Memoiren einer Sozialistin/Sechstes Kapitel

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Sechstes Kapitel


Ein Oktoberabend war es wieder, wie vor neun Jahren, als ich in Augsburg ankam. Aber diesmal empfing mich die Tante selbst am Bahnhof. Silbergraue Seide schmiegte sich eng um ihre hohe, volle Gestalt; unter dem großen gleichfarbigen Federhut quollen die roten Locken üppig hervor, stahlblau glänzten ihre Augen in dem weißen Gesicht. Noch nie war ich mir der Schönheit dieser reifen Frau so bewußt geworden. Als unser Wagen den Königsplatz erreichte, den ich einst als öde Sandwüste gesehen hatte, spielten die letzten Goldstrahlen der Herbstsonne mit dem bunten Laub seiner Bäume und den fallenden Tropfen seiner Springbrunnen. Und nicht in die enge Gasse, zu dem alten düsteren Hause ging es, – vor einem Park, dessen Blumenpracht dem Herbst zu spotten schien, öffneten sich vielmehr die breiten Flügel des Torwegs, und zwischen den alten Linden lugten die hellen Mauern eines Gebäudes hervor, das in seiner lichten Vornehmheit an altitalienische Villen erinnerte. Ich hatte es noch nicht gesehen, aber genug davon gehört, denn mein Vater war gar nicht damit einverstanden gewesen, daß seine Schwester das alte Stadthaus verkauft und diesen Landsitz, der wie viele seiner Art vor den Stadttoren ein Sommeraufenthalt [162] augsburger Patrizier gewesen war, mit großen Kosten ausgebaut hatte. Mich umfing die Atmosphäre von Schönheit und Reichtum gleich beim ersten Eintritt wie ein weicher, wohliger Mantel. Das strahlend erleuchtete Treppenhaus glich mit seiner Fülle von exotischen Pflanzen einem Palmengarten, und der süße Duft, der die vielen Räume durchzog, legte sich mir wie ein berauschender Traum auf die Stirne. Ich wurde in den zweiten Stock in meine Zimmer geführt: auch hier Blumen und viel Licht und fröhliche Farben. Viel weiter noch als von der Warthe bis zum Lech fühlte ich mich fern von all den Sorgen des Elternhauses und all den Herzens- und Gewissensschmerzen, die mich niedergedrückt hatten. Zufrieden und dankbar, in der Erwartung lauter schöner Dinge, schmiegte ich mich abends in die weichen Kissen meines Betts.

Es dämmerte, als ich geweckt wurde. „Frau Baronin wünschen, daß das gnädige Fräulein früh aufsteht,“ sagte die Jungfer. Nicht wenig erstaunt, erhob ich mich und fing an auszupacken. Der knurrende Magen trieb mich schließlich herunter; ich holte mir ein Brötchen aus der Küche, da ich noch eine Stunde bis zum Frühstück zu warten hatte. Endlich kam der Diener mit dem Teewasser, und das Klappern hoher Absätze und Rauschen seidener Röcke kündigte die Tante an. Statt eines Morgengrußes lachte sie mir hell ins Gesicht: „Ja wie schaust du denn aus?! So ein Fratz, und fagotiert sich wie eine junge Frau auf der Hochzeitsreise.“ Tief gekränkt biß ich mir auf die Lippen; ich war so stolz auf den weichen schleppenden Morgenrock, den mir mein Vater geschenkt hatte! „Daß du mir diese Theatertoilette [163] nicht mehr anziehst!“ sagte die Tante stirnrunzelnd, während sie sich setzte und die Spitzenflut ihres Kleides sich um ihren Stuhl ausbreitete.

„Hast du deine Zimmer gemacht?“ mit dieser verblüffenden Frage begann sie aufs neue ein Gespräch, in das ich noch mit keinem Wort eingegriffen hatte. „Meine Zimmer?!“ Ich glaubte mich verhört zu haben. In diesem eleganten Haushalt, angesichts einer zahlreichen Dienerschaft männlichen und weiblichen Geschlechts sollte ich die Zimmer machen?! „Es ist doch selbstverständlich, daß ich für dich keine Kammerjungfer halten werde. Außer der groben Arbeit hast du selbst Ordnung zu halten. Und zwar muß vor dem Frühstück alles fix und fertig sein.“ Die Bissen blieben mir im Halse stecken, – so etwas hätte ich mir niemals träumen lassen! Aber es kam noch besser: aus Schränken und Schubladen wurden meine Sachen herausgezogen; kaum ein Hut oder ein Kleid fand Gnade vor den Augen der Tante; und meine Art, die Dinge einzuräumen, erklärte sie für skandalös. Dann forderte sie den Schlüssel zum Schreibtisch – „ein Kind hat nichts zu verschließen“ – und geriet in helle Empörung über meine poetischen Manuskripte, die sie durchstöberte, und meine Lieblingsbücher, von denen ich mich nicht hatte trennen wollen.

