RE:Diktynna
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft | |||
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Kretische Göttin | |||
Band V,1 (1903) S. 584 (IA)–588 (IA) | |||
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Diktynna (Δίκτυννα), eine kretische Göttin, deren Name mit den Diktebergen auf Kreta zusammenzuhängen scheint. Sie wurde verehrt auf Bergen, auf Vorgebirgen am Meer, in Küsten und Hafenstädten, als Schutzgöttin zu Wasser und zu Lande; ebenso wie der Artemis, mit der sie später identificiert wurde, waren ihr auf dem Lande Berg und Jagd, auf dem Meere die Schifffahrt lieb; Jäger und Seefahrer scheinen sie besonders verehrt zu haben, und auch für die ältere Zeit, da die Gleichsetzung mit Artemis dem Wesen der D. noch keine neuen Züge hinzugefügt hatte, dürfte die Charakteristik gelten, welche Eurip. Hippol. 145ff. giebt, indem er von der πολύθρονος Δίκτυννα sagt: φοιτᾷ γὰρ καὶ διὰ λίμνας χέρσον θ’ ὑπὲρ πελάγους δίναις ἐν νοτίαις ἅλμας.
Von der Verehrung der D. auf Kreta zeugen die kretischen Münzen mit der Beischrift Δ. (Head HN 576), unter denen besonders bemerkenswert diejenigen sind, welche die D. als Pflegerin des am Dikte geborenen Zeuskindes darstellen, Head HN 575. Catalogue of greek coins in British Mus., Crete S. 3ff. Taf I 9. Im übrigen ist der Cult namentlich für den westlichen Teil von Kreta nachzuweisen, wo zwischen Kydonia und Phalasarna das bekannte Diktynnaion, der Tempel der D., auf einem ins Meer vorspringenden Berge lag, den Strab. X 479 Tityros nennt, während er sonst zumeist als ὄρος oder ἀκροτήριον Δικτύνναιον (so auch Strab. X 484) bezeichnet wird. Erwähnt wird dieses Heiligtum – abgesehen von Kallimachos u. a., über deren Erzählungen unten berichtet wird – auch von Herodot. IIΙ 59. Strab. X 479. Dionys Calliph. descript. Graec. 118ff. Anth. Plan. 258. Phiostrat. vit. Apoll. VIII 30. Auf Münzen von Kydonia [585] findet sich das Bild der D. (Head HN 594. Catalogue coins Brit. Mus., Crete 30 Taf VII 16), ebenso auf Münzen der Nachbarorte Polyrhenion Head a. a. O. 599. Catalogue a. a. O. 66ff. Taf. XVI 11f. XVII 3) und Phalasarna (Head a. a. O. 607. Catalogue a. a. O. 65 Taf. XVI 7ff.).
Von Kreta aus verbreitete sich der Cult über die Inseln und die verschiedensten Gebiete des griechischen Mutterlandes (s. u.), so dass noch Plutarch de sollert. animal. 36 sagen konnte, ihre Tempel und Altäre finde man bei vielen Hellenen. Dabei scheint man an manchen Orten D. noch bis in spätere Zeiten als selbständige Göttin aufgefasst zu haben, während an anderen Plätzen in Übereinstimmung mit dem Bestreben der Dichter und Gelehrten, die Götterwelt zu vereinfachen und dem sog. engeren olympischen Götterkreise allgemeine Anerkennung zu verschaffen, D. mit Artemis identificiert wurde. Ob Eurip. Hippol. 146. 1130 und Aristoph. Wesp. 368 noch für eine selbständige Göttin D. als Zeugen angerufen werden können, sei dahingestellt; jedenfalls war die Gleichsetzung damals längst vollzogen. Denn Eurip. Iph. Taur. 127 nennt die Artemis kurzweg ὦ παῖ τᾶς Λατοῦς Δίκτυνν’ οὐρεία, und als Beiwort führt Artemis die Bezeichnung D. bei Aristoph. Frösche 1359 (ebenso z. B. auch Orph. Hymn. XXXVI 3. Plut. de sollert. animal. 36. Hyg. fab. 261. Serv. Aen. II 116. Myth. Vat. I 20. II 202). Dass hierbei D. ursprünglich der kretische Name war, wird oft betont, vgl. z. B. Palaiphat. de incredib. 32. Apul. met. XI 5; andere dagegen machen gar keinen Unterschied zwischen D. und Artemis (vgl. z. B. Ovid. met. II 441).
