Textdaten
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Autor: Hermann Marggraff
Illustrator: Carl Hermann Schmolze
Titel: Moderner Narrenspiegel
Untertitel:
aus: Fliegende Blätter, Band 2, Nr. 25, S. 1–5; Nr. 29, S. 35–37; Nr. 32, S. 62–63.
Herausgeber: Kaspar Braun, Friedrich Schneider
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1846
Verlag: Braun & Schneider
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Erscheinungsort: München
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Quelle: UB Heidelberg, Commons
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[1]

Moderner Narrenspiegel.


Auch die neuere Zeit hat ihre Schmarotzer, ihre Parasyten, ihre Gesellschafts- und Tischnarren, müßiggängerische Leute gewöhnlich in höheren Jahren, die sich für das Unterhaltungsfach förmlich vorgebildet haben.

Schon als Jünglinge ordneten sie gern Landpartien, Gesellschafts- und Pfänderspiele an, machten den Vortänzer, unterhielten die Damen durch herkömmliche Complimente und schaale leichtfaßliche Witzworte und Wortwitze, trugen deren Shawls und Umschlagetücher, holten ihnen Sessel und Fußbänkchen herbei, hoben sie in und aus dem Wagen, lasen den jungen Fräuleins jeden Wunsch, jedes Verlangen vom Gesichte ab, ohne darüber die Tante und Mutter oder ältere Schwester zu vernachlässigen.

Diese fliegenden Adjutanten der Gesellschaft haben ein zwar angenehmes aber schweres Amt.

Man denke sich die schreckliche Verwirrung bei einem Landvergnügen, wenn sich der Himmel plötzlich und unerwartet mit einem Wolkenmantel bedeckt und aus dessen Falten Ströme von Regen herabschüttet!

Von je fünf zu fünf Minuten muß der Gesellschaftsadjutant vor die Thüre des Wirthshauses, um über das Wetter Bericht zu erstatten; er muß vielleicht für ein Abendbrod, welches nicht in seiner Berechnung lag, den letzten Kreuzer springen lassen, er muß zur Unterhaltung und Zerstreuung der jammernden Damen ein Spiel, vielleicht ein Pfänderspiel, wobei die Leidenschaften noch am meisten in Aufregung kommen, auf’s schnellste anordnen; sein Herz blutet noch über dem letzten Kreuzer, er darf sich aber seinen Gram nicht merken lassen, er muß als Märtyrer seiner Pflicht immer nur lächeln, lachen, scherzen und die tollsten Witze und Possen erfinden.



Der Regen strömt fort; man kann doch bis zum Morgen nicht warten; man bequemt sich, den Rückweg einzuschlagen. Neue Mühsal! Für jeden Schritt, welchen diese oder jene Dame thut, ist er verantwortlich; überall hin muß er mit dem Fuße vortasten, ob da der Weg nicht grundlos sei; sein Taschentuch, obschon er ein wenig am Schnupfen leidet, hat er bereits über den Hut derjenigen jungen Dame gebreitet, welche das Privilegium besitzt, vorzugsweise seine Dienste in Anspruch nehmen zu dürfen. Mit den Worten: „Sorgen Sie nur für meine Therese; sie hat einen neuen Hut; daß uns nur der nicht verdirbt!" hat ihre Mutter sie dem jungen Manne an’s Herz gelegt; vielleicht wird Therese, im geistigen Gefühle überströmenden Regens, sich heut, wo Jeder mit sich selbst beschäftigt ist, ihm wirklich an’s Herz legen, vielleicht ist gar ein Kuß der Lohn für seine unermüdliche Ausdauer. [2] Man sieht, der junge Mann war damals doch nicht so ganz närrisch!

Aber diese Leute bleiben, bei aller noch so ausgebreiteten Bekanntschaft mit Damen, in der Regel ihr Lebelang Junggesellen. Ihr Amt erfordert, daß sie keiner Einzelnen gehören, sondern der Gesammtheit des weiblichen Geschlechts, daher haben sie kein Eigenthumsrecht an einer Einzelnen. Die Opfer, welche sie diesem ausgedehnten Verhältniß gebracht haben, sind nicht gering anzuschlagen; wenn überhaupt, treten sie in der Regel erst spät in ein Geschäft oder Amt, das gewöhnlich untergeordneter Art ist; sehr erklärlich, wenn sie in höhern Jahren fordern, daß die Geselligkeit sie für die Opfer, welche sie in frühern Jahren der Geselligkeit gebracht, einigermaßen entschädige.

