Mitteilungen des Verbandes deutscher Vereine für Volkskunde Nr. 6
für Volkskunde
Nr. 6. | (Korrespondenzblatt) | November 1907. |
Der junge Verband deutscher Vereine für Volkskunde hat in den ersten Jahren seines Bestehens schwere Zeiten durchgemacht. Der härteste Schlag für ihn war der Tod seines ersten Vorsitzenden, A. Stracks, der den Verband ins Leben gerufen hatte und mit der ganzen Entschlossenheit seines Charakters für ihn eintrat. Strack hat in der ersten Nummer des Verbandsorganes klar ausgesprochen, was ihn zu einer selbständigen freien Vereinigung der Vereine für Volkskunde bestimmt hatte: die Volkskunde sollte endlich auch in Deutschland eine Wissenschaft werden, die sich selbst genug ist und um ihrer selbst willen betrieben werden soll, die wohl von den Nachbargebieten lernen will, was sie zu ihrer eignen Entwicklung braucht, die aber nicht die Dienerin einer andern Wissenschaft sein darf. Selbstverständlich konnte in der kurzen Spanne Zeit, die Strack gewirkt hat, das Ziel nicht erreicht werden. Aber aus dem Auge werden wir es nicht lassen, und wenn es erreicht ist, wird erst dem Manne der gebührende Lohn zuteil werden, der es gewiesen.
Als Strack die Augen geschlossen hatte, schien es eine Zeitlang, als sollte der Verband wieder aus den Fugen gehen. Das wäre zu bedauern gewesen, da wir erst durch die vereinte Arbeit beginnen, die Methode des Sammelns und Verarbeitens des Stoffes auszubilden, das Gebiet fester zu umgrenzen, realen und idealen Gewinn aus der Beschäftigung mit der Volkskunde zu ziehen. Nur durch gemeinsames Wirken ist es möglich, viel unnütze und doppelte Arbeit zu verhüten und die geistigen Kräfte zu konzentrieren. Es ist auch die Verknüpfung aller Vereine deutscher Volkskunde – deutsch natürlich in ethnographischem, nicht in politischem Sinne – zum Verbande die Vorbedingung zu einer großen internationalen Vereinigung, die nur eine Frage der Zeit ist und zu der bereits die einleitenden Schritte getan sind. Solche Erwägungen müssen uns bestimmen, alles aufzubieten, um den Verband zu erhalten. Nur schweren Herzens habe ich die Leitung übernommen. Aber die Einigkeit, die unter den Vertretern der Einzelvereine in Eisenach herrschte, läßt mich hoffen, daß in gleichem Geiste auch weitergearbeitet wird und daß der Zentrale die Unterstützung der Einzelvereine nicht fehlt.
Ist nun bei Verfolgung des gemeinsamen Zieles die Einigkeit wünschenswert, so sind doch die Wege und Mittel, die zum Ziele führen, mannigfaltig und demnach auch die Ansichten darüber. Über diese muß gestritten werden. Erst durch den Streit der Parteien klären sich die Ansichten, und jede Wissenschaft, die keine Streitfragen bietet, ist tot oder siecht dahin. Zu dieser Klasse will die aufstrebende Volkskunde nicht gehören. Sie bietet noch ein weites Schlachtfeld für denkende Köpfe und bedarf der Kämpfer, wenn unsre wissenschaftliche und praktische Arbeit gefördert werden soll. Zu diesem Kampf hielt Strack die Mitteilungen des Verbandes für das geeignetste Organ, [2] da es in die Hände Tausender kommt, die Interesse für die wissenschaftliche und praktische Volkskunde haben. Von der Unterstützung, die die Mitteilungen von seiten der Einzelvereine erfahren sollten, machte er es abhängig, ob diese ihre Aufgabe erfüllen könnten. Sind wir ehrlich: diese Unterstützung ist der Leitung des Verbandes bisher nicht zuteil geworden. Denn Fragen, die Wissenschaft und praktische Arbeit läutern und fördern könnten, sind in den erschienenen Heften nicht angeschnitten worden; was sie bringen, ist referierender Natur, Berichte, die sich die Leitung zum großen Teil hat zusammenholen müssen, um die Spalten des Organs zu füllen. Sollen die Mitteilungen ihre Aufgabe lösen, so müssen uns unsre Mitglieder mit Beiträgen beschenken, in denen zu den Aufgaben und zur Methode der Volkskunde Stellung genommen wird, aus denen wir nach praktischen Erfahrungen hören, wie und durch wen am besten volkskundlicher Stoff eingeerntet wird, wo neue Quellen, namentlich für die geschichtliche Entwicklung des Volkstums, zu finden sind u. ähnl. Der anregende Teil muß die Hefte der Mitteilungen beherrschen, der referierende muß mehr in den Hintergrund treten.