Der Gleichsetzung von D. und Artemis folgte parallel mit der Mythenbildung, die sich bei so zahlreichen Gestalten der griechischen Sage nachweisen lässt, die weitere Sagenwendung, dass D. von Anfang an eine Stufe niedriger als die Göttin Artemis gestanden habe, dass sie nur eine Halbgöttin, eine Nymphe, eine Begleiterin und Dienerin der Artemis gewesen sei, und da eine zweite Gestalt der kretischen Götterwelt, Britomartis (s. o. Bd. III S. 880) auf ähnliche Weise zu einer Nymphe und Begleiterin der Artemis herabgesetzt war, identificierte die Dichtung D. und Britomartis und schuf eine complicierte Sagenform, die uns zuerst bei Kallim. Hymn. III 189ff. begegnet. Kallimachos erzählt: Minos habe die von Artemis besonders geliebte Britomartis mit Liebeswerbungen bedrängt und sie neun Monate hindurch unablässig durch Kretas Bergwälder verfolgt; beinahe von ihm ergriffen, habe Britomartis sich von einem hohen Felsen aus ins Meer gekürzt, sei in die Netze von Fischern geraten und dadurch gerettet worden; deswegen nannten die Kydoner von den Netzen (δίκτυα) die Nymphe selbst D. und den Gipfel, von dem sie ins Meer sprang, das ὄρος Δικταῖον; sie errichteten Altäre und stifteten einen Cult, bei dem zur Bekränzung nur Fichte und Mastix (ἢ πίτυς ἢ σχῖνος), aber keine Myrte verwendet werden darf; denn da sich ihre Gewänder in einen Myrtenzweig verfangen hatten, zürnte sie der Myrte. Von der Abneigung der D. gegen die Myrte erzählt in gleicher Weise Nikand. Alexiph. 618 nebst Schol. zu 618 u. 621. Im übrigen wird unter Anlehnung an Kallimachos [586] die ganze Sage mit mannigfachen, für die Grundzüge des Mythos bedeutungslosen Variationen wiedergegeben bei Nikand. frg. 67 = Antonin. Liberal. 40. Paus. II 30, 3. Schol. Eurip. Hippol. 146. 1130. Vergil. Cir. 285ff. (über die Verschmelzung der D. mit Aphaia u. a. bei Nikand. Paus. und Verg. s. u.). Ebensowenig Gewinn für die Deutung der Sage ergeben die gegen Kallimachos gerichteten Wendungen bei Diodor. V 76 und Schol. Aristoph. Frösche 1356. Diodor polemisiert gegen die Möglichkeit, dass D. als Göttin durch Menschenhülfe gerettet sein könnte und dass Minos so ruchlos gewesen sei; nicht den Fischernetzen, sondern den Jagdnetzen, deren Erfinderin sie war, verdanke D. ihren Namen, und als Jägerin und Jagdgenossin der Artemis sei sie zu göttlichen Ehren auf Kreta gelangt. Schol. Aristoph. a. a. O. (vgl. auch zu Wesp. 368) führt gleichfalls den Namen D. auf die bei der Jagd gebräuchlichen Netze zurück und bemerkt, Britomartis sei bei der Jagd in Netze hineingeraten und von Artemis gerettet worden, weshalb sie zum Dank ein Heiligtum der Artemis D. stiftete. Andere Weiterbildungen der von Kallimachos erzählten Sage finden sich bei Mythogr. Vat. II 26, wo Bryte (= Britomartis, s. o. Bd. III S. 929) die von Minos Verfolgte ist, die sich ins Meer stürzt; ihr Körper wird mit Fischernetzen emporgezogen, und um der als Strafe folgenden Pest ein Ende zu bereiten, wird der Artemis D. ein Tempel errichtet; ferner bei Serv. Aen. III 171, wo die von Minos verfolgte und in Fischernetzen gerettete Nymphe von den δίκτυα Dikte und das Land das diktaiische genannt wird.