Daher werden sie ihr Mittagbrod gern bei dem Kaufmann En, ihren Nachmittagskaffee bei der Rentierswittwe En-En und ihr Abendbrod bei dem reichen Buchhändler En-En-En einnehmen, wobei sie durch einen stillschweigenden Contract verbunden sind, ihre Unterhaltungskünste wie Fontainen spielen zu lassen und die Damen des Hauses in das Theater, in die Concerte, in die Ausstellungen und Verkaufsläden zu begleiten. Die Geburtsfeste von Groß und Klein, die Hochzeiten, die bleiernen, wie die silbernen und goldenen, namentlich die Polterabende bieten ihnen zumal ein Terrain, um zu zeigen, was sie in der Unterhaltungskunst gelernt haben. Die Meisten verbinden mehrere Genre der Unterhaltungskunst; Andere beschränken sich auf dies oder jenes. In bürgerlichen Kreisen spielen sie so ziemlich dieselbe Rolle, wie Gundling oder Taubmann an königlichen Tafeln, nur daß sie keinen fürstlichen Launen ausgesetzt sind und ihrer Talente wegen sogar bewundert werden. Trotzdem sind sie der unterthänige Spielball Aller, weßhalb ihre Natur sehr elastisch sein muß, um nach rechts und links geschickt nachzugeben. Diese nur scheinbar glücklichen Mannequins der Gesellschaft ordnen sich unter folgende Hauptrubriken:


1. Der Neuigkeitskrämer.



Dieser ist nicht bloß das auf zwei Beinen wandelnde Journal und die Chronique scandaleuse der gesammten Stadt, sondern auch des gesammten Herzogthums oder Großherzogthums, ja aller europäischen Höfe, in deren Geheimnisse er, der Himmel weiß wie, eingeweiht ist.

Wäre nur das Viertel von dem, was er ausplaudert, wahr, so hätten wir im nächsten Monat den schönsten Krieg, so wären im Laufe eines Jahres alle Souveräne ausgestorben, (denn da ist nicht einer, den er nicht schon einmal todtgesagt hätte,) so käme in der Stadt auf jeden Tag ein Mord, auf jede Stunde ein Diebstahl, auf jede Minute ein Bankerott oder ein außereheliches Kind. Mögen sich seine Erzählungen auch zwölfmal als Lügen ausweisen, so wird man der dreizehnten Lüge doch mit Verwunderung zuhören und eine Stunde lang Glauben schenken.

Im Grunde sind wir alle Kinder, freilich in die Höhe geschossene Kinder, und wer uns am feinsten täuscht, am künstlichsten durch den schönen Schein belügt, sei er nun Dichter oder Künstler oder Zeitungsschreiber, dem werden wir auch unsern lautesten Beifall zujubeln, gerade wie ich, der Verfasser dieses Narrenspiegels, Demjenigen, welcher mir plötzlich die unerwartete Nachricht mittheilte, ich hätte die Nase und die Stirne des Julius Cäsar, und Alle seien darüber einverstanden, daß ich ein außerordentliches Feldherrntalent befäße. Je mehr ich vom Gegentheil überzeugt wäre, desto mehr würde ich von dieser ganz unerwarteten Entdeckung erbaut sein, wie irgend ein jüngerer dramatischer Autor, dem man, natürlich nur unter vier Augen, gestände, daß sein neuestes Opus alle Tragödien Schillers und Shakspeares weit hinter sich lasse. Es liegt dies in dem dem Menschengeschlechte angeborenem Hange zu allem Wunderbaren und Unerwarteten, während die trockene und nackte Person der Wahrheit in die Hütten sowohl, als in die Paläste mit Gewalt eindringen muß, weil ihr, wenn sie klopft und sich mit ihrer rauhen Stimme anmeldet, gutwillig nicht aufgethan wird.

Der Neuigkeitskrämer erscheint in einer Gesellschaft mit sehr bedenklicher Miene. —

„Sie bringen gewiß etwas Neues?“ fragt ihn der Hausherr.

— „Ja“, antwortet er, „wenn man’s nur sagen dürfte, es klingt zu unglaublich — wer hätte das gedacht?“ —

Die übrige Gesellschaft wird aufmerksam. „Was ist? Was ist?“ fragt man von allen Seiten.

„Um Gotteswillen!“ flüstert der Neuigkeitskrämer zu dem Hausherrn, „Wir haben Alle in Aufruhr gebracht! Die Nachricht ist zu wichtig und nur unter vier Augen mitzutheilen, indeß“ —

„Nun? Indeß“ —


[3] ,,So eben ist ein Kourier durch die Stadt gekommen“ —

Hören Sie meine Herren! „Ein Kourier“, wendet sich der Hausherr zu der Gesellschaft. — „Ja, ein Kourier mit den wichtigsten Neuigkeiten; ich weiß aber nicht, ob ich sie mittheilen darf.“ —

Nach langem Widerstreben theilt er sie doch, und zwar unter vielleicht zehnmal vier Augen, mit. Entweder sind das dritte oder vierte Armeekorps plötzlich mobil gemacht worden, oder in Paris ist eine furchtbare Revolution ausgebrochen, oder man hat den Sultan strangulirt, oder England hat an Frankreich den Krieg erklärt, oder das Haus Rothschild steht auf dem Punkte Bankerott zu machen, oder der Kaiser von Rußland ist, man weiß nicht woran, gestorben, oder alle diese schrecklichen Ereignisse sind plötzlich wie im Umsehen, mit einander eingetroffen.