„Eine nette Erziehung!“ rief sie, „und ich kann meine Zeit und meine Kräfte opfern, um so ein von Grund aus verdorbenes Geschöpf wie dich zu einem anständigen Menschen zu machen!“ Ich zitterte vor Aufregung, aber kein Wort kam über meine Lippen, – das einzige, was ich durch die Erziehung meiner [164] Mutter bis zur Vollendung gelernt hatte, war die Selbstbeherrschung. Erst abends im Bett, nach einem Tag, an dem ich nicht einen Augenblick mir selbst gehört hatte, kam die Verzweiflung über mich und fassungslos schluchzte ich in die Kissen. Aber auch die Möglichkeit, mich auszuweinen, sollte mir genommen werden. Sah ich morgens verweint aus, oder zeigten sich dunkle Ränder um meine Augen, so erregte das den heftigsten Zorn der Tante, – „ein junges Ding hat frisch und rosig auszusehen“, erklärte sie; und da der bloße Befehl nichts helfen wollte, kam sie abends, wenn ich zu Bett war, wiederholt in mein Zimmer, um zu kontrollieren, ob ich schlief. So gewöhnte ich mich rasch an die große Kunst, nach innen zu weinen. Grund genug hatte ich dazu. Es verging kein Tag, ohne daß ich gescholten worden wäre: wenn an ihrem behandschuhten Finger, mit dem sie über jede Leiste in meinem Zimmer fuhr, Staub haften blieb; wenn meine Krawatte nicht richtig gebunden war, meine Handschuhe nicht sorgfältig ausgereckt in der Schublade lagen, wenn ihre scharfen Augen einen Fleck auf dem Kleide entdeckten, oder wenn ich gar zu einer Zeit las oder schrieb, wo ich Strümpfe stopfen sollte! Briefe, die nicht die Handschrift der Eltern aufwiesen, wurden von ihr zuerst geöffnet und gelesen. Dadurch erfuhr sie, daß ich meiner Kusine Mathilde mein Leid geklagt hatte. „Es ist sehr traurig, daß Deine geistigen Bedürfnisse so wenig berücksichtigt werden und Deine Begabung keine Anerkennung findet,“ hatte sie mir daraufhin geschrieben; höhnend las die Tante mir die Stelle vor und erklärte dann: „Ich verbiete dir jede Korrespondenz, außer der mit deinen [165] Angehörigen. Das fehlte mir noch, daß dein dummer Hochmut heimlich unterstützt wird, statt daß du endlich einsiehst, wie viel dir noch fehlt, um nur den guten Durchschnitt zu erreichen.“ Sie unterließ nichts, um mir zu dieser Erkenntnis zu verhelfen, und beleuchtete möglichst grell alle schwachen Seiten meiner Ausbildung: die musikalische, die fremdsprachliche, die praktische. Stundenlang quälte ich mich täglich am Klavier; englische und französische Konversationsstunden wechselten daneben mit Koch- und Nähunterricht ab. Ein paar Musterexemplare vollendeter junger Damen wurden mir des guten Beispiels wegen zum Verkehr zugewiesen. Sie konnten alles in der Perfektion, was ich nicht konnte, sie sangen und spielten, stickten und schneiderten, und immer war ihre Toilette tadellos. Natürlich fand ich sie gräßlich und träumte mich immer mehr in die tragische Rolle einer verwunschenen Prinzessin.

Ich war klug genug, um bald einzusehen, welches die Triebkraft der Handlungsweise meiner Tante mir gegenüber war: eine grenzenlose, von allen Menschen, die sich ihr näherten, sorgfältig genährte Eitelkeit. Wie ihr Haus und ihr Park die schönsten, ihre Equipage und ihre Toiletten die elegantesten Augsburgs waren, so sollte ihre Nichte – am Maßstab Augsburgs gemessen – die vollendetste junge Dame sein. Es gehörte eine intensive geistige und körperliche Umwandlung hierzu, um dieses Ziel zu erreichen.

Wurde die gute Gesellschaft in Norddeutschland durch den alten ritterbürtigen Adel repräsentiert mit seiner Auffassung von Ebenbürtigkeit, mit seinen kirchlich-orthodoxen und politisch-konservativen Gesinnungen, seiner [166] damals noch ausgesprochenen Geringschätzung jeden Berufs, der außerhalb der Laufbahn des Gutsbesitzers, des Offiziers oder des höheren Staats- und Hofbeamten lag, so setzte sie sich hier, getreu den Traditionen, aus dem alten und dem neuen Patriziertum zusammen, das mit wenigen Ausnahmen nach wie vor bürgerlichen Berufssphären angehörte. Zur Zeit, da die Ahnherren der preußischen Junker wider Heiden und Türken kämpften, handelte der Stammvater der Fugger mit Leinwand, segelten die Kauffahrteischiffe der Welser nach Westindien, saßen die ersten Stettens in der Goldschmiedzunft. Ihre Nachkommen betrachteten die Fröhlich und Forster und Schätzler – Industriebarone des neunzehnten Jahrhunderts – als zu sich gehörig, während der Offizier als solcher ebensowenig eine gesellschaftliche Stellung besaß wie der Landsknecht des Mittelalters.

So groß wie der Gegensatz der Herkunft war der der wirtschaftlichen Interessen, die in meinem bisherigen Lebenskreise wesentlich agrarische gewesen waren und hier ausschließlich großindustrielle. Die verschiedenartige politische Stellung folgte daraus: die gute Gesellschaft Augsburgs war nationalliberal, und lehnte mit der politischen auch die kirchliche Orthodoxie ab. Ein lebhafteres Interesse für Kunst und Wissenschaft ging damit Hand in Hand, und wurde von der Allgemeinen Zeitung und den Männern, die durch sie nach Augsburg kamen, stets rege erhalten. Unterhielt man sich in den Schlössern Ostpreußens von Literatur und Theater, so geschah es nur unter dem Gesichtswinkel des größeren oder geringeren Amüsements; in Augsburg gehörte es zum guten Ton, Neues zu [167] kennen und vom künstlerischen Standpunkt aus darüber zu urteilen.

Die breite Mittelstraße, auf der sich von rechts und links immer die Leute zusammenfinden, die den Mut nicht aufbringen, vom Wege ihrer alten Anschauung die entgegengesetzte Grenze zu überschreiten, und die zu ihrer eigenen Beruhigung jene Straße die „goldene“ tauften, war das Symbol des ganzen geistigen Lebens. In Preußen vermied man es, über ernstere Fragen zu sprechen, weil dabei die Ansichten aufeinanderplatzen könnten und das nicht zum guten Ton gehört, hier war man soweit, alles zum Gegenstand bloßer Konversation zu machen.

