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selbst das Volkslied u. a. kommt und verschwindet ebenso im Volksleben, und niemand versagt ihm Heimatsrecht in der Volkskunde. Warum schließen wir also z. B. das Zunftwesen von der Volkskunde aus, während doch die Jünglings- und Männerbünde, die Nachbarschaften unumstritten zu ihr gehören? Die Psychologie gibt uns die Antwort: das eine ist der assoziativen Denkform der Volksseele entsprossen und lebt durch sie fort, das andre dem reflektierenden Verstande. Nur mit den Erzeugnissen der ersteren hat es die Volkskunde zu tun.

Wir wissen alle, daß bis in den höchsten Kreisen noch viel Aberglaube herrscht. Und das wird schwerlich auch bald anders werden. So lange Kirchenglaube noch vorhanden ist, so lange wird auch der Aberglaube fortleben. Daß für Unzählige die 13 eine Schreckenszahl, Mittwoch oder Freitag ein böser Tag ist, ist unumstößliche Tatsache. Stand doch selbst ein Mann wie Bismarck im Banne dieses Aberglaubens. Wie hieraus Hoffmann-Krayer schließen kann, diese Tatsache beweise, daß „Dummheit und Geheimratstitel sich nicht immer ausschließen“, ist mir unverständlich. Und ist nicht alles das, was Rabaud als „Altheidnische Wurzeln im katholischen Kultus“ zusammengetragen hat, vom Standpunkt des Nichtkatholiken Aberglaube? Ich selbst bekenne ganz offen: so viel ich mich auch mit der Geschichte und den Wurzeln des Aberglaubens beschäftigt habe, so ertappe ich mich doch hier und da in seinem Banne. Die Neigung zum Aberglauben ist dem Menschen von Kindheit eigen, und je nach der Umgebung seiner Jugend wird diese bald mehr, bald weniger tief in ihm Wurzel geschlagen haben. Tritt ihm aber dann das Objekt des Aberglaubens (z. B. die Zahl 13 oder bei einem Ausgange eine Katze, ein Hase u. dgl.) entgegen, so wird dies unwillkürlich auf ihn einen Eindruck machen, auch wenn ihm sein Verstand sagt, daß eine seelische Erregung über das betreffende Objekt Unsinn ist. – Wie hier der Gebildete im Banne des Aberglaubens steht, so stehen Tausende von ihnen ferner im Banne volkstümlicher Sitte. Warum schmückt man selbst in den Palästen zu jedem Weihnachtsfest den Christbaum? Warum muß am Pfingsttage eine Maie das Haus zieren? Wir stehen im Banne der volkstümlichen Sitte, der Gewohnheit. Aber warum brechen wir diesen Bann nicht, da wir ja jetzt wissen, daß die Sitte im Grunde genommen auch ein Stück Aberglaube birgt? Die Sitte wirkt unwillkürlich auf unser Gemüt; der grüne Baum mit seinen Lichtern im Winter, die frische Birke im Mai tut dem Gemüte wohl, wie ein Feldblumenstrauß, den die Kinder den Eltern aus der neuerwachten Natur heimbringen. Die Sitte beherrscht das Gemüt, sie läßt den reflektierenden Verstand gar nicht mitsprechen. – Ein andres Bild. Der alte Doktor hat den ganzen Tag über seinen Büchern gesessen und philosophischen Problemen nachgedacht. Am Abend geht er aus; sein Gang führt ihn am Wirtshaus vorüber, aus dem fröhlicher Gesang junger Burschen schallt. Der fasziniert ihn; er kehrt ein, wird begrüßt und eingeladen, an dem Freudenfest der Jugend teilzunehmen. Bald kommt er sich wie ein ganz andrer Mensch vor; er fühlt sich gehoben, wird selbst wieder mit jung, und nachdem er den Vorschlag zu einem Volksliederkomment gemacht, ertönt aus seinem Munde das Lied, das er einst als Soldat gehört und oft gesungen hat: „An der Weichsel, fern im Osten“. Woher dieser Umschwung bei dem alten Herrn, der sich selbst im Vergleich mit seiner Stimmung hinter den Büchern wie Tag und Nacht vorkommt? Die Umgebung hat diesen Wandel bewirkt; sein grübelnder Geist ist zu Hause bei den Büchern geblieben, das heitere Scherzen und Singen läßt sein Gemütsleben walten. Und wenn zur selben Stunde ein Sammler von Volksliedern in den Kreis treten würde, ich bin überzeugt, er würde das Lied des alten Sängers ebenso aufzeichnen wie die der jungen Burschen. In solcher Stimmung sind von hochgelehrten Leuten auch selbst manche Lieder gedichtet worden, die bald Eigentum der Menge, des Volkes geworden sind. Wir wissen ja alle aus Erfahrung, wie die