Aber der Neuigkeitskrämer muß auch um das Kleinste wissen, wenn er seinen Beruf erfüllen will, z. B. daß der junge Assessor Flaus mit der alten Generalswittwe Klaus sich verlobt hat, daß Herr und Madame Plack in der Ehescheidung begriffen sind, daß der Doktor Bär ein armes Mädchen aus niederm Stande heirathen wird, worauf alle Damen, zumal die jungen einverstanden sind, daß die anständige Societät ihm den Rücken kehren müsse; er erzählt ferner, daß man vor einer Stunde einen weiblichen Leichnam aus dem Wasser zog, daß in der Hafenstraße so eben ein verdächtiger Schuß gefallen ist, daß ein bekannter Professor sich endlich einmal mit neuer Garderobe versehen hat, daß ein Pferd durchgegangen und noch nicht wieder eingefangen ist, daß die Stadtgräben gereinigt werden sollen, u. s. w.

Auch die Berichte über den Erfolg des jüngsten Theaterstücks oder Concerts, über alle Arten öffentlicher Darstellungen und Leistungen gehören in sein Bereich.

Eine interessante Seitenart des Neuigkeitskrämers ist:


2. Der Geheimnißkrämer,



der es in der Regel nicht mit so großartigen und entschiedenen Thatsachen wie der Neuigkeitskrämer zu thun hat, sich auch für gewöhnlich nicht an die gesammte Gesellschaft wendet, sondern bald da bald dort irgend ein männliches oder weibliches Mitglied derselben in sein Geheimniß zieht, so aber doch auch allmählig zur Unterhaltung Aller beiträgt. Seine Geheimnisse beruhen entweder auf gar nichts oder nur auf einer Vermuthung, und da sie meist auf Personen der Gesellschaft Bezug haben, hat er allerdings keine Veranlassung, sie anders als unter vier Augen mitzutheilen.

Er wendet sich, z. B., mit äußerst geheimnisvoller Miene an den Herrn A:

„Wissen Sie schon?“ beginnt er. —

,,Nun, was?“ —

„Ja, es ist zu merkwürdig! Man sollte es nicht glauben; ich mag es auch gar nicht erzählen, Sie müßten mir denn versprechen, aber hören Sie, auf Ihr Ehrenwort versprechen, Niemand etwas wieder zu sagen, denn Sie begreifen, daß es mir die größte Verlegenheit bereiten könnte; es ist zu merkwürdig.“

Herr A. verbürgt durch sein Ehrenwort seine Verschwiegenheit.

„Aber es ist zu merkwürdig", versichert der Geheimnißvolle, „man hätte es von dem Herrn Rath B., der als so solid bekannt und seit Jahren verheirathet, ja bereits Vater mehrerer Kinder ist, nicht erwarten sollen, es ist wirklich zu merkwürdig, man kann es geradezu schlecht nennen.“ —

Man kann sich denken, daß Herr A. nach solcher Einleitung auf’s äußerste gespannt ist.

„Ja, ich weiß immer noch nicht, ob ich’s Ihnen anvertrauen darf; es ist gar zu merkwürdig. Indeß Sie sind ein verschwiegener Mann.“ —

Der Kern der Erzählung ist nun folgender: Er, der Geheimnißvolle, habe von einem Bekannten gehört, der es wieder von einem Bekannten vernommen, daß einer der Bekannten des Letztern neulich Abend in einem Manne, der um die Ecke einer nicht im besten Rufe stehenden Gasse gebogen sei, den als so solid verschrieenen Rath B. zu erkennen geglaubt habe. Leider sei es zu finster gewesen, um diese wichtige Entdeckung weiter zu verfolgen. Was den Verdacht noch vermehre, sei der Umstand, daß sich jener Mann, der ungefähr die Gestalt des Raths B. gehabt, als er den Bekannten des Bekannten des Geheimnißvollen ansichtig geworden, noch dichter in den Mantel gehüllt und die Mütze noch tiefer als vorher in die Stirn gedrückt habe.

Bald darauf sucht sich der Geheimnißvolle dem Hofrath B. zu nähern.

„Unter vier Augen, Herr Hofrath“ beginnt er — „es ist wohl meine Pflicht Ihnen Etwas mitzutheilen — und doch muß ich Anstand nehmen; es ist zu merkwürdig; man hätte es nicht denken sollen; wenn Sie mir jedoch Ihre vollkommene Verschwiegenheit zusichern wollen.“ —

Der Hofrath äußert: Verschwiegenheit sei eine seiner anerkanntesten Tugenden; es bedürfe wohl nicht erst seiner ausdrücklichen Versicherung.

[4] „Ja,“ sagt der Geheimnißvolle, es ist zu merkwürdig; man sollte es von Herrn A nicht denken; aber es muß heraus. Sie wollen ihm wohl, Herr Hofrath! aber ich rathe Ihnen vorsichtiger zu sein; wie man hört, lebt Herr A. nicht in der besten Gesellschaft.“ —

„Das ist nicht möglich,“ ruft der Hofrath, Herr A. ist ein sehr liebenswürdiger, ordentlicher junger Mann; oder sollte er sich plötzlich so sehr zu seinem Nachtheil verändert haben?“ —

„Ja, ich weiß nicht,“ sagt der Geheimnißvolle, „man horcht nur bald da bald dorthin; man hört z. B. von einem Freunde, der bei einem ziemlich berüchtigten Weinkeller vorbeigegangen; da habe er einen wüsten Lärmen vernommen, wie er gewöhnlich bei einer Schlägerei Trunkener stattfinde, und da“ —

Der Hofrath horcht auf’s gespannteste: „Nun, und da?“

„Ja, das ist eigentlich das Geheimniß, kurz, jenem Freunde, den ich nicht nennen will, schien aus dem wilden Gewirre eine Stimme wie die des Herrn A. laut zu werden, überhaupt, ich könnte noch mancherlei sagen, ich habe jedoch schon zu viel verrathen, u. s. w."

