Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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Sophist. Autor im 5. Jh. v. Chr.
Band S III (1918) S. 116118
GND: 129674028
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Anonymus Iamblichi.

Entdeckung. Daß der Neuplatoniker Iamblichos im 20. Kapitel seines Protreptikos eine attische Quelle des ausgehenden 5. Jhdts. v. Chr. benützte oder vielmehr ausschrieb, war eine glänzende Entdeckung von Friedrich Blass (De Antiphonte sophista Iamblichi auctore, Kieler Festprogramm 1889). Von der Art dieser Eklogen mag eine Skizze ihres Inhalts einen Begriff geben.

Inhalt. Das erste Bruchstück fragt in echt sophistischer Weise nach den Vorbedingungen für den Erwerb der bürgerlichen Tüchtigkeit und findet sie in der dem Zufall verdankten Naturanlage, in sittlichem Streben und frühzeitig begonnenem, ausdauerndem Lernen (vgl. den Μέγας λόγος des Protagoras).

Die Notwendigkeit des dritten Faktors wird im nächsten Fragment begründet. Eine Betätigung der erworbenen Tüchtigkeit ermöglicht nur bleibender Ruhm. Diesen wiederum verbürgt unausgesetzte Übung‚ langjähriger Fleiß; nur durch diese hält man Neid und Mißgunst fern. Neben der im Vordergrund stehenden äußeren Wirkung des Fleißes wird die innere, nämlich stete Vervollkommnung und Vertretung nicht vergessen.

Nach diesen beiden einleitenden Abschnitten wird im dritten Bruchstücke die Aufgabe der ἀρετή dargelegt. Jede so erworbene Fähigkeit darf man nur zu sittlich guten und gesetzlich erlaubten Zwecken gebrauchen. Der Tüchtigste in Wort und Tat ist der, welcher den meisten nützt. Nicht von Freigebigkeit hat die Allgemeinheit Nutzen, sondern von Verteidigung der Gesetze und des Rechts.

Das vierte und fünfte Bruchstück erweisen die Charakterfestigkeit als notwendige Voraussetzung für den Besitz der Tüchtigkeit. Weder [117] Gut noch Blut darf man schonen, wo es der Gerechtigkeit zu dienen gilt.

Am bedeutungsvollsten sind die beiden folgenden Abschnitte. Im sechsten Fragment setzt sich der A. mit den Vertretern des entgegengesetzten ethisch-politischen Standpunktes, der Lehre vom Recht des Stärkeren auseinander. (In der Erinnerung des Lesers werden unwillkürlich die literarischen Typen des Übermenschen lebendig, wie sie Platon besonders in Kallikles und Xenophon in Menon gezeichnet hat.) Die auf Überhebung gegründete Machtstellung eines einzelnen ist etwas Naturwidriges, und der stärkste Einzelmensch kommt notwendig zu Fall durch den Zusammenschluß der gesetzestreuen Gesamtheit.

Im Gegensatz zu dieser ‚Herrenmoral‘, diesem ‚Willen zur Macht‘, preist das umfangreichste und letzte Bruchstück den Segen der gesetzlichen Ordnung und warnt, ähnlich wie Antiphon (frg. 18), vor den unheilvollen Folgen der Gesetzlosigkeit. Am Schlusse wird gezeigt, daß auch die Tyrannis ihre Ursache lediglich in der Gesetzlosigkeit hat. Dabei findet der Verfasser so eindringliche Worte, daß man deutlich merkt, es handelt sich nicht bloß um Bekämpfung von Theorien, sondern um praktische Gefahren, die von Männern wie Alkibiades oder Kritias drohen.

Verfasserfrage. Über den Verfasser dieser ethisch-politischen Eklogen wurden die verschiedensten Ansichten geäußert. Die Vermutung des glücklichen Entdeckers, daß die Bruchstücke von dem Sophisten Antiphon herrührten, wurde von v. Wilamowitz (Aristoteles und Athen I 173f.) von Anfang an abgelehnt, dagegen von Th. Gomperz und manchen andern angenommen. Blaß dachte an Antiphons Περὶ ἀληθείας, Gomperz an Περὶ ὁμονοίας. Die Unhaltbarkeit dieser Antiphonhypothese wurde durch Stilvergleichung dargetan von Karl Töpfer in seinem Arnauer Programm. Geringeren Beifall als diese Vermutung, die immer noch Anhänger hat, fanden die Versuche, den Verfasser unter die Schüler des Sokrates einzureihen; besonders kühn war Karl Joëls Antistheneshypothese, die schon wegen des Inhalts der Eklogen wenig werbende Kraft besaß, aber doch von W. Altwegg (Iuvenes dum sumus, Basel 1897, 60) gebilligt wurde. Im allgemeinen ist man sich jetzt doch darüber einig, daß der Verfasser in sophistischen Kreisen zu suchen ist. Über den Grad der Verwandtschaft mit einzelnen Sophisten gehen freilich die Meinungen auseinander. Während Diels auf die inhaltliche Berührung mit Protagoras und Demokrit hinweist, trat K. Töpfer in seinem Gmundener Programm für Protagoras selbst als Verfasser ein. Auch H. Gomperz betont die Abhängigkeit von Protagoras, indem er die Bruchstücke in der Hauptsache als eine Paraphrase Protagoreischer Gedanken, und zwar des Μέγας λόγος bezeichnet; jedoch weist er den Sophisten der Umgebung des Hippias zu. Das besagt im Grunde nichts anderes, als daß der Verfasser ein Eklektiker ist, wie schon früher W. Nestle hervorhob, und für uns eben der A. I. bleibt.