Wurde es mir sehr schwer, bürgerliche Hausfrauentugenden zu lernen, und noch schwerer, jenen tief gewurzelten Hochmut nieder zu drücken, der sich durchaus nicht dazu verstehen wollte, einen Fabrikanten oder einen Bankier als gleichgestellt anzusehen, so war die politische und religiöse Richtung der Umgebung im Einklang mit meiner Entwicklung. Und von dieser Seite aus eroberte mich Augsburg und machte mich schließlich zum gefügigen Zögling meiner Tante.

Kaum hatte sie mich äußerlich ausreichend umgemodelt – eine kunstvolle Frisur und ein Pariser Korsett waren ebenso das Attribut süddeutscher Vornehmheit, wie der glatte Scheitel und das deutsche Mieder das der norddeutschen waren –, als ich in den Kreis ihrer Verwandten und Freunde eingeführt wurde. Was mich zunächst in Erstaunen setzte, war, bei anerkanntem Reichtum, die große Einfachheit des äußeren Lebens. In dem alten hochgiebeligen Stettenhaus am Obstmarkt gab es noch [168] gescheuerte Dielen und servierende Dienstmädchen. In der Zeit der Renaissancemöbel und verdunkelnden Gobelinvorhänge behauptete hier die weiße Mullgardine neben dem leichten Biedermeierstuhl ihren Platz. Im Hause der Schätzler, dessen herrlicher Rokokosaal jedem Königsschloß zur Ehre gereichen würde, buk die Hausfrau selbst den Weihnachtskuchen und machte das Obst ein. Ich verlernte allmählich, über dergleichen die Nase zu rümpfen; die Vereinigung von Fleiß, Einfachheit und Reichtum hatte etwas imponierendes, und die Erkenntnis, daß es außerhalb der Welt meiner bisherigen Umgebung noch Menschen gab, mit denen „man“ verkehren konnte, war epochemachend für mich. Aber noch überraschender war der Eindruck, den das geistige Leben auf mich machte. Zu den Intimsten im Hause meiner Tante gehörte der Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung, Dr. Otto Braun, der Oberbürgermeister von Augsburg, Ludwig Fischer, und der Pfarrer von St. Anna, Julius Haberland. Mit einem kleinen Kreis anderer Gäste – aus dem die männliche Jugend streng ausgeschlossen war – kamen sie regelmäßig einmal in der Woche bei uns zusammen. Der Musiksaal, der mit seinen Goldornamenten und rotseidenen Möbeln dem brutalen Prachtgeschmack des bayrischen Königs zu huldigen schien, war dem Wagner-Kultus geweiht. Im grünen Rokokoboudoir trafen sich die Plaudernden; in der ernsten dunkeln Bibliothek unter der zimmerhohen Fächerpalme pflegte Otto Braun vorzulesen.

Er war ein außerordentlich lebhafter untersetzter, kleiner Mann, dessen Interessen wesentlich literarische waren, und dessen jugendliche Begeisterung für seine Lieblingsdichter [169] ansteckend wirken mußte. Trotz des Gegengewichts der Tante, die meine Lektüre auf das notwendigste und kindlichste beschränken wollte, verstand er es, meine zerfahrenen Neigungen in feste Bahnen zu lenken, und erschloß mir Gebiete der Literatur, die mir, und damals wohl auch der Mehrzahl des lesenden Publikums, noch vollkommen fremd geblieben waren. Hatte ich bisher die Bücher der Modedichter, eines Heyse, Dahn oder Ebers, andächtig verschlungen, so wurden mir jetzt die von Gottfried Keller, von Conrad Ferdinand Meyer und Marie von Ebner-Eschenbach zu künstlerischen Offenbarungen. Daß Braun den Allerjüngsten verständnislos gegenüberstand, sich gegen radikale Ausländer, wie Zola, Ibsen und manche der großen Russen ablehnend verhielt, vermochte auf mich um so weniger nachteilig zu wirken, als der Eintritt in seine Interessensphäre schon einen großen Schritt vorwärts bedeutete.

Für das Gebiet der Politik und der Religion galt dasselbe wie für das der Literatur. Wenn Ludwig Fischer, der als einflußreiches Mitglied der nationalliberalen Partei auf der Höhe seines parlamentarischen Ruhmes stand, seine Ansichten entwickelte, so erschienen sie mir, der die konservative Politik stets als die eines anständigen Menschen allein würdige dargestellt worden war, beinahe als revolutionär. Die Erinnerung an den revolutionären Liberalismus von 1848, der mich in der Geschichtsstunde einmal begeistert hatte, verstärkte diesen Eindruck; von Freihandel und Schutzzoll verstand ich nichts, hatte also von dem Umfall der Mehrzahl der Liberalen in jener Schutzzollperiode Bismarcks keinen Begriff, sondern empfand, was ich hörte, wie eine innere Befreiung: es [170] gab Menschen, es gab eine große Partei, die die Ideale der Freiheit und der Menschenrechte hochhielten, ich konnte mich zu ihnen bekennen, ohne, wie sonst immer, bei den Meinigen auf heftigen Widerstand zu stoßen. „Konservativ kann ich nicht sein,“ schrieb ich im Frühjahr 1881 an meine Kusine, mit der ich, seitdem die Tante befriedigt die guten Resultate ihrer Erziehung konstatierte, wieder korrespondieren durfte, „das wäre dasselbe, als wenn ich für die Prügelstrafe und die Unterdrückung jedes wissenschaftlichen Fortschritts eintreten wollte. Der Nationalliberalismus, der nicht eine Kaste und ihre veralteten Privilegien, sondern die Interessen des ganzen Volkes vertritt, der die wissenschaftliche Erkenntnis stets zu fördern bereit ist, und daher auch der religiösen Orthodoxie energisch gegenüber steht, entspricht meinen Ansichten.“