Man könnte diesen Geheimnißkrämer in die Reihe der böswilligen Narren einordnen, und es ist nicht zu läugnen, daß er zuweilen mit seinen angedeuteten Geheimnissen Unfrieden anzurichten im Stande ist. Dies liegt jedoch nicht in seiner Absicht, er will eben nur unterhalten, etwas Neues mittheilen und zugleich sich den Anschein geben, als sei er im Besitz der wichtigsten Geheimnisse. Im Gefühle seiner Nichtigkeit weiß er kein anderes Mittel, sein gesellschaftliches Ansehen aufrecht zu erhalten; auch ist durch Gewöhnung die Geheimnißthuerei bei ihm zur zweiten Natur geworden und in eine stille Narrheit ausgeartet. Bis zu welchem Grade, beweist etwa folgendes kurzes Gespräch.

Der Geheimnißkrämer nähert sich Herrn C., er hüstelt und räuspert sich; er hat offenbar ein Geheimniß auf dem Herzen.

„Herr C.!“ flüstert er. C. wendet sich zu ihm.

„Ach, Herr C.! ich habe Ihnen schon lange Etwas mittheilen wollen; es preßt mir noch das Herz ab; wenn ich nur auf Ihre vollkommene Verschwiegenheit rechnen könnte!“ —

C. sagt: an seiner Verschwiegenheit wäre gar nicht zu zweifeln; er solle sich nur mittheilen. —

„Ja es ist nur gar zu merkwürdig; Niemand außer uns Beiden darf davon wissen. Hören Sie, Niemand!“ —

Herr C. wiederholt: Niemand! —

„Sie wissen also noch nichts?“ —

Herr C. wiederholt: Nichts. —

„Noch gar nichts?“

Noch gar nichts. —

„Ich meine von Herrn D. drüben?“ —

Habe nicht einmal die Ehre, ihn zu kennen.

„Ach so, ich meine den Herrn, welcher neben Madame E. sitzt.“ —

Habe nicht das Vergnügen. —

„Das ist Jammerschade! — Da wird Ihnen auch die Geschichte nicht so sehr interessant sein, eine so allerliebste Geschichte sie auch ist; Herr D. spielt dabei eine ganz merkwürdige, um nicht zu sagen zweideutige Rolle. Aber die Geschichte von Madame E. wissen Sie doch?“ —

Durchaus nicht. —

„Ei! die ist doch gar zu merkwürdig; die sollten Sie kennen; sie ist wirklich zum Todtlachen.“ —

Nun, so erzählen Sie doch! —

Der Geheimnisvolle schüttelte bedenklich den Kopf.

„Nein! wissen Sie: die Geschichte ist mir als Geheimniß anvertraut worden, von einer Freundin der Madame E., welche um all ihre Familiengeheimnisse weiß. Ich will mich noch besser darüber unterrichten. Sollten Sie nichts von anderer Seite erfahren, so treffen wir uns wohl in acht Tagen wieder hier; ich nehme mir auch wohl das Vergnügen, bei Ihnen vorzusprechen. Also spätestens heut über acht Tage, Herr C.! Heut über acht Tage. Die Geschichte ist gar zu mertwürdig, wahrhaft zum Todtlachen!“

Aber der Geheimnißkrämer bleibt nicht immer im Kreise der gerade gegenwärtig Versammelten, er hat auch sehr wichtige exoterische Geheimnisse, welche zum Theil politischer Natur sind. Er nähert sich z. B. einem Kreise, wo zwei oder drei oder Mehrere, wie viel ihrer gerade sind, zusammenstehen. Er weiß sich auf irgend eine oder die andere Weise in ihr Gespräch zu mischen. Einer der Herren erzählt irgend ein interessantes Tagsereigniß.

„Ja, es ist merkwürdig,“ äußert der Geheimnißvolle, „was für wunderliche Dinge jetzt in der Welt vorkommen. Es geschieht immer das, was man am wenigsten erwartet.“ —

,,Wie umgekehrt immer das, was man am meisten erwartete, nicht geschieht“, äußert einer der Herren.

„Das eben ist’s, was ich sagen wollte“, fährt der Geheimnißvolle fort: „die Ereignisse fallen jetzt mit der Thüre in’s Haus. Wer sollte denken, daß sich so etwas in unsrer ruhigen, soliden Stadt ereignen[WS 1] könnte? Es ist zu merkwürdig!“

Man fragt, man forscht; immer bedenklicher, immer geheimnißvoller wird seine Miene.

„Also Sie wissen noch gar nichts?“ Ist Ihnen nichts von der mysteriösen Person erzählt worden, welche im deutschen Hause heut Mittag mit großem Gefolge eingekehrt ist? Von den Anstalten, welche unsere Polizei getroffen hat, um Gott weiß was zu verhüten? Von den Estafetten, welche sofort nach der Hauptstadt abgeschickt wurden?“

Die Herren wissen von alledem nichts, aber das Ereigniß interessirt sie, wie alles Mysteriöse. Man fragt, wer die Person sei? zu welchem Zwecke sie hier eingetroffen? Auf welche Weise er hinter das Geheimniß gekommen u. s. w.