Zeitbestimmung. Ebensowenig wie über den Namen des Verfassers läßt sich über [118] die Zeit, in der die Eklogen entstanden sind, Sicheres ermitteln. Zwar herrscht seit Blaß kaum ein Zweifel darüber, daß sie in die Zeit des Peloponnesischen Krieges gehören, aber für eine genauere Zeitbestimmung bieten sie selbst wenig Anhaltspunkte. Gründe historischer oder literarischer Art lassen sich fast für jedes der letzten drei Jahrzehnte des 5. Jhdts. anführen. Wenn Platon im ‚Gorgias‘ vorwiegend die Zeit um 427 im Auge hatte, wie neuerdings O. Apelt hervorhob, und wenn Thrasymachos schon im J. 427 ein bekannter Lehrer gewesen sein muß, wie vor kurzem Nestle ausführte, so kann wohl der A. in dieser Zeit auch schon die Anschauung vom Recht des starken Individuums bekämpft haben. Wir hätten dann in unseren Bruchstücken das älteste größere Denkmal attischer Prosa, eine noch vor der ps.-Xenophontischen Ἀθηναίων πολιτεία entstandene Schrift.

Würdigung. Aber nicht im hohen Alter allein liegt ihre Bedeutung. Daß der Verfasser vor allem von dem Streben nach formal-rhetorischen Effekten beherrscht sei und sich im allgemeinen nur in Trivialitäten ergehe, wird man H. Gomperz nicht zugeben können. Wer die Bruchstücke ohne Voreingenommenheit liest, wird wohl dem A. ein recht erhebliches sachliches Interesse nicht absprechen. Wenn sich der anziehendste Teil seiner Ausführungen mit Äußerungen eines Herodot, Thukydides, Platon und Isokrates berührt, so folgt daraus nicht, daß den damaligen Zeitgenossen bloß Gemeinplätze geboten wurden. Jedenfalls sind die Bruchstücke für uns ein einzigartiges und darum ungemein wertvolles Zeugnis derjenigen Richtung der Sophistik, die nichts von einseitigem ‚Skeptizismus, Relativismus, Individualismus‘ wußte, sondern trotz individualistischem Ausgangspunkt Gesellschaft und Staat zu stützen suchte:

Literatur. Den Text bietet am besten Herm. Diels Die Fragmente der Vorsokratiker II³ 329ff. Die erste und vollständigste Übersetzung verdanken wir K. Töpfer Die sog. Fragmente des Sophisten Antiphon bei Iamblichos, Arnau 1902; eine treffliche Auswahl alles Wichtigen W. Nestle Die Vorsokr. in Auswahl übersetzt, Jena 1908; eine fast vollständige Übertragung bietet auch H. Gomperz Rhetorik und Sophistik 79–90. Über das Verhältnis des A. I. zu Protagoras vgl. K. Töpfer Zu der Frage über die Autorschaft des 20. Kap. im Iamblicheischen Protreptikos, Progr. Gmunden 1906/7. W. Nestle Bemerkungen zu den Vorsokratikern und Sophisten, Philol. LXVII 575ff.: auch Philol. LXX 22. K. E. Bitterauf Die Bruchstücke des A. I., Philol. LXVIII 500ff., besonders 508ff. Dazu N. Jahrb. XXVII 2. Abt. 174. 174, Franz Lortzing Bursians Jahresber. XLI 322ff. H. Gomperz Sophistik und Rhetorik 79–90. 177f., 363. Über das Verhältnis zu Herodot vgl. W. Nestle Herodots Verhältnis zur Philos. und Sophistik, Progr. Schöntal 1908, 27. Dazu Philol. LXX 242ff. Über das Verhältnis zu Euripides vgl. Dümmler Prolegomena 161ff. Nestle Euripides 274ff. Bitterauf Blätter für das bayr. Gymnasialschulwesen XLVI 326ff.

Nachträge und Berichtigungen

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Band R (1980) S. 30
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Anonymus Iamblichi

Sophist. Autor im 5. Jh. v. Chr. S III.