Der kirchliche Liberalismus, den kennen zu lernen mir noch interessanter war, und der in Augsburg allgemein vorherrschte, wurde im Kreise meiner Tante durch den Pfarrer ihrer Gemeinde auf das eindrucksvollste vertreten. Der sonntägliche Kirchgang – hier ebenso eine selbstverständliche Pflicht wie zu Hause – hatte darum nichts abschreckendes mehr für mich. Wenn Julius Haberlands schöne Apostelgestalt auf der Kanzel erschien und seine sonore Stimme die Kirche mit Wohlklang erfüllte, war ich vom ersten Augenblick an gefesselt: hier fehlte jede dogmatische Schroffheit; Verständnis und Milde fand ich hier für menschliche Fehler und Irrtümer, wo mir in Posen nichts als Verurteilung und Härte begegnet war.

Alle Wunden öffneten sich wieder, die die religiösen [171] Kämpfe mir geschlagen hatten; sie waren nur mühselig überklebt, aber nicht geheilt worden, und ich sehnte mich mehr denn je nach der Heilung. Auf meinen dringenden Wunsch bat meine Tante den Pfarrer, mir privaten Religionsunterricht zu erteilen; er war bereit dazu, und so ging ich denn allwöchentlich ein paarmal in das stille Haus an der Fuggerstraße. In seiner sonnigen Studierstube saß ich dem gleichmäßig gütigen Mann mit den feinen, von blondem Vollbart umrahmten Zügen und den weißen, schmalen, gepflegten Händen viele Stunden gegenüber, und ganz, ganz langsam gelang es ihm, aus meinem ängstlich verschlossenen Inneren all meine Zweifel und Verzweiflungen herauszulocken. Sein Christentum, das den religiösen Glauben weit mehr im Sinne des Vertrauens, statt in dem des Für-wahr-haltens, auffaßte, wirkte zunächst auf mich, wie der Eintritt in die freie Natur auf einen Menschen wirkt, der zwischen den Mauern enger Gassen lange zu leben gewohnt war.

Mein Glaubensbekenntnis konnte zu Recht bestehen, und ich war doch ein Christ. Ich brauchte nicht an die göttliche Inspiration der Bibel, an die Wunder des Alten Testaments, an die Jungfräulichkeit der Mutter des Heilands zu glauben und war doch keine aus der Kirche Ausgestoßene. Als heiliges Symbol konnte aufgefaßt werden, was ich wörtlich für wahr zu halten verpflichtet worden war, – demnach hatte ich vor dem Altar keinen Meineid geschworen! Mein Verstand beruhigte sich dabei. Ich hatte auch hier die „goldene“ Mittelstraße erreicht, auf der so viele, selbst alte Leute gehen, die keine Heuchler zu sein brauchen, die aber, beherrscht von jener gefährlichsten Eigenschaft unserer Denkkraft – der Bequemlichkeit [172] – da einen Punkt machen, wo die eigentliche Arbeit erst anfangen sollte.

Aber die Befriedigung des Verstandes konnte auf die Dauer über den Hunger des Gemüts nicht hinwegtäuschen. Es blieb leer in mir, viel leerer als zu der Zeit, wo der alte strenge Gott der orthodoxen Kirche sich noch nicht in einen so milden, hinter fernen Nebeln fast verschwindenden väterlichen Greis verwandelt hatte. In kalte Schauer des Entsetzens hüllte mich diese trostlose Öde, je länger ich in dem glänzenden Blumenhaus am Königsplatz wohnte, je mehr ich mich unter den rastlos formenden Händen der Tante der Idealgestalt, die ihr vorschwebte, näherte. Nie ließ sie mir Zeit für mich selbst; mein Tag war, was das Arbeitspensum und die Art der Erholung betrifft, so genau eingeteilt, daß für meine persönlichen Neigungen kein Platz übrig blieb. Wenn mich aber einmal in den langen Stunden, die ich bei irgend einer Handarbeit saß, die Gestalten meiner Träume überwältigten und ich mich ihrer nicht anders zu erwehren vermochte, als daß ich heimlich nachts darauf zu Feder und Tinte griff, um mit klopfenden Pulsen in Worte und Reime zu fassen, was mich erfüllte, so konnte ich sicher sein, daß die Tante oder die Jungfer mein streng verbotenes Tun entdeckten. „Unnütze Phantasien“ hatte ich zu beherrschen; mußte durchaus gedichtet werden, so boten Familienfeste Gelegenheit genug dazu.

Einmal, im Frühjahr wars, als die Tante zu einer ärztlichen Konsultation nach München hatte fahren müssen. Da benutzte ich die Erlaubnis eines Besuchs bei einer Freundin, um allein nach Herzenslust in der [173] Stadt umherzustreifen. Einem tiefen inneren Bedürfnis folgend, das sich aus künstlerischen und religiösen Motiven merkwürdig zusammensetzte, war es mir schon zur Gewohnheit geworden, bei jedem Ausgang in irgend eine der alten Kirchen einzutreten, wo ich im weihrauchduftenden Dämmer wenigstens zu Augenblicken stiller Sammlung kam. Heute durfte ich mir ein paar Stunden gönnen, nachdem ich den Besuch möglichst abgekürzt hatte.

