Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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altrömischer Kultbrauch bei der Belagerung, an die Götter der Feinde
Band VI,1 (1907) S. 11521153
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Evocatio (deorum), altrömischer Kultbrauch, vermittels dessen bei der Belagerung einer feindlichen Stadt vor dem entscheidenden Sturme die Götter der Feinde aufgefordert wurden, Stadt und Sache der Feinde aufzugeben und die ihnen in Rom angebotene neue Kultstätte und Verehrung anzunehmen. Er wird meist in Verbindung mit der Tatsache erwähnt, daß die Römer [1153] den Namen der eigentlichen Schutzgottheit ihrer Stadt verborgen hielten, und zwar im Anschlusse an Verrius Flaccus, der den Brauch der E. zur Erklärung jener Tatsache herangezogen hatte (Plin. n. h. XXVIII 18, vgl. Münzer Beitr. z. Quellenkritik der Naturgesch. des Plinius 308. Plut. Q. R. 61. Macrob. Sat. III 9, 2. Serv. Aen. II 351). Auf denselben Gewährsmann geht jedenfalls auch die Mitteilung des bei der E. zur Anwendung kommenden, aus den Pontificalschriften stammenden (durat in pontificum disciplina id sacrum Plin. a. a. O.) carmen zurück, das uns jedoch bei Macrob. Sat. III 9, 7. 8 (Bezugnahme auf eine Stelle des Formulars bei Serv. Aen. II 244) nur in überarbeiteter Gestalt vorliegt. Denn wenn auch das Formular in seinen Grundzügen den Eindruck der Echtheit und Altertümlichkeit macht (s. über die Form zuletzt C. Thulin Italische sakrale Poesie und Prosa, Berlin 1906, 59ff.), so ist es doch sicher auf spätere Überarbeitung zurückzuführen, wenn die Formel auf Carthago eingestellt ist; denn es steht aus der Praxis unbedingt fest, daß die Römer die Anwendung der E. und Aufnahme der Gottheiten eroberter Städte auf die stammverwandte Nachbarschaft in Latium und dem südlichen Etrurien beschränkt haben (Wissowa Religion und Kultus d. Römer 43f.) und die Behauptung (Serv. Aen. XII 841), die Stadtgöttin von Karthago, die Caelestis, sei bereits bei der Einnahme der Stadt durch den jüngeren Scipio Africanus evoziert und nach Rom überführt worden, apokryph und erst nach der durch Septimius Severus erfolgten Aufnahme dieser Göttin unter die stadtrömischen Kulte erfunden ist (Wissowa a. a. O. 313); da der mittelbare Gewährsmann des Macrobius, Serenus Sammonicus (Wissowa Herm. XVI 502ff.), der Zeit eben dieses Kaisers angehört, wird man diesen Mann für die Umgestaltung des Formulares verantwortlich zu machen haben. Den wirklichen Tatsachen entspricht es, wenn Livius (V 21, 3. 5) dem Camillus bei der Belagerung Veiis eine E. der Stadtgöttin Iuno Regina in den Mund legt; denn diese Göttin hatte in der Tat einen Tempel in Rom und ihr Kult gehörte zu den peregrina sacra, quae evocatis dis in oppugnandis urbibus Romam sunt conlata (Fest. p. 237 a 7). Über die sakralrechtliche Auffassung der E. s. A. Pernice S.-Ber. Akad. Berl. 1885, 1157. Wissowa Relig. u. Kultus 321.