Seit der Diskussion, die sich im 1. und 2. Bande der Hessischen Blätter für Volkskunde zwischen Strack und Hoffmann-Krayer entwickelt hat, ist die Frage über das Wesen der Volkskunde nicht wieder eingehender erörtert worden. In diesem Streite spielte die Bedeutung des Wortes „Volk“ in Volkskunde eine wesentliche Rolle. Hoffmann-Krayer verstand unter Volk in erster Linie das „vulgus“, die niedre, primitiv denkende, von wenig Individualitäten durchdrungene Menge. Diese sollte vor allem den Stoff zur Volkskunde liefern. Demgegenüber hat Strack mit vollem Rechte hervorgehoben, daß auch in den höheren Schichten der Bevölkerung, die man nicht unter das vulgus zu rechnen pflegt, noch viel altes Volkstum fortlebt, das wir entschieden als volkskundliches Material mit verwerten müssen. Nach Strack (Hess. Blätter II, 71 f.) hat die Volkskunde zu ihrem Gegenstand nicht das vulgus, sondern das Volk (bezw. den Stamm, Gauverband u. ähnl. Gruppen), insofern es als solches, als natürlich gewordene Gemeinschaft, geistig schaffend und Lebensformen erzeugend uns entgegentritt. Als Aufgabe der Volkskunde bezeichnet er es, die geistigen Erzeugnisse und die Formen dieses durch Sitte gebundenen Gemeinschaftslebens zu erforschen und vergleichend ihre Gesetzmäßigkeit zu erkennen. In seiner reinsten Ausprägung trete uns dies Volkstum bei dem Bauernstande entgegen, weshalb gerade diesem die große Bedeutung in der Volkskunde zukomme. Strack versteht also unter Volk in Volkskunde die natio, unter der Aufgabe der Volkskunde die Beschäftigung mit den geistigen Erzeugnissen des Kollektivgeistes der natio, die im Gegensatze zu den individuellen Erzeugnissen einzelner Personen stehen. Ganz kann ich auch dieser Definition von Volkskunde nicht beistimmen. Zu den geistigen Erzeugnissen des durch die Sitte gebundenen Gemeinschaftslebens müßten wir auch das Rittertum, das Gildenwesen, die modernen Turn-, Sing- und andre Vereine rechnen, die sicher kein Forscher der Volkskunde in sein Gebiet ziehen will. Man werfe nicht ein, daß dies historische Gebilde sind, die die Zeit verweht hat oder später oder früher verwehen wird, die also zum Teil für die Gegenwart keine Bedeutung haben. Wollen wir das Volkstum eines Volkes in seinem ganzen Umfange erforschen, dann dürfen wir nicht, wie es Strack zu tun scheint, ausschließlich mit den Erscheinungen des Volkslebens der Gegenwart rechnen, sondern mit dem gesamten Volksleben, soweit wir es geschichtlich zurückverfolgen können. Je weiter wir aber in der Zeit zurückgehen, um so mehr schwindet dann auch der Bauernstand als Repräsentant des Teiles im Volke, der den Kollektivgeist vertritt. Für die Gegenwart mag er als solcher gelten, für das Mittelalter nicht. Und was das Aufkommen und Verschwinden der Erscheinungen betrifft, so wäre auch dies kein Grund, sie aus dem Begriffe der Volkskunde zu bannen. Trachten, Hausformen, [3] selbst das Volkslied u. a. kommt und verschwindet ebenso im Volksleben, und niemand versagt ihm Heimatsrecht in der Volkskunde. Warum schließen wir also z. B. das Zunftwesen von der Volkskunde aus, während doch die Jünglings- und Männerbünde, die Nachbarschaften unumstritten zu ihr gehören? Die Psychologie gibt uns die Antwort: das eine ist der assoziativen Denkform der Volksseele entsprossen und lebt durch sie fort, das andre dem reflektierenden Verstande. Nur mit den Erzeugnissen der ersteren hat es die Volkskunde zu tun.
Wir wissen alle, daß bis in den höchsten Kreisen noch viel Aberglaube herrscht. Und das wird schwerlich auch bald anders werden. So lange Kirchenglaube noch vorhanden ist, so lange wird auch der Aberglaube fortleben. Daß für Unzählige die 13 eine Schreckenszahl, Mittwoch oder Freitag ein böser Tag ist, ist unumstößliche Tatsache. Stand doch selbst ein Mann wie Bismarck im Banne dieses Aberglaubens. Wie hieraus Hoffmann-Krayer schließen kann, diese Tatsache beweise, daß „Dummheit und Geheimratstitel sich nicht immer ausschließen“, ist mir unverständlich. Und ist nicht alles das, was Rabaud als „Altheidnische Wurzeln im katholischen Kultus“ zusammengetragen hat, vom Standpunkt des Nichtkatholiken Aberglaube? Ich selbst bekenne ganz offen: so viel ich mich auch mit der Geschichte und den Wurzeln des Aberglaubens beschäftigt habe, so ertappe ich mich doch hier und da in seinem Banne. Die Neigung zum Aberglauben ist dem Menschen von Kindheit eigen, und je nach der Umgebung seiner Jugend wird diese bald mehr, bald weniger tief in ihm Wurzel geschlagen haben. Tritt ihm aber dann das Objekt des Aberglaubens (z. B. die Zahl 13 oder bei einem Ausgange eine Katze, ein Hase u. dgl.) entgegen, so wird dies unwillkürlich auf ihn einen Eindruck machen, auch wenn ihm sein Verstand sagt, daß eine seelische Erregung über das betreffende Objekt Unsinn ist. – Wie hier der Gebildete im Banne des Aberglaubens steht, so stehen Tausende von ihnen ferner im Banne volkstümlicher Sitte. Warum schmückt man selbst in den Palästen zu jedem Weihnachtsfest den Christbaum? Warum muß am Pfingsttage eine Maie das Haus zieren? Wir stehen im Banne der volkstümlichen Sitte, der Gewohnheit. Aber warum brechen wir diesen Bann nicht, da wir ja jetzt wissen, daß die Sitte im Grunde genommen auch ein Stück Aberglaube birgt? Die Sitte wirkt unwillkürlich auf unser Gemüt; der