Das Portal des Doms stand offen, als ich näher trat, und Scharen kleiner Kinder trugen lange Girlanden bunter Frühlingsblumen hinein, um die vielhundertjährigen Säulen und Altäre zu den Maiandachten der heiligen Jungfrau zu schmücken. Königlich und liebreich zugleich schien sie vom Pfeiler des großen Tores auf all die jungen Gläubigen herabzulächeln. Innen, in den weiten Hallen, die so wunderbar deutlich, und eindringlicher als irgend ein gelehrtes Buch, von der Entwicklung deutscher Kunst erzählen, verklangen die vielen trippelnden Füßchen, und es war ganz still. Die helle Nachmittagssonne glänzte durch die alten gemalten Fenster, so daß Daniel und Jonas, Moses und David von neuem Leben durchglüht erschienen. Im Gegensatz zu diesem Licht waren die schwarzen Schatten des dunkeln Querschiffs um so tiefer, und wie hinter grauen Florschleiern schimmerten die Grabsteine in den Seitenschiffen. Dumpfkalte Winterluft schwebte noch um die Mauern. Dem hellen Chorgang schritt ich daher zu, aus dem die Kinder mir gerade entgegenströmten; sie hatten ihm schon sein frisches Festkleid angetan, und es trieb mich, zu sehen, wie sie der Mutter Gottes als heidnischer Frühlingsgöttin [174] die Erstlinge des Lenzes geopfert hatten. Da stockte mein Fuß vor einem steinernen Grabmal: ein Totenschädel mit breitem Mund und leeren Augen grinste mich an, lang gestreckt dehnte sich der ausgedörrte Leib auf dem Sarkophag, von Kröten und Schlangen ringsum gräßlich benagt. Entsetzt floh ich hinaus; aber in der Erinnerung verstärkte sich nur noch der Eindruck: die steinerne Maria am Portal, die blumentragenden Kinder aus Fleisch und Blut, und der tote Peter von Schaumburg, der lebenslustige Kardinal, der sich selbst, da er noch im Golde wühlte und Augsburgs schönsten Töchtern die Beichte abnahm, dieses furchtbare Denkmal gesetzt hatte, gingen neben mir her, traten mir in den Weg, oder folgten mit leisen Sohlen meinen Schritten. Oben in meinem Zimmer angekommen, warf ich hastig Hut und Mantel von mir, setzte mich an den Schreibtisch und schrieb – schrieb – schrieb, ohne die wiederholte Mahnung zum Abendessen zu berücksichtigen, eine phantastische Geschichte, in der der Kirchenfürst zu der holdseligsten Jungfrau der Stadt in sündiger Liebe entbrannte und die sittsame Maid auf ihr Gebet zum Steinbild auf dem Pfeiler verwandelt wurde, während er in ihrer Nähe sich bußfertig dieses dauernde memento mori schuf. Ich achtete nicht der Stunde, ich hörte nicht die Schritte der Tante hinter mir, erst als sie sich über mich beugte und ihr warmer Atem meine Stirne streifte, fuhr ich erschrocken aus meinem wachen Traum.

„Also nur den Rücken zu kehren brauche ich, und die alte Geschichte fängt von neuem an,“ rief sie empört und nahm die beschriebenen Blätter vom Schreibtisch. [175] „Statt deinen englischen Aufsatz zu machen, treibst du Narrenspossen.“ Damit zerriß sie meine Kardinalsnovelle in tausend Stücke. Ich fühlte, wie alles Blut mir aus den Wangen wich; mit der Selbstbeherrschung war es vorbei. „Du willst mich umbringen – langsam zu Tode martern“ – stieß ich hervor; „tue ich nicht alles, was du willst, lasse mich sogar einsperren und kontrollieren, wie einen Verbrecher? Gönne mir doch mein bischen eigenes Leben – schenk mir ein paar Stunden am Tag –. Gefällt Dir nicht, was ich schreibe, so laß es mir wenigstens. Ich werde ja niemanden damit quälen. –“ „Das wäre auch noch schöner, wenn du mich mit dem eiteln Herumzeigen solchen Geschreibsels blamieren wolltest!“ “ entgegnete sie. „Ich kann tintenklexende Frauenzimmer bei mir nicht dulden. Und du willst, ich soll dir noch extra Freistunden dafür ansetzen! Eine Frau hat überhaupt nicht für sich zu leben, sondern für andere.“ Gequält lachte ich auf – ich dachte daran, wie die Tante „für andere“ lebte! „Ich halte es aber nicht aus, ich muß los werden, was mich gepackt hat. Andere denken auch nicht wie du. Großmama ist immer dafür gewesen, daß ich dem inneren Zwang gehorche.“

„Deine Großmama!“ – höhnisch schürzte die Tante die vollen Lippen; „ich will ja gewiß der alten Dame nicht zu nahe treten, aber du solltest doch besseres tun, als sie zum Kronzeugen anzurufen!“

Empört fuhr ich auf: „Großmama ist die beste Frau, die ich kenne, der einzige Mensch, der mich lieb hat und mich versteht!“

„Mag sein, daß sie dich versteht!“ rief die Tante. „Sie ist gerade so überspannt wie du. Kein Wunder [176] – bei der problematischen Herkunft!“ Ich ballte unwillkürlich die Fäuste, daß mir die Nägel ins Fleisch drangen und warf hochmütig den Kopf zurück: „Mit deinen Augsburgern Krämern kann sie sich freilich nicht messen!“ Kochender Zorn verzerrte die Züge der Tante. „Wirst du sofort wegen dieser unerhörten Frechheit um Verzeihung bitten?!“ schrie sie mich an. Mit einem kurzen „Nein“ wandte ich mich ab und ging in mein Schlafzimmer.