Der Geheimnißvolle erwidert: er habe den Reisewagen, der durch dichte Vorhänge fest verwahrt gewesen sei, und das Wappen daran mit eigenen Augen gesehen. Eine männliche Gestalt sei aus dem Wagen, und, in einen militärischen Mantel gehüllt, eilig in die Thür des Gasthauses geschlüpft u. s. w.

„Wichtige politische Combinationen“, sagt er, „sind im Gange, das kann ich Sie versichern. Ich habe selbst mit dem Polizeisergeanten X. gesprochen; der mir, unter dem Siegel [5] der Verschwiegenheit, Alles anvertraut hat. Unsere Stadt dürfte vielleicht zu wichtigen Conferenzen ausersehen sein.“

„Ist es möglich? Aber wer ist denn jene mysteriöse Person ?“

„Ja, das rathen Sie einmal, meine Herren!“ erwidert der Geheimnißvolle.

„Vielleicht ein berühmter Diplomat?“

„Bedenken Sie, daß die Person mit einem militärischen Mantel bekleidet war.“

Nun denn! Ein hoher General, welcher zugleich diplomatische Aufträge besorgt.

Der Geheimnißvolle schüttelt[WS 2] wie verneinend den Kopf.

Etwa Don Carlos?

Der Geheimnißvolle sieht sehr bedenklich drein, schüttelt abermals den Kopf, doch bereits weniger.

Oder Espartero!

Der Geheimnißvolle lächelt diplomatisch schlau und schüttelt abermals, doch ganz unmerklich, den Kopf.

Oder Heinrich der Fünfte?

Der Geheimnisvolle zuckt die Achseln und sagt endlich wie bedauernd: „Wenn ich nur nicht unverbrüchliche Verschwiegenheit angelobt hätte; aber ich könnte die politischen Combinationen stören, die im Gange sind. Warten Sie nur bis morgen, meine Herren! Morgen kann ich Ihnen gewiß mehr offenbaren. Aber das kann ich versichern, der Fall ist sehr merkwürdig und die Person eine sehr hohe Person, die bald eine höchst bedeutende Rolle spielen wird.“

[35]

3. Der Witzige.



Er hat die Verpflichtung, überall nach den Schlag- und Witzworten umherzuspüren, welche die Tagesgeschichte liefert, und bei oder nach der Tafel jede Gelegenheit zu benützen sie der Reihe nach anzubringen. Die Virtuosität des Witzigen besteht in der höchstmöglichen Trockenheit des Vortrags, wodurch auch der schlechteste Witz ergötzlich wirkt, und in einer gewissen hingeworfenen Unabsichtlichkeit, so daß es den Anschein hat, als wäre der Witz eben erst bei der gegenwärtigen Veranlassung entstanden. Seine Studien macht der Witznarr hauptsächlich bei Commis Voyageurs, zumal Weinreisenden, welche zugleich auf Witz und Anekdoten reisen, und wie Kouriere die neuesten Erfindungen des Witzes von Stadt zu Stadt tragen, und in jedem Orte, den sie besuchen, die neuesten Lokalwitze einsammeln. Da hierbei der Wortwitz als derjenige, welcher sich am leichtesten gewissen gelegentlichen Veranlassungen fügt, eine Hauptrolle spielt, so sind dem witzigen Tafelnarren die Schriften und Journale Saphirs vorzüglich zu empfehlen.

Haben die Hausfrau oder ihre Töchter einige Kenntniß des Französischen, so mag der witzige Tafelnarr die neuesten Nummern des französischen Charivari studiren, oder sich auch sonst allbekannte französische Wortspiele und Calembourgs einlernen. Es ist unglaublich, um wie viel Procent über pari sein Ansehen steigen wird!

Du lieber Himmel! Was fingen wohl so viele Tausende in Deutschland mit ihrem Geistesmangel und ihrem Zeitüberfluß an, wenn es nicht ein Frankreich, wenn es nicht französische Trachten, französische Musik, französische Criminalgeschichten und – französische Grammatiken gäbe? Deutschland hat leider noch immer keine andere Hauptstadt als Paris, die ihm [36] seine tyrannischen Gesetze mit großer Härte vorschreibt, und immer noch fortfährt, uns vampyrartig das alte treue deutsche Herzblut auszusaugen. Es ist furchtbar, wie bitter sich Frankreich für die Niederlagen seiner großen Armee bei Leipzig und Waterloo an uns rächt! Wie viel werden noch die künftigen Jahrhunderte zu thun haben, um uns vollständig aus dem Französischen zurück zu übersetzen und zu verdeutschen!

Ist an neuen Witzen und Schlagworten gerade Landesdürre eingetreten, so mag der Witzige gelegentlich seinen alten Vorrath an Witzen ausbeuten. Man kann sie nicht oft genug hören, und ohnehin wird in der Gesellschaft stets der Eine oder der Andere sich befinden, welchem dieser oder jener verrostete Witz vollkommen neu erscheint. Noch besser, wenn der witzige Tafelnarr durch natürliche Anlage oder Uebung die Fähigkeit besitzt, witzige Anspielungen zu erfinden. Mögen sie auch noch so hausbacken und albern sein, so verfehlen sie doch ihre Wirkung nicht, wenn sie nur mit dem richtigen Accente vorgetragen werden.