grüne Baum mit seinen Lichtern im Winter, die frische Birke im Mai tut dem Gemüte wohl, wie ein Feldblumenstrauß, den die Kinder den Eltern aus der neuerwachten Natur heimbringen. Die Sitte beherrscht das Gemüt, sie läßt den reflektierenden Verstand gar nicht mitsprechen. – Ein andres Bild. Der alte Doktor hat den ganzen Tag über seinen Büchern gesessen und philosophischen Problemen nachgedacht. Am Abend geht er aus; sein Gang führt ihn am Wirtshaus vorüber, aus dem fröhlicher Gesang junger Burschen schallt. Der fasziniert ihn; er kehrt ein, wird begrüßt und eingeladen, an dem Freudenfest der Jugend teilzunehmen. Bald kommt er sich wie ein ganz andrer Mensch vor; er fühlt sich gehoben, wird selbst wieder mit jung, und nachdem er den Vorschlag zu einem Volksliederkomment gemacht, ertönt aus seinem Munde das Lied, das er einst als Soldat gehört und oft gesungen hat: „An der Weichsel, fern im Osten“. Woher dieser Umschwung bei dem alten Herrn, der sich selbst im Vergleich mit seiner Stimmung hinter den Büchern wie Tag und Nacht vorkommt? Die Umgebung hat diesen Wandel bewirkt; sein grübelnder Geist ist zu Hause bei den Büchern geblieben, das heitere Scherzen und Singen läßt sein Gemütsleben walten. Und wenn zur selben Stunde ein Sammler von Volksliedern in den Kreis treten würde, ich bin überzeugt, er würde das Lied des alten Sängers ebenso aufzeichnen wie die der jungen Burschen. In solcher Stimmung sind von hochgelehrten Leuten auch selbst manche Lieder gedichtet worden, die bald Eigentum der Menge, des Volkes geworden sind. Wir wissen ja alle aus Erfahrung, wie die [4] Natur, wie Berge und Wälder und Frühlingsgrün unsre Seele beherrschen und ganz den reflektierenden Verstand in den Hintergrund drängen. Ein treffliches Beispiel hiervon hat Dr. Ratzinger brieflich John Meier mitgeteilt (Kunstlieder im Volksmunde S. III f.): „Ich selbst,“ so schreibt er, „war im Jahre 1869 im Kapplergarten zu Berchtesgaden in ihrer (d. h. des Pfarrers Dr. Westermayr und des Ministerialrats Leinfelder) Gesellschaft, als sie drei Stunden Trutz sangen, in Schnaderhüpfeln gereimt, aus dem Stegreife. Es waren prächtige Leistungen, von denen die Zuhörer sich viele notierten und unter das große Publikum der Berchtesgadner Lande brachten.“ Noch andre Beispiele führt J. Meier an, nach denen Lieder Gebildeter gleich nach ihrem Entstehen Eigentum der Menge geworden sind. Was in aller Welt gibt uns ein Recht, diese Lieder von denen zu trennen, deren Verfasser wir nicht kennen, die aber aller Wahrscheinlichkeit nach von Leuten aus dem Volke gedichtet und gesungen worden sind? Wie den Hirten auf den Bergen hat auch den Gebildeten die Natur direkt zum Liede angeregt, die um so mehr sein Gemüt beherrschen muß, wenn er selbst ein Kind der Berge, der Natur ist.
Aus allen den angeführten Beispielen geht hervor, daß der Gebildete ebenso gut Stoff zur Volkskunde liefern kann wie der Ungebildete, der Mann aus dem Volke. In jedem Menschen lebt gleichsam ein Doppelmensch: ein Naturmensch und ein Kulturmensch: dieser zeigt sich durch seine reflektierende und logische Denkweise, jener durch seine assoziative. Unter den Gebildeten überwiegt im gewöhnlichen Leben der Kulturmensch, allein auch er kann in Lagen kommen, wo er in den Bann der assoziativen Denkform gerät. In diesem Zustande steht er auf gleicher Stufe wie der Ungebildete, wie der Naturmensch. „Eine höhere Kulturstufe,“ sagt Schultze (Psychologie der Naturvölker S. 242), „oder konkreter ausgedrückt, ein auf einer höheren oder sogar höchsten Kulturstufe stehendes Volk ist keineswegs ein in allen Teilen durchaus gleichmäßig beschaffenes Gebilde. Immer gibt es darin auch Bevölkerungsschichten von tiefer, ja tiefster Bildung und Unkultur, die in dieser Beziehung den Wilden ähnlich sind. . . . Und was vom Ganzen gilt, gilt auch vom Individuum. Auch kein einzelner Mensch, und selbst ein Goethe nicht, stellt in allen seinen Teilen gleichmäßig geartete Kulturgebilde dar; in jedem von uns schlummert der wilde Mensch, sowohl in sittlicher als auch in intellektueller Beziehung, und macht sich zu Zeiten geltend.“ Und wie dieser Zustand psychischer Assoziation bei einem Menschen häufiger eintritt als bei einem andern, so überwiegt er auch bei einer Klasse Menschen mehr als bei einer andern. Bei dem Individuum tritt er ein, sobald der Eindruck der Außenwelt auf die Seele so groß ist, daß die Gemütsregungen den reflektierenden Verstand zurückdrängen und die Seele nur noch unter dem Einflusse dieser Gemütsstimmung die Dinge auffaßt und wiedergibt. Die Außenwelt setzt sich aber zusammen aus der umgebenden Natur, wichtigen Lebensvorgängen und den Mitmenschen mit ihren Worten, Handlungen und Werken. Durch letztere steht der Mensch zugleich im Banne der Überlieferung, zwischen der und den Einflüssen der Umgebung ein innerer Zusammenhang besteht. Denn Überlieferung ist in diesem Falle nichts andres als Eindrücke der Außenwelt auf die Seelen der Vorfahren, Eindrücke, die sich von Geschlecht auf Geschlecht fortgepflanzt haben. Mit diesen Reflexäußerungen psychischer Assoziation hat sich also die Volkskunde zu beschäftigen, und hierin stellt sie sich in Gegensatz zur Geschichte und besonders zur Kulturgeschichte, in der der abwägende Verstand des Individuums bestimmend ist.
