Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Boiot. Ort
Band IX,1 (1914) S. 11661169
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Hyria (Ὑρία) ist die erste Ortschaft, welche die Βοιωτία erwähnt, Hom. Il. II 496 οἵ θ’ Ὑρίην ἐνέμοντο καὶ Αὐλίδα πετρήεσσαν, also zusammen mit Aulis. Nach den antiken Homererklärern lag H. tatsächlich in der Nähe von Aulis: Apollodor bei Strab. IX 404. Schol. D z. d. St. Steph. Byz. s. Ὑρία [daraus Eustath. Il. 264, 40]; und zwar am Euripos nach Steph. Byz. Die Stätte von H. war damals noch bekannt (s. u.); Apollodor verwendet den angeführten Vers als Beweis dafür, daß der Dichter zum Teil benachbarte Orte zusammen nenne (Strab. VIII 376 ἔνια μὲν χωρία λέγει συνεχῶς); wer die Solidität seiner Forschung kennt, wird daraus entnehmen, daß er unabhängige Zeugnisse über die Lage von H. besaß. Ein Fragment Theopomps FHG I 318, 237 bei Steph. Byz. s. Χαλία, das H. zusammen mit Chalia nennt, hilft uns nicht weiter: τήν τε Χαλίαν καὶ τὴν καλουμένην Ὑρίαν, ἤπερ ἐστὶν ἐφεξῆς ἐκείνης; denn die Lage von Chalia, das nur an dieser Stelle genannt wird, ist durchaus unbekannt; Ross Wanderungen II 126ff. Bursian Geogr. I 215, 3 gegen Ulrichs Reisen und Forschungen II 35. Oberhummer o. Bd. III S. 2064, 1ff.