Es bemerkt z. B. Jemand gegen irgend wen: er sehe so angegriffen aus, so liegt das „Abgegriffen“ sehr nahe, oder man macht Wortspiele mit „Einsicht“ und „Aussicht“, mit „Absatz“ (z. B. „Stiefelabsatz“ und „Bücherabsatz“,) mit „Visite“ und „Viehsitte,“ mit „Lebenszwecken“ und „Stiefelzwecken,“ mit „Hauszucht“ und „Zuchthaus,“ mit „Rußland“ und „Landruß,“ mit „Made“ und „Mädchen,“ mit „Philosoph“ und „Vielsoff,“ mit „Professor“ und „Brodfresser,“ mit „Theetisch“ und „Aesthetisch“ u. s. w.

So oft diese Witze auch schon da gewesen sind, so scheinen sie doch, mit richtigem Accente vorgetragen und zu gelegener Zeit angewendet, immer wieder die Eingebung des Augenblicks zu sein.

Hierzu bedarf es nur der gespanntesten Aufmerksamkeit auf Alles und Jedes, was in der Gesellschaft vorgeht oder gesprochen wird, und wenn z. B. die Hausfrau gelegentlich bemerkt, sie müsse für eins ihrer Kinder Thee aus „Tausendgüldenkraut“ bereiten, so ist der witzige Narr rasch bei der Hand und äußert: „was ihn beträfe, so wäre ihm ein Tausend-Guldenkraut lieber;“ oder man stößt mit den Gläsern auf das Wohl des Wirths an, so bemerkt er: Ich stoße sonst zwar nicht gerne an, mache heut aber eine Ausnahme, obschon eine Einnahme mir lieber wäre.


4. Der Stellencitirer.



Ist nur eine Ab- und Nebenart des Vorigen. Er hat sich eine Menge leicht anwendbarer Stellen aus deutschen Klassikern, besonders aus Schiller gemerkt, um sie bei vorkommender Gelegenheit an den Mann, oder wie es gerade kommt, an die Frau zu bringen. Dahin gehören Stellen wie folgende: „Es gibt im Menschenleben Augenblicke,“ „das war kein Meisterstück, Octavio!“ „das ist das Loos des Schönen auf der Erde“, „ob rechts die Vögel fliegen oder links;“ „das Leben ist der Güter höchstes nicht, der Uebel größtes aber ist die Schuld;“ „oder sind die Schulden“, wie der Stellencitirer die Phrase witzig verdreht; „Max, bleibe bei mir, geh nicht von mir, Max!“ (wenn er Jemand auffordern will, die Gesellschaft noch nicht zu verlassen). „Auf diese Bank von Stein will ich mich setzen“ (wenn man sich auf irgend eine Bank, selbst wenn sie nicht Stein, oder auf irgend einen Stein, selbst wenn er nicht Bank ist, niederlassen will); „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte“ (wenn er zu Zweien, welche in Unterhaltung begriffen sind, hinzutritt); „die Jungfrau geht, und nimmer kehrt sie wieder“ (wenn z. B. eine junge Dame das Zimmer verlassen will) u. s. w. Schiller eignet sich hierzu am besten[VL 1], außer ihm noch Müllner und einige Andere. Wenn z. B. ein starkes Geräusch eintritt, so ergreift der Stellencitirer diese Gelegenheit sogleich am fliegenden Haar und deklamirt: „Dieser Knall ist ein Schall, der den Fall eines Menschen kann bedeuten,“ oder bei anderer Gelegenheit: „das Warum wird offenbar, wenn die Todten auferstehen.“ Auch der überpathetisch und darum ergötzlich wirkende Vortrag größerer Partieen und Monologe gehört in das Departement des Stellencitirers.

[36]

Anmerkungen der Vorlage

  1. Noch schlimmer ist es, wenn der Stellencitirer auch über die Malerei kommt. Der freundliche Leser betrachte die Bilder der nächsten Seite, Scenen aus der Blüthezeit des menschlichen Lebens, jener Zeit des Schwärmens, wo die Erde für den Verliebten voll Nachtigallen, Rosen, Veilchen und sonstigen Zartheiten wimmelt und der Himmel voller Geigen hängt. Unter solche zarte Bilder setzt nun der Stellencitirer Verse eines Klassikers als Erklärung und gibt den ernsten Darstellungen der ersten Liebesfreude und des innigen Liebesschmerzes die entgegengesetzte Deutung.




[37]

 


Mit züchtigen, verschämten Wangen
Sieht er die Jungfrau vor sich steh’n etc.


 


Da faßt ein namenloses Sehnen
Des Jünglings Herz, er irrt allein etc.


 


Das Schönste sucht er auf den Fluren,
Womit er seine Liebe schmückt etc.


 


O daß sie ewig grünen bliebe
Die schöne Zeit der jungen Liebe etc.