Wenn wir nun die psychische Assoziation in den Mittelpunkt des Begriffes „Volkskunde“ stellen, so erklärt sich vielerlei, was man bisher als Tatsache angenommen, aber noch nicht zu deuten versucht hat. Zunächst folgt hieraus, daß heute der Bauernstand, oder sagen wir richtiger die Stände, die ihre Beschäftigung in der freien Natur haben, den meisten Stoff zu volkskundlicher Forschung bieten. [5] Denn bei ihnen überwiegt infolge ihrer Bildung und ihrer Beschäftigung in der Natur die assoziative Denkform. Ganz dasselbe ist bei den Kindern der Fall, die namentlich für Lied und Spiel einen reichen volkskundlichen Stoff gewähren. Von den beiden Geschlechtern hat das weibliche entschieden mehr Neigung zur assoziativen Denkweise als das männliche; hieraus erklärt sich, daß wir bei ihm gewisse Äußerungen des Volkstums (Aberglaube, Volkslied u. a.) mehr gepflegt finden als beim männlichen Geschlechte. – Die zunehmende Bildung, d. h. die logische Schulung des Verstandes, drängt die psychische Assoziation immer mehr zurück. Infolgedessen gewähren höher gebildete Völker oder Stämme weniger Material zur Volkskunde als Völker niederer Kulturstufe. Unstreitig ist die allgemeine Bildung der ärgste Feind alles dessen, was wir als Äußerungen der Volksseele in diesem Sinne aufzufassen pflegen. Aus der assoziativen Denkform erklären sich auch die großen Übereinstimmungen geistiger Erzeugnisse der verschiedensten Völker, die der Kulturvölker mit denen der Naturvölker. Denn die Wirkung der Umgebung auf den Menschen ist im Grunde genommen bei allen gleich oder ähnlich, nur die Form der Wiedergabe ist je nach der Gemütsanlage der Völker verschieden. Wir finden bei dieser Auffassung vom Wesen der Volkskunde auch den Grund, warum in ihr das Gemütsleben der Völker eine so wichtige Rolle spielt. Der Naturmensch faßt die Erscheinungen der Außenwelt mit dem Gefühl auf; sie beherrschen seine Seelenstimmung, und in der jeweiligen Seelenstimmung gibt er sie wieder. Aus den gleichen Wirkungen der Außenwelt auf die menschliche Seele erklärt sich auch der kollektive Charakter der Erzeugnisse des Volksgeistes, der bei gemeinsamer Abstammung und dem dadurch bedingten Volkscharakter auch in der Form zum Ausdruck kommt. Bei der assoziativen Denkweise treten die geistigen Erzeugnisse des Einzelnen, tritt die Individualität vollständig zurück. Daß die verschiedenen geistigen Erzeugnisse, die wir zu den Materien der Volkskunde rechnen, nicht von der Masse, sondern von einer bestimmten Persönlichkeit ausgehen, wissen wir alle. Ja hier und da können wir sogar die Persönlichkeit nachweisen, wie es bei verschiedenen Volksliedern, bei Hausinschriften, bei Werken der Volkskunst der Fall ist. Da aber diese geistigen Erzeugnisse ohne jede Reflexion, vielmehr ganz im Fühlen und Denken des Ganzen, des Volkes gestaltet worden sind, rechnen wir sie ebenso zu den Erzeugnissen des Volksgeistes wie die andern, deren Urheber wir nicht kennen. Nicht das Individuum schlechthin darf daher als Quelle volkskundlichen Stoffes verworfen werden, sondern die Individualität, aus der der reflektierende Verstand spricht. Aus dieser Auffassung vom Wesen der Volkskunde erklärt sich endlich auch mit Leichtigkeit, unter welchen Bedingungen Werke individueller Geistesarbeit zu Materien der Volkskunde werden können. Wir wissen, daß manches Werk der Volkskunst, die Volkstrachten, volkstümliche Bauweisen, aber auch Lieder, Sprichwörter, ja selbst viel Aberglaube und Sitte auf Erzeugnisse einer höheren Kultur, auf individuelle Geistesarbeit zurückzuführen sind. Solange diese den Stempel reflektierender Geistesarbeit zeigen, gehören sie dem Gebiet der Kulturgeschichte, nicht der Volkskunde an. Sobald aber der Naturmensch seine Freude und Wohlbehagen daran findet und sie in diesem Gefühle aufnimmt und umgestaltet, treten sie in den Kreis volkskundlicher Objekte. Das assoziativ denkende Volk bildet nicht nach, sondern es ahmt nach; die Umgestaltungen entspringen nicht reflektierender Geistestätigkeit, sondern einer Geistestätigkeit, die von Empfindungen und Gefühlen geleitet wird.