Ich warf mich aufs Bett und biß die Zähne zusammen, um nicht laut auf zu schreien: krampfhafte Schmerzen in der Seite ließen mich die seelischen Leiden momentan vergessen. Andeutungen davon hatte ich schon in Pirgallen beim Reiten gespürt; jetzt, in Augsburg waren sie immer stärker geworden, und steigerten sich nach jeder großen Erregung zu einem heftigen Anfall. Schließlich hatte ich mich entschlossen gehabt, der Tante davon zu sprechen; sie hatte es zum Anlaß genommen, mir zu erklären, daß ein gut erzogenes junges Mädchen nicht krank zu sein hätte, und ihr Hausarzt hatte mir dann, nach einem kurzen Blick auf mein blasses Gesicht „Beefsteak und Rotwein“ empfohlen. Daraufhin sagte ich nichts mehr, auch wenn ich mich vor Schmerzen krümmte. So wie diese Nacht war es freilich noch nie gewesen. Ich tat kein Auge zu.

Am nächsten Morgen wurde mir mitgeteilt, daß ich oben zu bleiben hätte. Auch vor den Dienstboten sollte ich gedemütigt und so zur Abbitte gezwungen werden. Als auch der zweite Tag verstrich, ohne daß ich dazu Miene machte, kam Pfarrer Haberland zu mir. Er sprach mir viel von Tantens Liebe zu mir, ihrer Sorge [177] um mich, den Opfern an persönlichem Behagen, die sie mir ständig brächte, ihrem Alter und meiner zur Unterordnung verpflichteten Jugend. „Zeigen Sie, daß Sie jetzt wirklich eine Christin sind!“ sagte er. „Demütigen Sie sich, auch wenn Ihnen wirklich Unrecht geschehen wäre! Bringen Sie freudig das Opfer Ihrer selbst – Sie werden reichen Lohn davon haben!“ „Vielleicht hat er wirklich recht“, dachte ich; und in dem stolzen Bewußtsein, einen Sieg über mein böses Ich errungen zu haben, ging ich mit ihm herunter, und es gab eine rührende Versöhnungsszene mit viel Tränen, Küssen und Segenswünschen. Ich hatte mich wieder einmal unterworfen. Als eine Art Selbstkasteiung sah ich es an, wenn ich nunmehr mit Feuereifer alle mir unangenehmen Arbeiten übernahm: ich stickte „altdeutsche“ Deckchen, als ob ich es bezahlt bekäme, kämpfte stundenlang am Klavier mit meiner Talentlosigkeit, strickte unentwegt Strümpfe für die Negerkinder, während die Tante nach dem Abendbrot spielte und sang. Aber die Leere im Innern blieb, und wenn abends die Nachtigallen vor meinen Fenstern flöteten und der Duft der weißen Akaziendolden hereinströmte, dann erfaßte mich eine Sehnsucht, eine tiefe, heiße – wonach, ach wonach?!

Im Sommer fuhren wir nach Grainau. Ich freute mich kindisch darauf, aber durch die strenge Abgeschlossenheit des Lebens wurde mir der Aufenthalt sehr verbittert. Ich durfte nicht einmal mit dem Sepp auf die Hochalm, und als Hellmut Besuch machte, der inzwischen ein flotter Gardeleutnant geworden war, und seinen Urlaub in Partenkirchen bei der Mutter verlebte, nahm ihn die Tante allein an; sie mußte ihm wohl bedeutet haben, [178] daß sie den Verkehr mit „dem Kinde“ nicht wünsche, denn er kam nicht wieder.

Wir fuhren täglich spazieren, – wie ich von meinem Wagen aus die Touristen beneidete, die mit dem Rucksack auf dem Buckel frisch und fröhlich in die Welt hineinmarschierten!

Nach Augsburg zurückgekehrt – ich war inzwischen sechzehn Jahre alt geworden – eröffnete mir die Tante, daß ich mich nunmehr, nachdem sie einen Rückfall nicht wieder beobachtet habe, freier bewegen dürfe. Da ich aber weder einen Schreibtisch-, noch einen Stubenschlüssel bekam, beschränkte sich die „Freiheit“ nur auf ein geringeres Maß von Kontrolle, auf den Besuch von Gesellschaften, die nicht ausschließlich aus Damen und alten Herren bestanden, und auf den des Theaters, wo zwei Logenplätze uns jeden Abend zur Verfügung standen. Die Konsequenz und Energie meiner Tante, ihre unablässigen, in den verschiedensten Formen sich wiederholenden, und neuerdings durchaus freundschaftlich gehaltenen Auseinandersetzungen über die Pflichten eines jungen Mädchens von vornehmer Geburt, hatten überdies allmählich auf mich gewirkt wie ein Opiat, das die Seele stumpf macht. Wachte irgend etwas wieder auf in mir, so hielt ich es selbst schon für ein Unrecht, und beeilte mich, es wieder einzuschläfern. An meine Kusine schrieb ich damals: „Du fragst, ob ich irgend etwas schreibe? Es lebt vieles in meinem Kopf und Herzen, aber ich finde keine Zeit dazu, es zu gestalten. Das ist ein wunder Punkt in meinem Leben. In mir kocht und glüht es, und ich glaube wohl, daß ich Talent habe, und daß es hinausstürmen will. Da muß ich denn doppelt [179] hohe Barrieren bauen. Ich muß soviel Prosaisches tun, – und wenn ich erst zu Hause bin, wo ich Mama viel abnehmen muß, wird meine Zeit vollends ganz ausgefüllt sein. Es mag Menschen geben, die für die Prosa des Lebens geboren sind; ihnen werden die gewöhnlichen Pflichten nicht schwer; mir werden sie schrecklich schwer… Mein armer Pegasus hat zuerst daran glauben und am Altar der Pflicht verbluten müssen!… Es ist am Ende das Beste so. Was soll ein armes Mädel mit ihm anfangen? Die Phantasie war das Unglück meines Lebens; sie aus mir herauszuschneiden war eine gräßlich schmerzhafte Operation. Nun, da sie gelungen ist, will ich das, was blieb, nur benutzen, um Haus und Leben damit zu schmücken, meinen Eltern und einmal meinem Mann zu dienen.“