[62]

5. Der Possenreißer.
 

Einen andern Namen kann ich dem rundlichen, wohlgenährten Manne nicht geben, der eigentlich kein besonderes Fach der Unterhaltung bekleidet, sondern als Bajazzo der Gesellschaft seiner barocken Phantasie in den tollsten Sprüngen freien Lauf läßt. Seine Unterhaltungsmanier besteht aus den ungeregeltsten Capriccio’s, die Anfangs fast nur auf die Kinder des Hauses wirken, endlich aber, sich immer mehr steigernd, auch die Ernsthaftesten zum Gelächter hinreißen. Er fängt vielleicht damit an, daß er im Sprechen die Buchstaben oder Sylben versetzt; er spricht z. B. Knaushecht statt Hausknecht, Lachtnampe statt Nachtlampe, verwodert und vermest statt vermodert und verwest, Fleinwasche statt Weinflasche, Pfänsegote statt Gänsepfote, Grattenschund statt Schattengrund u. s. w.; er improvisirt, zwar abscheulich, aber doch höchst possierlich; er gibt schwer sprechbare Phrasen, z. B. sechs und sechzig Schock sächsische Schuhzwecken u. s. w. ein Dutzendmal nacheinander zu sagen auf; er ballt die Faust, malt auf die obere Handfläche mit Tinte eine Art Gesicht, putzt seinen Arm als Wickelkind mit Tüchern und Bändern aus, und vertritt daran die Stelle einer säugenden Mutter, indem er zugleich das Geschrei eines Kindes nachahmt; auch das Surren und Brummen einer Fliege am Fenster und an der Wand weiß er aufs natürlichste nachzuahmen und ein heranziehendes und zuletzt einschlagendes Gewitter durch das bloße Verzerren der Gesichtsmuskeln drollig darzustellen, dann ergötzt er wieder die Gesellschaft mit allerlei Taschenspielerstückchen, indem er z. B. scheinbar ein Messer verschlingt; oder er legt drei Semmelstückchen auf den Tisch, und verspricht, sie unter seinen Hut, den er inzwischen aufgesetzt hat, zu bringen, ohne diesen abzunehmen. Er bewirkt dies, indem er sie verspeist. Ferner bringt er aus seinem Gesichte eine ganze Reihe dummer Fratzen zum Vorschein, so daß sich eine aus der andern immer naturgemäß zu entwickeln scheint: er stellt die Scene dar, wie alle Mitglieder einer Familie umsonst sich bemühen, ein Licht auszublasen, weil sie sämmtlich schiefe Mäuler haben; er führt selbstständige kleine Dramen auf, z. B. eins unter dem Titel: „Habt Ihr meiner Mutter Mütze nicht gesehen?“ wobei er bald als dummer Junge, bald als weinerlicher sentimentaler Bube, bald als bramarbasirender Eisenfresser erscheint, und, jedem dieser Charaktere getreu, im Zimmer nach der Mutter Mütze umhersucht; in Verkleidungen, Verpuppungen und Verkappungen ist er Meister — kurz, er ist im Stande, einen ganzen Abend lang sechs bürgerliche Familien mit Groß und Klein aufs possierlichste zu unterhalten.


6. Der Arrangeur,


 


 

insofern der Wichtigste, da er gewissermaßen der organisirende Geist ist, ohne welchen in einer Familie eine Festlichkeit, ein kleiner Ball, ja selbst ein Pfänderspiel nicht wohl zu Stande kommen kann. Er ist, was beim Theater der Direktor, der Regisseur, der Operndirigent, der Feuerwerker, der Inspizient, der Maschinenmeister, der Decorationsmaler, der Balletmeister, der Garderobier, der Theaterdichter und der Lampenputzer sind, in Einer Person. Am glänzendsten zeigt er sich in Festspielen, die er meist selbst erfindet, dichtet und arrangirt, und wobei er vorzugsweise darauf bedacht sein muß, auch die kleinen drei und vierjährigen Sprößlinge des Hauses, die dann gewöhnlich als Genien mit Flügeln erscheinen, passend zu verwenden, und ihnen rührende Verse in den Mund zu legen, welche um so eindringlicher wirken, wenn zuletzt der Namenszug des gefeierten Familienmitgliedes in transparenter Beleuchtung im Hintergrunde erscheint. Der Arrangeur hat zwar viele Mühe und mannigfache Kümmerniß, dafür aber auch die überschwengliche Genugthuung, daß die Mitglieder der Familie, für die er vorzugweise wirkt, die Dramen Shakspeare’s, Schiller’s und Goethe’s gegen seine Festspiele für Schüler- und Stümperarbeiten, und seine Verse für die besten halten, die je gedichtet und deklamirt worden sind.

[63] „Nein! sagen Sie mir nur, wo Sie das Alles so hernehmen?“ sagt der Hausherr, „das klingt ja alles so prächtig, als müßt es irgendwo schon gedruckt stehen;“ dagegen sagt die Hausfrau: „Es ist doch gar zu rührend und klingt wie studirt; der Pastor kann’s auf der Kanzel nicht besser sagen.“

Und doch ist er ein Narr! Statt ein einträgliches Amt zu bekleiden, hungert er Werktags lieber, um an Sonn- und Festtagen im Kreise jener Familie zu schwelgen und bei hochfeierlichen Gelegenheiten die Namenszüge der Gefeierten und seinen eigenen Geist leuchten zu lassen.