Nach diesen Darlegungen können wir das Gebiet und somit auch die Aufgaben der Volkskunde schärfer umgrenzen. Danach hat die wissenschaftliche Volkskunde als Objekt ihrer Forschung die geistigen Erzeugnisse eines Volkes, die durch psychische Assoziation entstanden und durch diese fortgepflanzt bezw. verändert worden sind. Unter dem „Volk“, dessen Erzeugnisse zu erforschen sind, verstehen unsre Vereine bald eine ethnographische, [6] bald eine politische Einheit. Jedenfalls nicht, wie die Praxis lehrt, von dieser Einheit nur einen Teil, das vulgus, die niederen Schichten, sondern alle Individuen soweit sich an ihren Worten, Handlungen und Werken die oben erwähnte Denkform wahrnehmen läßt.[1] An und für sich beschäftigt sich die Volkskunde nur mit den Erzeugnissen eines Volkes und zwar meist eines Kulturvolkes. Um aber die psychischen Ursachen der Erscheinungen zu ergründen und den Stammcharakter des Volkes festzustellen, müssen die Parallelerscheinungen anderer Völker und besonders der Naturvölker vergleichend und erklärend herangezogen werden.
Aber nicht nur das Wesen der Volkskunde müssen wir schärfer zu erfassen suchen, sondern auch ihre Materie müssen wir m. E. anders einteilen als es gegenwärtig zu geschehen pflegt. Hierüber ist um so mehr Aussprache und Verständigung erwünscht, als nach dem folgenden Entwurf das gesammelte Material in der Zentralstelle gruppiert werden soll. Schon nach der Deutung, die Strack dem Begriff der Volkskunde gegeben hat, habe ich die Weinholdsche Gruppierung nicht mehr für glücklich und zeitgemäß gehalten. Stehen die „geistigen Erscheinungen“ des Volkes im Mittelpunkte des Begriffes, so muß von diesen ausgegangen und das, was Weinhold als innere und äußere Zustände bezeichnet, muß mit der Psyche des Volkes in Zusammenhang gebracht werden. Gar nichts mit der Volkskunde zu tun hat das, was ihr Weinhold als Einleitung vorausschickt: die physische Erscheinung des Volkes. Diese Abschnitte gehören in das Gebiet der Anthropologie, und wie wir unser Gebiet vor Annexion von seiten der Nachbarwissenschaften schützen wollen, so wollen wir auch keinen Anspruch machen auf etwas, das uns nicht gehört. Mit demselben Rechte, wie die physischen Erscheinungen des Volkes, könnten wir auch die Beschreibung seines Landes, seine Geschichte, die Statistik u. a. hereinziehen, wie es z. B. Wuttke in der Sächsischen Volkskunde getan und so die Begriffe Volks- und Landeskunde vermengt hat. Gehen wir von der Tatsache aus, daß die Erforschung der psychischen Erscheinungen des Volkes den Angelpunkt der Forschung bildet, so ist die Einteilung der Materie m. E. durchaus einfach. Die Volkskunde hat zur Aufgabe darzulegen, wie sich die Psyche des Volkes äußert:
- im Wort,
- im Glauben,
- in Handlungen,
- in Werken.
I. Dem 1. Abschnitt gehört dann an:
a) Die Sprache des Volkes, soweit wir sie als Volkssprache zu bezeichnen pflegen: der Dialekt mit seinen besonderen Formen, seinem Wortschatz, seinem Stil.
b) Die Namen, die das Volk sich und seiner Umgebung beigelegt hat: Personen- und Ortsnamen, Flur- und Waldnamen, volkstümliche Tier- und Pflanzenbezeichnungen, Namen für gewisse Vorgänge im Leben, wie für den Tod, die Taufe, Trunkenheit u. dgl.
c) Die Volksdichtung: Das Volks- und Kinderlied, Märchen, Fabel, Sage, volkstümliche dramatische Dichtungen, das Sprichwort, die Haus- und Hausgerätsprüche, die Inschriften der Marterln, Totenbretter, Grabsteine u. a.; Volkshumor und Volksneckereien.