Ich war wirklich eine „junge Dame“ geworden; ich fühlte nicht einmal mehr, daß die hoffnungsvollsten Triebe meines Lebensbodens niedergetrampelt waren. „Man beurteilt ein junges Mädchen nach seinem Aussehen, weniger nach seinem Wissen“, schrieb ich, mir die Ansichten der Tante zu eigen machend, „sie wird mit Recht für arrogant gehalten, wenn sie schon eine eigne Meinung haben will“. Mein Tagebuch, das ich seit dem Augsburger Aufenthalt nicht berührt hatte, weil ich es nicht durfte, blieb auch jetzt unausgefüllt, obwohl mich niemand mehr daran hinderte. Großmama frug einmal brieflich danach, und ich antwortete mit schnippischem Selbstbewußtsein: „Ich schreibe keins, weil ich finde, daß man sich in meinem Alter darin Dinge vorlügt, die man nicht denkt, und aus Ereignissen wichtige macht, die man besser vergißt. Mein Leben brauche ich [180] nicht aufzuschreiben, denn die Nachwelt wird es nicht kümmern. Auch Verse mache ich nicht mehr, denn mein Streben ist darauf gerichtet, mein eignes Ich und die Welt um mich so poetisch wie möglich zu gestalten“ – durch bemalte Teller und Schachteln, bestickte Deckchen und ein mißhandeltes Klavier! – „damit ich einmal meinem Mann eine hübsche Häuslichkeit schaffen kann.“

Mein Mann! – Die Tante sorgte dafür, daß meine Träume sich mehr und mehr um ihn drehten und meine Phantasie, die wir so tief eingesargt wähnten, nach dieser Richtung üppigste Blüten trieb. War nicht das Ziel all ihrer Erziehungskünste der Mann? War es nicht wie ein glattes Rechenexempel, wenn sie mir auseinandersetzte, warum und wann und wen ich heiraten sollte? „Da ich kinderlos bin, wird für dich reichlich gesorgt sein,“ sagte sie, als wir einmal im Siebentischwald spazieren gingen und ihr Arm schwer und schmerzhaft wie stets auf dem meinen ruhte, „aber natürlich erst nach meinem Tode. Jetzt bist du arm und bei der schlechten Wirtschaft deiner Eltern kannst du kaum auf eine Zulage rechnen. Mach also keine Dummheiten. Sorgen treiben gewöhnlich die Liebe zum Hause hinaus. Und wenn ich versucht habe, dich aus deinem Wolkenkuckucksheim in die nüchterne Alltäglichkeit zurückzuführen, so doch nur, damit du dich nicht mit irgend einer konfusen Leidenschaft verplemperst. Du kannst jetzt die größten Ansprüche machen – verscherze dir das nicht!“ Ich hörte ruhig zu, ich war so gut erzogen, daß mir das alles selbstverständlich klang.

Nur einmal wars, als zerrisse ein dunkler Vorhang vor meinen Augen, und ich sah plötzlich, wie eine Vision, [181] die tiefe, dunkle, kalte Leere meines Herzens. Ich suchte spät Abends im Park nach einem Tuch, das ich irgend wo liegen gelassen hatte, als ich vor mir, eng aneinandergeschmiegt, zwei Menschen gehen sah: unsre Lina, das Stubenmädchen, und Johann, den Kutscher. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen und küßten sich – endlos, verzehrend. „Maria und Josef“, schrie die Lina auf, als sie mich sah, „das gnä Fräuln!“ Mit Wangen, die glühten und Augen, die glänzten, mehr vor Glück als vor Scham, streckte sie die Hände nach mir aus: „Gnä Fräuln werdens nit der Frau Baronin sagen, gel ja?“ bat sie schmeichelnd, „de Liab is ja koan Unrecht nöt. Wers freili so noblich haben kann wie das gnä Fräuln, der ka ruhig aufn Prinzen warten, der glei mitn Trauring kimmt und gradaus in die Kirch eini führt. Aber mir –“ sie lächelte den verlegen daneben stehenden Johann zärtlich an, „mir haben nix als das bissel Liab – und dös – dös müssen wir haben … So red doch auch was, Hannsl!“ Sie stieß ihn aufmunternd in die Seite. „Recht hast!“ stotterte er, „a Freud muß der Mensch haben, so a rechte herzklopfete Freud!“ Es dunkelte mir vor den Augen, laut aufgeschluchzt hätte ich am liebsten. Wie arm, wie schrecklich arm war ich! Aber ich war ja so gut erzogen! So versicherte ich denn das Paar meiner Verschwiegenheit und kehrte in meine „nobliche“ Gefangenschaft zurück.