7. Der Anekdotenerzähler.

Ein Narr, dessen Gebiet eine ungemeine Ausdehnung hat, dessen Stoff gar nicht zu erschöpfen ist, dessen Literatur von den Anekdoten in Meidingers Grammatik bis zu Müchlers Anekdoten-Almanach und noch höher hinauf reicht, und alle Epochen der Weltgeschichte von Adam bis auf Louis Philipp und den Fürsten Reuß den Sechzigsten umfaßt. Zwar wird er natürlich darauf bedacht sein, vorzugsweise die neuesten Anekdoten und Tagesgeschichten einzufangen, doch ist ihm, bei seinem überreichen Vorrath, unbenommen, auch die älteren und ältesten Gäule aus seinem Anekdotenstall herauszuziehen und vor der Tischgesellschaft courbettiren zu lassen.

 

Der Mann hat gar keine andere Form zu denken und sich auszusprechen als die Anekdote. Die gesammte Weltgeschichte und ihre Heroen lösen sich bei ihm in lauter Anekdoten auf; eine jagt die andere, eine bringt die andere in Vergessenheit. Mit einer Anekdote von Friedrich dem Großen führt er sich in die Gesellschaft ein und mit einer Anekdote von Talleyrand[WS 3] empfiehlt er sich; von Newton und Galiläi, von Kant und Hegel hat er keine Zeile gelesen, wenn aber einer dieser Männer zufällig genannt wird, so ist zehn gegen eins zu wetten, daß er von ihm wenigstens ein Dutzend Anekdoten zu erzählen weiß. Wird ein Hecht aufgetragen, so stehen ihm wenigstens fünfzig der berühmtesten Leberreime[WS 4] zu Gebote. Seine Philosophie, seine Natur- und Geschichtskenntniß, seine gesammte Weltanschauung verdankt er einzig und allein dem Studium der Anekdotensammlungen, welche seit Erfindung der Buchdruckerkunst veranstaltet wurden. Mit der ersten Anekdote ist für ihn die Welt erschaffen, und mit der letzten wird sie für ihn in ihr Nichts zurückkehren.


8. Der Räthsel- und Rebusaufgeber.
 

Auch dieser bearbeitet ein sehr wichtiges Feld der Unterhaltung. Er beherrscht vollkommen das weitläufige Gebiet der Charaden, Logogryphen, Räthsel, Anagramme u. s. w. Ist er in sehr gebildeter Gesellschaft, so giebt er die feineren und schwierigeren auf, die sich wo möglich gar nicht errathen lassen; in Gesellschaften von minderer Cultur läßt er sich auch wohl zu Fragen herab wie folgende: Warum sieht sich der Hase um, wenn er von Hunden verfolgt wird? Antwort: Weil er hinten keine Augen hat. — Wie schreibt man gefrornes Wasser mit drei Buchstaben? — Antwort: Eis u. s. w.

Auch die Urelemente der bekannten Rebus beherrscht er in einem sehr seltenen Grade. Angenommen, die Wirthin hieße Eugenie Rosa Waldesel, so nimmt er ein Blättchen Papier, malt darauf zuvörderst ein Ei, schreibt dahinter „Genie," zeichnet darauf eine Rose, dann ein paar Bäume, welche einen Wald vorstellen, endlich einen Esel, und läßt das Blättchen an der Tafel herumgehen, bis endlich Jemand erfreut ausruft: Ach, Madame Eugenie Rosa Waldesel! —

Auch die Geographie gibt ihm einen sehr reichlichen Stoff; er fragt z. B.: in welchem Lande ist man für den Winter am besten eingerichtet? Antwort: In Ungarn, denn da gibt es Ofen. Oder: wo muß man sich am Meisten in Acht nehmen? Antwort : in der Schweiz, denn da gibt es Zug! Wo predigt Schiller Diebstahl? Antwort: In seinem Lied an die Freude, denn er sagt da: Und wer’s nie gekonnt, der stehle etc.

Selbst die ehrwürdige Bibel wird nach Räthselstoffen durch- und umgewühlt, z. B.: Wie hieß der erste Edelmann? Antwort: Herr von Ferne, denn geschrieben steht: Er sah den Herrn von Ferne. — Welch ein Landsmann war David? Antwort: Ein Holländer, denn er sagt: ich bin zu Leiden geboren. — Oder: was für ein Sänger war David? Antwort: Baßsänger; denn er sagt: aus der Tiefe schrei’ ich zu Dir. — Oder: wie hieß Tobiä Hündchen? Antwort: Aber; denn es heißt: Sein Hündchen aber lief ihm voran u. s. w.

 

Man kann denken, daß es bei so freier Behandlung und Benutzung der Weltgeschichte, der Erdbeschreibung und sogar der ehrwürdigen Bibel dem Räthselnarren nicht wohl an Stoff fehlen kann.

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Anmerkungen (Wikisource)

  1. In der Vorlage: erreignen.
  2. In der Vorlage: schültelt.
  3. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838), französischer Staatsmann und Diplomat.
  4. Leberreim, improvisiertes Scherzgedicht.