[7] II. Der Volksglaube bildet den Übergang zu dem 3. Hauptabschnitt. Soweit er durch das Wort zum Ausdruck kommt, gehört er zu I, soweit er dagegen aus der Handlung, aus Sitte und Brauch spricht, zu III. Ich möchte ihn in einem besonderen Abschnitt behandelt sehen. Freilich ist es nicht leicht, eine Grenze zwischen dem Aberglauben schlechthin und dem abergläubischen Brauch zu ziehen. Daher findet man meist diese beiden Dinge getrennt, den Aberglauben zerrissen. So will z. B. Weinhold den Aberglauben unter der Religion (II, 3) behandelt sehen, verlangt aber auch bei der Lebenssitte (II, 1) Jägeraberglauben, Aberglauben der Handwerksburschen, Behandlung des Bauernkalenders u. a. Ebenso findet sich in dem Entwurf zu volkskundlichen Stoffsammlungen, den mir Brenner zugeschickt hat, neben dem Hauptabschnitt III: „Aberglaube“ unter II: „Sitte und Brauch“ die Abteilung: „Abergläubische Bräuche“. Am besten, glaube ich, kommen wir aus, wenn wir einen Unterschied zwischen lebendigem und totem Aberglauben machen. Unter jenem verstehe ich alle Worte und Handlungen, aus denen noch alter Glaube an die Abhängigkeit des Menschen von der Außenwelt, von seiner Umgebung spricht, unter dem toten Aberglauben dagegen den, wo jede Glaubensvorstellung im Laufe der Zeit vergessen ist, wo alter Ritus nur in der volkstümlichen Sitte fortlebt. Angang, Tagewählerei, Traumdeuterei u. dgl. sind lebendiger Aberglaube, Frühlings- und Johannisfeuer, der Schlag mit der Lebensrute, das Essen der Ostereier u. a. dagegen toter; hier hat sich alter Kult oder Ritus nur noch als volkstümliche Sitte erhalten, und niemand ahnt noch, daß diese einst der Ausdruck von Glaubensvorstellungen gewesen ist. Dabei gehe ich natürlich von der Gegenwart aus. Denn verfolgen wir diese volkstümliche Sitte in der Zeit zurück, so können wir wohl auf Zeugnisse stoßen, aus denen auch noch bei ihr der Volksglaube spricht.
Abschnitt II hat demnach zu behandeln den lebendigen Aberglauben oder richtiger den Volksglauben. Hierher gehört der Glaube an die Einwirkung der Natur, des Himmels, der Gestirne auf die Geschicke des Menschen, der Seelen- und Geisterglaube, der Aberglaube, der sich an die einzelnen Tage des Jahres, an die Hauptereignisse im menschlichen Leben, an die einzelnen Stände und Berufe knüpft, die volkstümliche Heilkunst, soweit sie im Aberglauben wurzelt, die Prophetie, der Zauber u. dgl. Aber auch die volkstümliche Auffassung von Gott, Welt, Religion, dem Leben nach dem Tode, die von der Lehre des christlichen Dogmas vielfach abweicht, gehört in dies Kapitel.
In Abschnitt III sind die Äußerungen der Volksseele durch die Handlung zu gruppieren. Er handelt also von Sitte und Brauch und zwar:
1. in der sozialen Vereinigung des Volkes (in der Familie, im Alltagsleben, bei besonderen Ereignissen, an den Festtagen; unter den verschiedenen Altersklassen, den verschiedenen Gesellschaften, Ständen, Berufen) und
2. in der politischen Vereinigung, der Gemeinde, dem staatlichen Zusammenschluß. Hierher gehören vor allem das volkstümliche Recht (Weistümer) und die Rechtsgewohnheiten (Hausmarken, Kerbholz u. a.), die aus dem Rechtsgefühl des Volkes herausgewachsen sind.
Abschnitt IV endlich sammelt die Äußerungen der Volksseele in den Werken, den Erzeugnissen volkstümlicher Arbeit. Hier kommen in Betracht:
1. die Wohnung (Haus und Hof) mit ihrer Einrichtung und Ausschmückung, mit ihren Geräten, die für den Alltagsbedarf und zur Erhaltung des Lebensunterhaltes notwendig sind. Besondere Beachtung verdient dabei die Volkskunst und die volkstümliche Hausarbeit;
2. die Kleidung (die Alltags- und Festtagstracht, der verschiedenen Altersstufen, bei besonderen Gelegenheiten, der Schmuck u. a.);
[8] 3. die Nahrung (charakteristische Speisen in bestimmten Gegenden, zu bestimmten Zeiten, das volkstümliche Gebäck u. a.).
Ich habe im Vorhergehenden versucht, das Wesen der Volkskunde aus dem Material, wie es in den verschiedenen volkskundlichen Zeitschriften vorliegt, zu erklären und als das ausschlaggebende die assoziative Denkweise des Volkes gefunden. Alles, was individuelle und reflektierende Geistesarbeit bedingt, ist demnach von der Volkskunde auszuschließen; sobald wir diese Erzeugnisse mit hereinziehen, steuern wir ins Uferlose. Auf alle Fälle haben wir es bei der Volkskunde nur mit Erzeugnissen psychischer Vorgänge zu tun. Auf Grund dieser Tatsache scheint mir die hier vorgeschlagene Gliederung des Materials nicht nur wünschenswert, sondern geradezu notwendig. Selbstverständlich beziehen sich die Ausführungen nur auf einen Teil des wissenschaftlichen Betriebs der Volkskunde, auf die Begrenzung und Gruppierung des Materials. Auf die geschichtliche und psychologische Erklärung der Erzeugnisse des Volksgeistes, die der wissenschaftliche Betrieb ebenfalls erheischt und die stammheitliche Volkskunde zur vergleichenden macht, kann ich hier ebenso wenig eingehen wie auf die Aufgaben, die der Volkskunde für das praktische, besonders das soziale Leben der Gegenwart erwachsen. Dagegen möchte ich die Methode volkskundlicher Forschung, soweit sie das Material betrifft, noch kurz berühren.
