Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Epiklesis der Artemis
Band III,1 (1897) S. 824825
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Brauronia. 1) (Βραυρωνία), Epiklesis der Artemis von ihrem Kult in Brauron (Strab. IX 399. Paus. I 23, 7. Steph. Byz. s. Βραυρών. Bekker Anecd. Graec. I 220). Der Kult der B. weist verschiedene Elemente auf, die vermutlich auf zwei getrennte Kulte zurückgehen, auf den Kult der Artemis Iphigeneia im Demos Philaidai und den Kult der Artemis Tauropolos im Demos Halai Araphenides. Denn obgleich Strab. IX 399 die B. in Brauron (= Demos Philaidai, Loeper Athen. Mitt. XVII 360f.) von der Tauropolos in Halai Araphenides trennt, und obgleich auch die Verse des Euripid. Iph. Taur. 1450ff. 1462ff. eine solche Trennung nicht unter allen Umständen ausschliessen, scheinen doch beide genannten Kulte die Epiklesis B. für sich in Anspruch genommen zu haben. Der Kult im Demos Philaidai, für welchen die Epiklesis B. durch Schol. Aristoph. Vög. 873 bezeugt ist, galt einer Artemis Iphigeneia, welcher als Geburtsgöttin die Gewänder verstorbener Wöchnerinnen geweiht wurden (Eurip. Iph. Taur. 1466. Preller-Robert I 314, vgl. o. Bd. II S. 1381). Man erzählte dann hier von der Iphigeneia (vgl. v. Wilamowitz Herm. XVIII 249ff.), Helena, die Tochter der Nemesis von Rhamnus und des Zeus, sei von Theseus geraubt und habe diesem die Iphigeneia geboren, die der Artemis verfallen war und ihr als Priesterin diente. Und so zeigte man auch ihr Grab daselbst (Eurip. Iph. Taur. 1463f.). Später trug man auch die bekannte Agamemnonsage hierher und dichtete, Agamemnon habe die Iphigeneia nicht in Aulis, sondern in Brauron geopfert; Artemis habe eine Bärin (daher der Brauch der ἀρκτεία, s. o. Bd. II S. 1170) untergeschoben und Iphigeneia zur Göttin gemacht; das Grab in Brauron sei also ein κενήριον; Euphor. frg. 81. Phanodem. frg. 10 u. 11. Schol. Aristoph. Lysistr. 645. Etym. M. 480, 17. 747, 57. Nonn. XIII 186; vgl. v. Wilamowitz a. a. O. 259ff. Der Kult im Demos Halai Araphenides galt der Artemis Tauropolos als einer Göttin der Stierzucht (Eurip. Iph. Taur. 1457ff. Strab. IX 399. Kallim. in Dian. 173) und bewahrte die Erinnerung an alte Menschenopfer. Ein Mann musste seinen Nacken dem Schwerte darbieten, bis Blut floss (Eurip. a. a. O.). Die wichtigste Umgestaltung erfuhr dieser Kult durch die Identificierung der Tauropolos mit der Παρθένος Ταυρική, indem nunmehr erzählt wurde, Orestes und Iphigeneia hätten das Kultbild aus dem Taurerlande mitgebracht, ein Mythus, den zuerst Euripides poetisch ausgestaltete; vgl. Robert Arch. Ztg. 1875, 134. v. Wilamowitz Herm. XVIII 254. Mit Recht folgert Robert Archaeol. Märchen 144ff. aus Euripides, dass das alte Kultbild dieser Artemis [825] Tauropolos zur Zeit des Dichters noch vorhanden war, und dass die Erzählung bei Paus. I 23, 7. 33, 1. III 16, 7. VIII 46, 3 von der Entführung dieses Bildes der Tauropolos B. durch die Perser eine spätere Erfindung ist, um die Ansprüche verschiedener Städte auf das echte taurische Bild auszugleichen. Berühmt war das Fest der B. in Brauron (s. Nr. 2), an welches sich auch die Sage knüpfte, dass lemnische Pelasger oder Tyrrhener attische Frauen, die zu diesem Fest nach Brauron gekommen waren, raubten (Herodot. IV 145. VI 138. Philochoros frg. 6 bei Schol. Hom. Il. I 594. Plut. quaest. graec. 21. Zenob. III 85), wobei auch das Kultbild entführt sein sollte (Plut. virt. mulier. 8); vgl. Müller Orchom. 305f. Busolt Griech. Gesch. I 185. Studniczka Kyrene 45ff. 51. 145. Von Brauron aus war der Kult der B. nach Athen selbst übertragen; das Heiligtum, vermutlich eine Stiftung der Peisistratiden (v. Wilamowitz Kydathen 128, 47. Robert Archaeol. Märchen 150), lag auf der Akropolis selbst, südöstlich der Propylaeen, Paus. I 23, 7, in der Inschrift CIA II 728 τὸ Βραυρώριον, in der Hypothes. zu Demosth. XXV τὸ ἱερὸν κυνηγέσιον genannt. Über den Platz vgl. Hitzig-Blümner Paus. I 260 und die dort genannten Autoren. Über die Kultbilder vgl. Jahn Mem. d. Inst. II 23. Michaelis Parthenon 313. Friederichs Praxiteles 98ff. Petersen Arch.-epigr. Mitt. V 20. Studniczka Vermut. z. griech. Kunstgesch. 18ff. Furtwängler Meisterw. 553 und insbesondere Robert Arch. Märchen 144ff.; sicher ist, dass es ein altes Sitzbild und daneben eine stehend gebildete Statue des Praxiteles gab; strittig ist, ob der ältere oder der jüngere Praxiteles der Verfertiger war, ob das in Inschriften genannte λίθινον ἕδος das alte oder das jüngere Bild ist, und ob man eine Nachbildung des praxitelischen Werkes in der Artemis Colonna des Berliner Museums, in der Artemis von Gabii im Louvre oder etwa in der Darstellung einer Trinkschale (Kekulé Athen. Mitt. V 256 Taf. 10. G. Hirschfeld Arch. Ztg. 1873, 109. Robert a. a. O. 159) erblicken darf. Aus den zahlreichen attischen Inschriften, in denen die B. erwähnt wird (CIA I 273. II 646-737 ö.), geht hervor, dass ihr auf der Akropolis ebenso wie in Brauron von Frauen Gewänder geweiht wurden; daher auch die Epiklesis Χιτώνη (s. d.), Schol. Kallim. Art. 225; Zeus 77. Über die ἀρκτεία im Kult der B. s. o. Bd. II S. 1170. Über das Fest s. Nr. 2. Eine Sonderabhandlung über die B. schrieb Suchier De Diana Brauronia, Marburg 1847.

[Jessen. ]