Über die Bedeutung der Erzählung des Kallimachos gehen die Urteile weit auseinander. Schon im Altertum hat man Kallimachos vorgeworfen, er habe den D.-Cult von Kydonia und das Diktynnaion im Westen der Insel Kreta irrtümlich zusammengeworfen mit dem Dikteberg im Osten der Insel, vgl. Strab. X 479 nach Apollodor (auf dessen Polemik gegen den Dichter auch die Correcturen der Sage bei Diodor. V 76. Schol. Aristoph. Frösche 1356. Serv. Aen. IIΙ 171 zurückgeführt werden); dieser Vorwurf ist oft wiederholt worden, z. B. auch von Tümpel o. Bd. III S. 880. Demgegenüber behauptet Schneider Callimachea I 238, Kallimachos spreche überhaupt nicht von dem Cult bei Kydonia, sondern verstehe unter Kydonen die Kreter im allgemeinen; der ganze Vorgang würde somit am Dikte im Osten der Insel spielen, und der D.-Cult auch dort seine Stätte haben. Anders verteidigen Rapp in Roschers Lex. I 822 und Wernicke o. Bd. II S. 1371 den Dichter: Kallimachos spreche allerdings von dem D.-Cult bei Kydonia, aber es habe eben das dort gelegene Δικτύνναιον ὄρος ehemals einfach Δικταῖον ὄρος geheissen, und der Dichter habe mit dieser Bezeichnung nicht auf den Dikte im Osten der Insel hingewiesen. Eine absolut sichere Entscheidung lässt sich hierüber nicht fällen, immerhin aber dürfte wegen der präcisen Angaben über Cult und Cultgebräuche wahrscheinlich sein, dass Kallimachos den speciellen Cult von Kydonia im Auge hatte, und wenn ihn die Kenntnis dieses Cultes einerseits und die an sich berechtigte Zusammenstellung von D. und Dikteberg andererseits [587] zu einer Incongruenz bezüglich der Ortsangaben geführt haben sollte, so wiegt dies als Vorwurf gegen den Dichter nicht so schwer, würde aber beweisen, dass seine Erzählung nicht kretische Ortssage, sondern freie dichterische Combination ist.
Sicher erscheint, dass der von Kallimachos erwähnte, von Nikand. Alexiph. a. a. O. bestätigte Cultgebrauch, der die Bekränzung mit Fichten- oder Mastixzweigen zulässt, die Myrte aber ausschliesst, im D.-Cult auf Kreta Geltung hatte; allein die eigentliche Bedeutung dieses Brauches ist noch nicht aufgeklärt. Ungewiss ist, ob aus dem ganzen Sagencomplex der Sprung ins Meer als das eigentlich Charakteristische und für D. Bedeutsame herausgegriffen werden darf, wie dies geschieht bei Toepffer Att. Geneal. 266. Rapp in Roschers Lex. I 826. Sam Wide Lakon. Culte 126. Gruppe Griech. Myth. 255. Noch zweifelhafter erscheint es, ob man die Ableitung des Namens der D. von den Netzen (δίκτυα), die sich zuerst bei Aristoph. Wesp. 368 findet und die dann oft wiederholt ist (vgl. ausser den schon genannten Quellen auch Poll. I 13. Myth. Vat. III 7, 4), zu irgendwelchen Schlüssen auf den Grundcharakter der D. verwenden darf; schon Plutarch de sollert. animal. 8 that dieses, indem er in D. speciell eine Göttin des Fischfangs im Gegensatz zur Artemis Agrotera als Göttin der Jagd auf dem Lande erblickte, und bis in die neueste Zeit hat man noch D. speciell als Göttin der Fischer oder als ‚Schützerin der Netze sowohl des Jägers als des Fischers‘ bezeichnet (Preller-Robert Griech. Myth. I 317. Maass bei Wide Lakon. Culte 126, 1), während von anderer Seite die Ableitung von δίκτυον als wertlose etymologische Spielerei gekennzeichnet wurde. Dass diejenigen, welche in Artemis eine Mondgöttin erblickten (vgl. darüber Wernicke o. Bd. II S. 1354, 27), auch die D. für eine Lichtgottheit oder Mondgöttin erklärten, ist selbstverständlich; vgl. Cornut. 34 (von δίκειν = βάλλειν τὰς ἀκτῖνας). Verg. Cir. 305. Auch Usener Rh. Mus. XXIII 1868, 342; Götternamen 41, der auf den Stamm δικ (δεικνύναι) verweist, kommt zu einem ähnlichen Schlusse. Mit besserem Grunde sieht Wernicke o. Bd. II S. 1371 in der ursprünglich kretischen D. die ‚allgemein-kretische Bergmutter‘, die μήτηρ ὀρείη mit speciellem Cult am Dikte.