Die meisten Arbeiten, die auf volkskundlichem Gebiete in den letzten Jahren veröffentlicht worden sind, sind Stoffsammlungen, die sich auf ein territoriales Gebiet beschränken und die nur das bringen, was gegenwärtig noch im Volke fortlebt. Zu solchen einfachen Sammlungen gehört keine wissenschaftliche Methode, sondern nur Treue in der Wiedergabe. Etwas anders liegt es bei Werken, die innerhalb eines örtlich abgegrenzten Gebietes bestimmte Erzeugnisse des Volkes: Sagen, Sitten und Gebräuche, Rätsel u. dgl., abschließend geben wollen. Hier wird m. E. meist zu voreilig veröffentlicht. Zweierlei vermißt man bei diesen Publikationen nur zu oft: 1. die Verfolgung der örtlichen Ausdehnung der Zeugnisse und 2. die Rückverfolgung der Zeugnisse in der Zeit und ihres Wandels innerhalb derselben.
Gewisse Erzeugnisse der Volksseele sind allgemein; sie erstrecken sich über ganze Provinzen, ganze Länder und lassen sich auch bei andern Völkern in ähnlicher Verbreitung nachweisen. Andre dagegen sind auf engere Kreise, auf Teile eines Landes, einzelne Täler, ja zuweilen sogar auf einzelne Ortschaften beschränkt. Hier und da können wir ein sprunghaftes Auftauchen der Zeugnisse wahrnehmen: sie begegnen in ganz verschiedenen Gegenden, zwischen denen sich keine Spur beobachten läßt, die sie als Überbleibsel einer früher zusammenhängenden Kette erklären könnte. Dabei ist es von ganz besonderer Wichtigkeit, wenn sich Erzeugnisse von verschiedenen Gebieten der Volkskunde in gleicher territorialer Entwicklung verfolgen lassen, wenn sich z. B. feststellen läßt, daß die Grenzen des Dialektes mit den Grenzen gewisser Haus-, Gerät- und Schmucktypen oder bestimmter Sitten und Gebräuche, ja selbst mit denen von Sagen und Volksliedern zusammenfallen. Die Erfahrung hat gelehrt – ich verweise auf die Beobachtungen von Gallée, Rhamm u. a. –, daß man durch solche vergleichende Methoden zu recht bedeutenden Ergebnissen kommen kann, durch welche die Volkskunde zugleich in den Dienst der vaterländischen Ethnographie und Geschichte tritt. Deshalb ist, was man leider in unsern volkskundlichen Sammelwerken fast durchweg vermißt, eine Verfolgung des Ausbreitungsgebietes volkskundlicher Zeugnisse unbedingt notwendig. Die Ergebnisse lassen sich am übersichtlichsten darstellen durch eine Karte, aus der die Grenzen der Zeugnisse sofort ersichtlich sind.
Ein weiterer Fehler, dem man bei volkskundlicher Forschung häufig begegnet, ist die Beschränkung des Materials auf die Zeugnisse der Gegenwart. Jedes einzelne Zeugnis der Volksseele ist ein psychisches und historisches Produkt. Wie alles dem [9] Wandel der Zeiten unterworfen ist, so sind es auch die Volksseele und ihre Erzeugnisse. Manches, das wir heute zum festen Bestand volkskundlicher Forschung rechnen – ich erinnere an die Trachten, das Weihnachtsfest, historische Volkslieder –, ist in nachweisbarer Zeit entstanden und hat sich in der immer tätigen Volksseele vielfach verändert. Dieser historische Entwicklungsprozeß muß verfolgt und klargelegt werden, wenn wir die Volkskunde von einem lehrreichen Sport, was sie heute noch vielfach ist, zu einer ernsten Wissenschaft erheben wollen. Um in ihn aber einzudringen, müssen zunächst die volkskundlichen Zeugnisse aus Schriftstücken vergangener Jahrhunderte, aus den Werken der Schriftsteller, Zeitschriften, Urkunden, Briefen u. dgl. ausgezogen und gesammelt werden, von Cäsar und Tacitus bis zu den Schriftstücken der jüngsten Vergangenheit. Hier ist noch ein weites Arbeitsgebiet, denn nur wenig ist in dieser Beziehung getan (die Arbeiten von A. Kauffmann, Liebrecht, Schönbach u. a. können als Vorbild dienen). Aber die Arbeit läßt sich bewältigen, wenn nur mit vereinten Kräften der Einzelvereine planmäßig und energisch vorgegangen wird. Nur darf man nicht vor der Zeit mit der Verarbeitung des Materials beginnen; der Drang nach vorzeitigen Publikationen schadet mehr, als daß er die Sache fördert. Die Preußische Akademie der Wissenschaften mag uns hier als Vorbild dienen: sie schafft zunächst getreue Ausgaben unsrer Schriftsteller, die einst bei der Bearbeitung eines großen deutschen Wörterbuchs die Grundlage der Sammelarbeit bilden sollen. Ernten wir auch nicht die Früchte unsrer Arbeit, so bestellen wir doch das Feld in einer Weise, die zukünftigen Geschlechtern reichen Ertrag sichert. Erst wenn die Zeugnisse früherer Zeiten zusammengetragen und mit denen der Gegenwart verknüpft sind, läßt sich in streng historischer Methode eine Darstellung der deutschen Volksseele in Sprache, Glauben, Sitte und Brauch und Werken geben und fremder Einfluß vom heimischen Gut scharf scheiden.
