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Natur, wie Berge und Wälder und Frühlingsgrün unsre Seele beherrschen und ganz den reflektierenden Verstand in den Hintergrund drängen. Ein treffliches Beispiel hiervon hat Dr. Ratzinger brieflich John Meier mitgeteilt (Kunstlieder im Volksmunde S. III f.): „Ich selbst,“ so schreibt er, „war im Jahre 1869 im Kapplergarten zu Berchtesgaden in ihrer (d. h. des Pfarrers Dr. Westermayr und des Ministerialrats Leinfelder) Gesellschaft, als sie drei Stunden Trutz sangen, in Schnaderhüpfeln gereimt, aus dem Stegreife. Es waren prächtige Leistungen, von denen die Zuhörer sich viele notierten und unter das große Publikum der Berchtesgadner Lande brachten.“ Noch andre Beispiele führt J. Meier an, nach denen Lieder Gebildeter gleich nach ihrem Entstehen Eigentum der Menge geworden sind. Was in aller Welt gibt uns ein Recht, diese Lieder von denen zu trennen, deren Verfasser wir nicht kennen, die aber aller Wahrscheinlichkeit nach von Leuten aus dem Volke gedichtet und gesungen worden sind? Wie den Hirten auf den Bergen hat auch den Gebildeten die Natur direkt zum Liede angeregt, die um so mehr sein Gemüt beherrschen muß, wenn er selbst ein Kind der Berge, der Natur ist.

Aus allen den angeführten Beispielen geht hervor, daß der Gebildete ebenso gut Stoff zur Volkskunde liefern kann wie der Ungebildete, der Mann aus dem Volke. In jedem Menschen lebt gleichsam ein Doppelmensch: ein Naturmensch und ein Kulturmensch: dieser zeigt sich durch seine reflektierende und logische Denkweise, jener durch seine assoziative. Unter den Gebildeten überwiegt im gewöhnlichen Leben der Kulturmensch, allein auch er kann in Lagen kommen, wo er in den Bann der assoziativen Denkform gerät. In diesem Zustande steht er auf gleicher Stufe wie der Ungebildete, wie der Naturmensch. „Eine höhere Kulturstufe,“ sagt Schultze (Psychologie der Naturvölker S. 242), „oder konkreter ausgedrückt, ein auf einer höheren oder sogar höchsten Kulturstufe stehendes Volk ist keineswegs ein in allen Teilen durchaus gleichmäßig beschaffenes Gebilde. Immer gibt es darin auch Bevölkerungsschichten von tiefer, ja tiefster Bildung und Unkultur, die in dieser Beziehung den Wilden ähnlich sind. . . . Und was vom Ganzen gilt, gilt auch vom Individuum. Auch kein einzelner Mensch, und selbst ein Goethe nicht, stellt in allen seinen Teilen gleichmäßig geartete Kulturgebilde dar; in jedem von uns schlummert der wilde Mensch, sowohl in sittlicher als auch in intellektueller Beziehung, und macht sich zu Zeiten geltend.“ Und wie dieser Zustand psychischer Assoziation bei einem Menschen häufiger eintritt als bei einem andern, so überwiegt er auch bei einer Klasse Menschen mehr als bei einer andern. Bei dem Individuum tritt er ein, sobald der Eindruck der Außenwelt auf die Seele so groß ist, daß die Gemütsregungen den reflektierenden Verstand zurückdrängen und die Seele nur noch unter dem Einflusse dieser Gemütsstimmung die Dinge auffaßt und wiedergibt. Die Außenwelt setzt sich aber zusammen aus der umgebenden Natur, wichtigen Lebensvorgängen und den Mitmenschen mit ihren Worten, Handlungen und Werken. Durch letztere steht der Mensch zugleich im Banne der Überlieferung, zwischen der und den Einflüssen der Umgebung ein innerer Zusammenhang besteht. Denn Überlieferung ist in diesem Falle nichts andres als Eindrücke der Außenwelt auf die Seelen der Vorfahren, Eindrücke, die sich von Geschlecht auf Geschlecht fortgepflanzt haben. Mit diesen Reflexäußerungen psychischer Assoziation hat sich also die Volkskunde zu beschäftigen, und hierin stellt sie sich in Gegensatz zur Geschichte und besonders zur Kulturgeschichte, in der der abwägende Verstand des Individuums bestimmend ist.

Wenn wir nun die psychische Assoziation in den Mittelpunkt des Begriffes „Volkskunde“ stellen, so erklärt sich vielerlei, was man bisher als Tatsache angenommen, aber noch nicht zu deuten versucht hat. Zunächst folgt hieraus, daß heute der Bauernstand, oder sagen wir richtiger die Stände, die ihre Beschäftigung in der freien Natur haben, den meisten Stoff zu volkskundlicher Forschung bieten.