. III 1188). Die Schreibung wird gewährleistet durch die Etymologie von κείρειν Cir. 488 esset ut in terris facti de nomine ciris. Ovid. met. VIII 150 vocatur Ciris et a tonso est hoc nomen adepta capillo. Daneben findet sich die Schreibung κίρρις (Paraphr. Dionys. Hesych. Etym. M.), doch heißt so meist ein von Oppian. hal. I 128. III 188 genannter Fisch. Etym. M. κίρρις ὁ ἰχθύς, ἐπειδὴ κιρρός (gelb) ἐστι τὴν χροιάν· κερὶς δὲ διὰ το ε Derselbe ist wohl der von Diphilos von Siphnos bei Athen. VIII 355c genannte und als ἁπαλόσαρκος, εὐκοίλιος, εὐστόμαχος beschriebene κηρίς, dessen Saft παχύνει καὶ σμήχει. Vgl. Knaack Rh. Mus. LVII 223f. In diesen Fisch (cirim) wird Skylla nach der bei Hyg. fab. 198 vorliegenden Version verwandelt (s. u.).

Vom Aussehen des Vogels geben die dichterisch unbestimmten Angaben in der Ciris keinen ganz deutlichen Begriff. K. heißt candida v. 205 (vgl. 503 marmoreum), hat aber v. 51 caeruleae alae und 502 mollis varios intexens pluma colores, ferner einen roten Schopf (501 puniceam concussit apex in vertice cristam), dünne rote Beine und Krallen (v. 505ff.). Der Dichter hat schwerlich noch einen Begriff von dem Aussehen des Vogels, und dieser mag schon vorher nur als naturhistorisch-mythologisches Paradoxon existiert haben. Am ehesten paßt die Beschreibung auf einen Reiher, wie schon Scaliger gesehen hat (vgl. Roscher Myth. Lex. III 429, dessen mythologische Folgerungen abzulehnen sind). Zu diesem stimmt auch die Feindschaft mit dem Seeadler (Aristot. hist. an. IX 1 p. 609 b 7. 25. Brehm Tierleben² II 1, 665. 3, 374). Jedenfalls kann die Ciris keinen Habicht oder Eisvogel meinen.

Diesen Vogel in eine Verwandlungssage hineinzuziehen bot wohl die Etymologie den Anlaß (s. o.); sie legte den Gedanken an Skylla nahe, die ihres Vaters Locke abgeschnitten hatte. So ist denn die Verwandlung der Skylla in den Vogel K. von einem Alexandriner ausgeklügelt worden; um echte Sage kann es sich natürlich nicht handeln. Ein anderer zog die Verwandlung in den Fisch vor: diese Version finden wir bei Hygin (s. o.) und Serv. Aen. VI 286 illa Nisi (Scylla) secundum alios in avem conversa est, secundum alios in piscem. In der Ciris (v. 485ff.) wird dagegen polemisiert. Dazu kam vielleicht schon beim Schöpfer dieser Erfindung der Wunsch, die Feindschaft zwischen dem Seeadler und der K. zu begründen (vgl. Ähnliches aus Alexander von Myndos bei Wellmann Herm. XXVI 510. 558): so ließ er Nisos in einen ἁλιαίετος verwandelt werden. So außer Cir. 191. 528 Dionysios [116] Ornithiaka (Paraphr. II 15 ἡ δὲ κίρρις … μισεῖται δὲ παρὰ πάντων ὄρνεων, κἂν ἁλιαίετος αὐτὴν θεάσηται πλανωμένην, εὐθὺς ἐπιθέμενος διαφθείρει) und, was für das relative Alter dieses Zuges spricht, auch bei der Fischverwandlung (Hyg. hodieque si quando ea avis eum piscem, natantem conspexerit, mittit se in aquam raptumque unguibus dilaniat); s. auch Ovid. met. VIII 145. Die Ciris schließt sehr passend mit diesem Aition, und die Ansicht, daß gerade diese Schlußverse aus Vergil entlehnt seien (zuletzt Leo Herm. XLII 59), stößt sich sofort an der Erwägung, daß auch im griechischen Original an dieser Stelle etwas Ähnliches gestanden haben muß. Dazu kommt Folgendes. Bei Verg. Georg. I 404 sind die den Kampf zwischen K. und Seeadler beschreibenden Verse, die sich mit den Schlußversen der Ciris fast wörtlich decken, in eine Reihe von aus Arat entlehnten Wetterzeichen eingelegt; falls sie hier, wie Leo annimmt, ursprünglich sind, so muß schon in hellenistischer Dichtung (wie Leo vermutet, bei Boios) der Kampf der beiden Vögel diesen Sinn gehabt haben. Das behauptet auch Leo, aber sein Nachweis ist nicht geglückt. Denn die Vorlage der Ciris konnte zwar mit einem Aition für die dauernde, aus der Natur der beiden Vögel sich ergebende Feindschaft schließen, aber nicht mit einem immer doch nur bisweilen auftretenden Wetterzeichen. Und aus der dauernden Feindschaft konnte auch gar kein Wetterzeichen gemacht werden. Wenn Boios (Ant. Lib. 11, 10) am Schlusse der Aedongeschichte bemerkte, daß der Pelikan für Zimmerleute, der Wiedehopf für Schiffer günstig sei, zumal wenn er mit dem Seeadler oder Eisvogel auftrete, so ist das doch etwas anderes. Andererseits ist der Gedanke, daß Vergil aus diesem am Schlusse der Ciris stehenden Aition, etwa um dem ihm befreundeten Dichter ein Kompliment zu machen, gegen dessen ursprüngliche Natur ein Wetterzeichen macht, nicht ganz so ungeheuerlich, als es scheint; Vergil hat auch sonst durch die Anlehnung an Vorbilder kleine Unzuträglichkeiten verursacht (s. Norden Ennius und Vergil, Leipzig 1915, bes. 35. 153), und diese wiegt deshalb nicht so schwer, weil niemand in seinem ‚Lehrgedicht‘ sachliche Belehrung suchte. Auch hatte er ja nicht die Vorgeschichte der beiden Vögel erzählt, aus der sich ergab, daß sie immer miteinander kämpfen mußten. Das Verhältnis der beiden Stellen zueinander bleibt also nach wie vor ein Eckpfeiler für die an der Priorität der Ciris vor Vergil festhaltenden Gelehrten. Doch läßt sich nicht verkennen, daß andere Stellen, wenn auch nicht so eindeutig, für das umgekehrte Verhältnis zu sprechen scheinen.

Wieweit einzelne alexandrinische Dichter an der Ausgestaltung der Sage beteiligt sind, ist meist schwer auszumachen. Kallimachos hatte in der Hekale von Skylla gesprochen (frg. 139. 184. Knaack 216) und die Vermutung liegt nahe, daß sein Buch über die Vögel in der Geschichte der Erzählung eine Rolle spielte. Allgemeinen Beifall hat Heynes von Rohde Gr. Roman 93 aufgenommene Vermutung gefunden, daß die Vorlage der Ciris ein Epyllion des Parthenios sei (Zweifel bei Leo 61); weitere unsichere Vermutungen bei Knaack Rh. Mus. LVII 205.[117] Vgl. die Art. Nisos, Parthenios und Skylla.

[Kroll. ]