Für die Gegend am Euripos bei Aulis, in der wir also H. zu suchen haben, gibt die genauste Aufnahme des Geländes und der erhaltenen Ruinen Admiralty Chart 2802 (Maßstab etwa [1167] 1:20500), danach die Skizze o. Bd. III S. 2079; zur Ergänzung ist die Carte de la Grèce zu benutzen. Aulis lag vermutlich auf der Halbinsel zwischen den beiden Buchten μεγάλο und μικρὸ Βαθύ, s. Oberhummer o. Bd. II S. 2409f. Frazer Paus. V 72. Nordwestlich davon erhebt sich das Megálo Vunó [nach Ulrichs 42, 11 auch τὸ βουνὸ τοῦ Βαθίου oder τοῦ Κάστρου], nach der Schätzung von Frazer (66) 250 bis 300 m hoch, steil und kahl, aus nackten Kalkfelsen. Seinen Nordfuß bespült die große Bucht südlich von Chalkis, seinen Ostfuß die Bucht Mikró Vathý; seinen Südabhang begleitet ein kleines Tal, das sich nach der Bucht Megálo Vathý hinzieht; nach Westen hängt es über einen flachen Sattel mit der Bergkette zusammen, die in unregelmäßigem, flachem, nach Norden geöffnetem Bogen zum Messapion zieht und wie ein Wall die Halbinsel Chalkis gegenüber von Boiotien trennt. Etwa in der Mitte zwischen Messapion und Megálo Vunó überschreitet die Straße von Theben nach Chalkis diese Kette in dem Anephorites-Paß. Die antike Straße von Chalkis nach dem südöstlichen Boiotien, Tanagra und Oropos, umzog den Nord- und Ostfuß des Megálo Vunó, wie die eingeschnittenen Geleise beweisen, s. Frazer Paus. V 70 und Adm. Chart. Über den Sattel westlich vom Megálo Vunó führt ein stark zerstörter türkischer Reitweg. Der lange schmale Rücken des Megálo Vunó (etwa 900 m zu 200–250 m) erstreckt sich von Osten nach Westen; Frazer verschiebt die Himmelsrichtungen um 90°. Ungefähr in der Mitte seiner nördlichen Seite trägt er eine kleine Kuppe, die als Akropolis befestigt ist. Beschreibungen der Ruinen geben Leake NG II 264. Ulrichs II 42f. [danach Bursian I 217f.]. Frazer V 66f. [am genausten]. Lolling Urbaedeker 25. Die Maße gebe ich nach Admiralty Chart 2802. Der umschlossene Raum ist etwa 230 m lang und 100 m breit. Die Mauer, 2,40–3 m breit (Lolling) und stellenweise an 2 m hoch erhalten, ist in der üblichen Weise aus zwei Fassaden mit Zwischenfüllung erbaut. Die Südmauer, die am leichtesten anzugreifen war, ist durch 8–9 vorspringende viereckige Türme verstärkt; diese nähern sich dem Quaderbau, während die Mauer aus unregelmäßigen Steinen aufgeführt ist. Tore finden sich in der Südmauer zwei, in der Ostmauer eins, außerdem eine Pforte im Nordwesten. Im Inneren ist bemerkenswert ein große in den Felsen eingehauene Zisterne. Der Boden ist mit Bruchsteinen und Scherben unbestimmten Alters bedeckt. Im Osten und Westen (Ulrichs 43) an diese Akropolis anschließend, umzieht eine zerfallene schwächere Mauer (Ulrichs 43) den ganzen Rücken des Berges nahe seinem Rande [von Frazer 67 nicht richtig beobachtet, auch auf Adm. Chart fehlt im Westen der Anschluß an die Akropolismauer]; nach Frazer 68 ist ihre Bauweise der der Akropolismauer ähnlich. Der umschlossene Raum ist mit dem Steinschutt zerfallener Häuser bedeckt. An diese äußere Mauer setzt im Westen eine Mauerlinie an, die über die oben beschriebene Bergkette hinläuft, den Anephorites kreuzt und noch eine Strecke weit zum Messapion hinaufsteigt (Ulrichs 32. 43f. Frazer 70). Nach [1168] Ulrichs führt sie den Namen τὸ Δέμα. Von der gesamten Anlage ist die Akropolis sicher griechischen Ursprungs, und dasselbe gilt vermutlich auch von der äußeren Mauer nach Frazers Bemerkung über ihre Bauweise; in ihr wird man die Stadtmauer erblicken. Unsicher bleibt das Urteil über die Linie nach dem Messapion; über ihre Bauart und ihren Anschluß an die Stadtmauer ist nichts bekannt. Die Stadt auf dem Megálo Vunó bezeichnet die Carte de la Grèce als Aulis; Welcker Tagebuch II 97 hat es übernommen. Das bedarf keiner Widerlegung. Leake N. G. II 247f. 251ff. verlegte hierher Mykalessos; ihm folgen Lolling Hellen. Landesk. 126. Admiralty Chart 2802 und danach Oberhummer Skizze o. Bd. III S. 2079. Allein bei Leake sind alle zwischen Theben und Chalkis liegenden Örtlichkeiten nach Osten verschoben, weil er den Teumessos nicht erkannt hat; und Lolling hat in dem verwickelten Gelände die Übersicht verloren, so daß er glaubt, das Megálo Vunó liege am Anephorites, während die Entfernung in Luftlinie 4 km beträgt. Daß Mykalessos nicht auf dem Megálo Vunó gelegen haben kann, haben Frazer Paus. V 69 und Burrows und Ure Ann. Brit. School Athens XIV 236ff. erwiesen. Dagegen entspricht die Lage den antiken Angaben (s. o.) über H. vollkommen, und umgekehrt wissen wir von keiner anderen Stadt, für die man die Ruinen in Anspruch nehmen könnte. U1richs II 44. Ross Wanderungen. II 108. Bursian I 217f. R. Kiepert FOA XIV. Guide Joanne 1909, 291. Fimmen Neue Jahrb. 1912, 529, 4.