Ausserhalb Kretas lässt sich der Cult der D. bisher für folgende Orte nachweisen: 1. Astypalaia: IGIns. III 189, Weihung an D. 2. Sparta: Tempel der D. Paus. III 12, 8. Dictynneum Liv. XXXIV 38; vgl. Sam Wide Lakon. Kulte 125. 259. Stein Topographie des alten Sparta 19. Hitzig-Blümner Paus. I 775. 3. Südlich von Las auf einem Hügel am Meer (über den Platz vgl. Hitzig-Blümner a. a. O. 864), Tempel der Artemis D., Paus. III 24, 9. Das Cultbild der Göttin auf Münzen: Journ. hell. stud. VII 69. Vgl. Wide a. a. O. 106. 125. 259. 4. Athen: CIA II 1609, Weihung an Artemis D. 5. In Phokis zwischen Ambrosos und Antikyra: Tempel der Artemis D., Paus. X 36, 5; Priesterin, IGS III 5 = Athen. Mitt. IV 161. Die Inschrift zeigt, dass die Epiklesis der Artemis auch hier Δ. war, während Pausanias die Form Δικτύνναια bietet. 6. In Massilia: s. Art. Diktya. 7. Für [588] Trozen darf vielleicht auch ein besonderer D.-Cult vorausgesetzt werden wegen Eurip. Hippol 146. 1130; vgl. Wide a. a. O. 125. Möglich ist, dass dieser Cult mit dem der Artemis Saronia zusammenfällt, vgl. Preller-Robert Griech. Myth. I 318, 4.
Über die Gleichsetzung der D. und Britomartis mit anderen Gestalten vgl. Tümpel o. Bd. III S. 881. Es sind dies: 1. Aphaia von Aigina, (s. o. Bd. II S. 1381), die alte Hauptgöttm der Insel, welcher nach der Mitte Juni 1901 gefundenen Weihinschrift das früher der Athena zugeschriebene Heiligtum gehörte (die Nachricht von diesem Funde trifft gerade während des Druckes dieser Zeilen ein; vgl. Wissenschaftl. Beilage der Allgemeinen Ztg. vom 20. Juni 1901; bisher hatte man andere Ruinen für den Tempel der Aphaia gehalten; Bursian Geogr. Griech. II 85. Hitzig-Blümner Paus. I 626). Nikand. frg. 67 = Antonin. Liber. 40. Paus. II 30, 3. III 14, 2. Verg. Cir. 303. Hesych. kennen diese Gleichsetzung der einst von Pindar (frg. 89) verherrlichten Aphaia mit D., welche vielleicht auch in Kallimachos Aitia stand und wohl auf die Zeit zurückgeht, da sich Aigineten in Kydonia niederliessen; vgl. Müller Aeginet. 163. Schreiber in Roschers Lex. I 583. Preller-Robert Griech. Mythol. I 318. Gruppe Griech. Mythol. 121. Wentzel Ἐπικλήσεις VI 16. Wide Lakon. Culte 125. 3. 2. Artemis Laphria in Kephallenia, Nikand. frg. 67 = Antonin. Liberal. 40. 3. Artemis (Issoria) Limnaia in Sparta, Paus. III 14, 2, vgl. Wentzel Ἐπικλήσεις VI 16. Wide a. a. O. 109. Wernicke o. Bd. II S. 1387. 1392. Hitzig-Blümner a. a. O. I 785f, wo weitere Litteratur verzeichnet ist. 4. Eine Artemisgestalt in Argos, deren Name nicht bekannt ist, Nikand. = Ant. Liber. a. a. O. Alle diese Gleichsetzungen von verwandten Gottheiten, denen sich noch weitere, in unseren Quellen jedoch nicht bezeugte anschliessen liessen (vgl. Preller-Robert Griech. Myth. I 318), scheinen nicht älter zu sein, als die Mythendichtung der Alexandriner. Keine kann dazu dienen, das Wesen der D. aufzuklären. Ebensowenig mythologischen Wert hat die Polemik jener alten Gelehrten, welche die Gleichsetzung der D. mit Artemis bestritten und statt dessen die D. mit Hekate identificierten, Schol. Eurip. Hippol. 146. 1130; denn Hekate selbst ist im Wesen von Artemis nicht getrennt.
Völlig unaufgeklärt ist bisher die Bedeutung einer Inschrift aus dem Amyklaion, Ἐφημ. ἀρχ. 1892, 24, in welcher die Namen mehrerer Gottheiten aufgezählt werden, darunter scheinbar der Name der Demeter: Δήμητρος (τ)ῆς ἐν Δικτύννῃ(?). Ob ein Ort, ein Diktynnatempel, gemeint ist oder ein anderer Zusammenhang zwischen D. und Demeter angedeutet wird, muss vorläufig dahingestellt bleiben.