Um die vielen und großen Aufgaben, die dem Verbande bevorstehen, erfüllen zu können, müssen wir zunächst danach trachten, möglichst alle Vereine, die die volkskundliche Forschung auf ihr Programm geschrieben haben, in unsern Verband hereinzuziehen. Es muß alles aufgeboten werden, um Hindernisse, die zwischen dem Verband und dem einen oder andern Vereine stehen, zu beseitigen. Aus den Akten ergibt sich nun, daß die Höhe des jährlichen Beitrags ziemlich viele Vereine abgeschreckt hat, in den Verband einzutreten. Wir hoffen, daß sich ein andrer Modus der Beitragszahlung finden läßt, damit dieser wenigstens kein Hindernis mehr sei, sich dem Verband anzugliedern. Freilich müßte man dann darauf sinnen, dem Verbande auf andre Weise Mittel zuzuführen, denn mit der Ausdehnung des Arbeitsgebietes wachsen auch die Ausgaben des Verbandes.
Während wir noch in der Entwicklung begriffen sind, geht uns der Plan zu einer internationalen Vereinigung der Vereine für Volkskunde zu. Daß uns auf diesem Gebiete wissenschaftlicher Arbeit andre Völker voraus sind, weiß jeder, der die Verhältnisse kennt. Was hat nicht alles schon die englische Folklore Society geschaffen! In den skandinavischen Ländern gibt es schon länger an den Universitäten Lehrstühle für volkskundliche Forschung. Von hier aus geht auch der Aufruf zum Zusammenschluß.
Im vergangenen Sommer reiste Kaarle Krohn, der bekannte Kalewalaforscher und Professor der finnischen Volkskunde in Helsingfors, durch Skandinavien und Deutschland, um sich mit Vertretern der Volkskunde, besonders mit A. Olrik in Kopenhagen, über diese Angelegenheit zu besprechen. Krohn und A. Olrik haben nun einen [10] Entwurf zu einem internationalen „Folkloristenbund“ aufgestellt, der die Vertreter der Volkskunde in den verschiedenen Ländern einander näher bringen und vor allem die fortwährende Wiederholung derselben Arbeit beseitigen soll. Wer jemals auf dem Gebiet der vergleichenden Volkskunde gearbeitet hat, weiß, wie schwierig es ist, sich das Material zusammen zu suchen, es zu erlangen. Bei solcher Arbeit will der Verband unterstützend und beratend eingreifen. Er will Kataloge über Material der verschiedenen Länder herausgeben, will Abschriften, Auszüge und Übersetzungen gegen mäßiges Honorar vermitteln, wichtige wissenschaftliche Arbeiten unter seine Fittiche nehmen und in einer leicht zugänglichen Sprache veröffentlichen, durch periodische Zusammenkünfte die volkskundlichen Bestrebungen in den einzelnen Ländern fördern und die Arbeit vertiefen. Die Angelegenheit befindet sich erst in den Anfängen der Entwicklung. Aber ich halte es für meine Pflicht, unsre Mitglieder schon heute darauf hinzuweisen, da wir möglicherweise bereits auf der Berliner Tagung zu ihr Stellung nehmen müssen.
In zwei Aufsätzen: „Über das germanische Loosen“ (Monatsber. der Kgl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1853) und „Die Loosstäbchen“ (Symbolae Bethmanno Hollwegio oblatae; S. 69 ff., Berl. 1868) hat Homeyer das altgermanische Losen durch die Kavelstäbchen im Volksbrauch nachgewiesen. Die angeführten Zeugnisse stammen fast alle aus Norddeutschland und Skandinavien, keins aus Oberdeutschland. Sollten sich hier gar keine Beispiele dieser altgermanischen Sitte im Rechtsleben finden? Vielleicht steckt das eine oder andre in seltenen oder verschollenen Schriften. Sollte sich hier oder da noch der Brauch erhalten haben, so wäre ich für eine Mitteilung sehr dankbar. Besonders kommt es hierbei auch mit darauf an, ob sich noch irgendwo ein Zusammenhang mit den Kavelstäbchen und den Hausmarken nachweisen läßt, d. h. ob die Teilnehmer beim Kaveln sich ihrer Hausmarke bedienten.
Die einzelnen Vereine des Verbandes werden gebeten, uns möglichst bald Namen und Adresse ihres Vorsitzenden bezw. Schriftführers, sowie die Mitgliederzahl des Vereins zukommen zu lassen. Auch wären wir dankbar, wenn man uns auf Vereine hinwiese, die ebenfalls die volkskundliche Überlieferung pflegen, aber sich noch nicht dem Verbande angegliedert haben. Diese sowie alle übrigen Mitteilungen im Interesse des Verbandes beliebe man an die Adresse des Schriftführers, Dr. Oskar Dähnhardt, Leipzig-Gohlis, Marbachstr. 9, zu richten.
Diejenigen Vereine, die den Jahresbeitrag für 1907 noch nicht eingesandt, bitten wir, denselben möglichst bald an unsern Rechnungsführer, Herrn Dr. Pantenius, Leipzig-R., Breitkopfstr. 7, gelangen zu lassen.
Buchdruckerei Richard Hahn (H. Otto), Leipzig.
- ↑ Was von einem Zweige der Volkskunde gilt, gilt natürlich von allen. Ich glaube deshalb, daß Strack auf dem richtigen Wege zum Verständnis des Wesens der Volkskunde ist, wenn er von der Entstehung neuer Vierzeiler sagt: „Die Reflexion ist dabei kaum tätig; Assoziationen formeller und natureller Art, die sich unbewußt einstellen, tun das meiste.“ (Hess. Blätter I, S. 60).