Als bewohnte Stadt wird H. außer Hom. Il. II 496 nur in einem Fragment Theopomps (s. o.) aus dem 45. Buch der Philippika erwähnt, wo er in einem Exkurs auf die alten Fehden der Chalkidier mit ihren Nachharn auf dem Festland eingegangen zu sein scheint (Schaefer Demosth. II 537, 5). In hellenistischer Zeit kannte man H. nur noch als eine χώρα (Steph. Byz.) oder ein χωρίον (Schol. D zu der Iliasstelle); ἦν δὲ καὶ πρότερον πολίδιον bemerkt Steph. Byz. Nach Apollodor bei Strab. IX 404 gehörte H., d. h. also das Gebiet, damals zu Tanagra, während es früher zu Theben gehört hatte. An Theben wird es 457/6 gekommen sein (E. Meyer Theopomps Hellenika 100f. Hermann-Swoboda Griech. Staatsaltertümer 256f.), an Tanagra in hellenistischer Zeit (E. Meyer 97), genauer 316 (Swoboda 272). Diese dürftige literarische Überlieferung läßt sich aus andern Quellen nur wenig ergänzen. Der Name der Stadt ist nach v. Wilamowitz Herm. XXI 105, 1. Berl. Klass.-Texte V II 52, 3 ursprünglich identisch mit dem von Hysiai am Kithairon und zeugt durch den Rhotazismus für die alte graische Bevölkerung; im wesentlichen zustimmend E. Meyer Gesch. d. Alt. II 193. Bemerkenswert ist der Niederschlag, den H. in der Sage hinterlassen hat, s. O. Müller Orchomenos² 458. Hyrieus gilt als Gründer von H.: Schol. ABD zu Hom. Il. II 496. Steph. Byz. s. Ὑρία. Et. Magn. 784, 52. Die Zeugung des Orion Roscher Myth. Lex. III 1030f.] verlegen nach H. Apollodoros bei Strab. IX 404 [zitiert [1169] Pind. frg. 73]. Schol. Hom. Od. XI 572. Nonn. Dion. XIII 96ff. Es gilt als Heimat von Lykos und Nykteus (Apollod. III 41), von Antiope (Steph. Byz. s. Ὑρία Hes. frg. 132 [153]; vgl. Wernicke o. Bd. I S. 2495, 60ff.), von Euphemos [Hes. frg. 143 (152)]. In der Einschätzung der religionsgeschichtlichen Bedeutung von H. scheint mir Gruppe (Index zu seiner Griech. Myth. II 1777) zu weit zu gehen. Gar nicht berührt sind bisher die Probleme, die sich aus der topographischen Forschung ergeben. Auf einem kahlen Kalkberg gelegen, ohne Wasser, soweit es nicht die Zisternen lieferten, und fast ohne Ackerland, konnte diese Stadt nur durch den Handel existieren. Dann kann H. nie etwas anderes gewesen sein als ein Vorposten von Chalkis, was auch Gruppe I 67 annimmt. An die Blüte von Chalkis war die Existenz von H. geknüpft. Ob die Ruinen auf dem Megálo Vunó in eine so alte Zeit gerückt werden können, läßt sich ohne genauere Untersuchungen, womöglich Grabungen, nicht entscheiden. Auch die Frage nach Alter und Bedeutung des Dema ist vorläufig nicht zu beantworten. Nur daß man in ihm immer ohne weiteres eine Anlage der Thebaner zum Schutz gegen Angriffe von Chalkis her erblickt hat (Ulrichs II 44. Bursian 1217. Frazer V 70), kann man schon jetzt als unberechtigt bezeichnen. Burrows und Ure Ann. Brit. School Athens XIV 234 haben mit Recht darauf hingewiesen, daß ohne den Schutz des oben geschilderten Bergwalls Chalkis und Euboia überhaupt unfehlbar in Abhängigkeit von Boiotien geraten wäre. Die Chalkidier also bedurften des Schutzes, und deshalb müßte man a priori ihnen diese Anlage des Dema zuschreiben. Dann würde auch die Anlage in eine sehr frühe Zeit hinaufrücken. Es verdient bemerkt zu werden, daß die ganz ähnliche, sicher antike Anlage in Attika zwischen Parnes und Aigaleos, die gleichfalls Dema heißt (Milchhöfer s. o. Bd. II S. 2192, 63ff.; s. Photogr. des Instituts in Athen nr. 4138ff., Verzeichnis von M. Bieber I 235f.), ebenfalls in den Ereignissen der historisch bekannten Zeit nicht unterzubringen ist.

[Bölte. ]

Nachträge und Berichtigungen

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Band R (1980) S. 129
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Hyria

[a]) Boiot. Ort. IX 1166.