Während der folgenden Monate in Augsburg wurde meiner Erziehung durch die Einführung in die Wohltätigkeitsbestrebungen der guten Gesellschaft der letzte Schliff gegeben. Meine Tante war Vorstandsmitglied der verschiedensten Vereine und galt allgemein für äußerst [182] hilfsbereit. Mir waren darüber schon oft Zweifel aufgestoßen, wenn arme Leute, deren Unglück sichtlich rasche Hilfe verlangte, von der Schwelle des glänzenden Hauses abgefertigt und ihre Angelegenheit dem Bureaukratismus irgend eines Vereins überwiesen wurde. Aber meine Tante wußte so viel von der Großartigkeit der augsburger Armenfürsorge – sowohl der kommunalen, als der privaten – zu erzählen, daß ich meine Bedenken zurückhielt und mir von dem, was geleistet wurde, die glänzendsten Vorstellungen machte. Schon meine erste Teilnahme an der Sitzung eines Krippenvereins ließ mir die Dinge in anderem Licht erscheinen. Da saßen lauter reiche Frauen in seidenrauschenden Kleidern um den Tisch; keine einzige unter ihnen hatte keine Loge im Theater, keine Equipage vor der Türe, – und doch berieten sie stundenlang, auf welche Weise die zur Erweiterung der Anstalt notwendigen paar hundert Mark aufgebracht werden könnten. Ein Bazar wurde beschlossen. Schon auf der Heimfahrt jammerte meine Tante über all die damit verbundenen Mühen und Scherereien, über ein neues Kleid, das ich – als Verkäuferin – notwendig dafür haben müßte, über einen neuen Hut, den sie nur in München bekommen könnte, – kurz, ich konnte die Frage nicht unterdrücken, ob nicht die Kosten erheblich geringer sein würden, wenn jede der Damen durch Zahlung von fünfzig Mark die ganze Sache rasch und glatt erledigt hätte. Aber da kam ich schön an. „Du hast doch gar keinen Begriff von Geld und Geldeswert“ sagte sie, „wenn du meinst, wir könnten alle Augenblicke solche Summen einfach hergeben. Was wir für uns tun und unsere Toilette, ist [183] unsere Sache, für die Bedürftigen aber muß die ganze Bevölkerung herangezogen werden.“

Auch zu Recherchen wurde ich mitgenommen oder durfte sie hie und da selbst machen. So kam ich einmal zu einer armen Witwe in die Wertach-Vorstadt, die sich und ihre vier Kinder mit Wäschenähen zu ernähren bemühte und um Unterstützung nachgesucht hatte. Durch einen engen, dunkeln Hof mußte ich gehen, in dessen dumpfer Kellerluft eine Schar blasser, kleiner Buben und Mädeln sich herumtrieb. Sie scharten sich alle mit offnen Mäulchen um mich, als ich nach Frau Hard frug. „Über drei Stiegen links wohnt Mutta,“ sagte ein blasser Junge mit einem ernsthaften Altmännergesicht, und die Schwester, deren Züge auch vom Lachen so wenig zu wissen schienen wie dieser Hof vom Sonnenschein, führte mich hinauf.

Mit jenem angstvoll nervösen Ausdruck gehetzter Tiere, der sich den Gesichtern all der Menschen einprägt, die den Kampf ums tägliche Brot jeden Morgen in gleicher Schärfe aufs neue beginnen müssen, sah die arme Frau mir entgegen. Während sie Heftfäden aus all den vielen weißen Wäschestücken zog, die fast das ganze winzige Zimmer füllten, und dazwischen hie und da aufsprang, um nach dem brodelnden Topf in der dunkeln Küche nebenan zu sehen, von dem ein widerlicher Geruch nach schlechtem Fett sich allmählich überallhin ausbreitete, erzählte sie mir ihre Leidensgeschichte. Der Mann, ein Maler, war vor drei Jahren an der Schwindsucht gestorben, – „ka Wunder nöt bei dera Fabrik am Stadtbach draußen“ –, die Direktion hatte ihr eine einmalige Unterstützung von hundert Mark zugewiesen. „Gott vergelts ihna viel [184] tausendmal“ fügte sie tief gerührt hinzu, als sie davon sprach; trotz allem Fleiß konnte sie aber doch nicht das Nötigste schaffen. Inzwischen kamen die Kinder herein und drängten sich halb neugierig halb eingeschüchtert in einer Zimmerecke zusammen. „Mit die Kinder is halt a Kreuz,“ sagte die Mutter seufzend, „eins – das ginge noch an, aber vier, da weiß man nicht aus noch ein vor Sorg und Kummer.“ Der Kleinste stolperte in diesem Augenblick über seine eignen dünnen rachitischen Beinchen und fiel auf einen der Leinwandhaufen. Die Mutter patschte ihm erregt auf die Händchen, zankte gleich alle Viere, daß sie „so arg im Wege“ stünden und stieß sie unsanft in die Küche, mit der Mahnung, dort ganz still zu sitzen. Mir krampfte sich das Herz zusammen vor Mitleid mit diesen armen Geschöpfen, die der eignen Mutter nur eine Last waren und es mit brutaler Deutlichkeit von ihr selbst erfahren mußten. Fast war ich schon fertig mit meinem Urteil über die Hartherzigkeit der armen Näherin, als sie mir weinend erzählte, wie sie des besseren Verdienstes wegen ein Jahr lang in die Fabrik gegangen wäre, da sei aber ihr Jüngstes aus dem Fenster gestürzt, während sie abwesend war, und seitdem könne sie die Kinder nicht allein lassen. Aus lauter Angst um sie nähme sie alle Vier sogar mit, wenn sie liefern ginge. „Glei spräng i nach, wenn noch eins da nunter fiele!“

Ich verlor alle Selbstbeherrschung, – nie hatte ich auch nur im entferntesten von solch einem Elend gewußt –, die Tränen strömten mir aus den Augen. Ein schwaches Lächeln huschte über die verhärmten Züge der Frau; sie ließ die Arbeit sinken und [185] streichelte mir tröstend die Hände: „So a guts Herzerl sans – das hat mir gwiß der liebe Herrgott geschickt!“ – mich durchstach das Wort mit Messerschärfe: Ja, war es denn möglich, daß Gott solchen Jammer mit ansehen konnte?! Was hatte die Mutter, was hatten die kleinen Kinder getan, daß sie so leiden mußten? Warum lebten sie denn eigentlich, da doch ihr Leben gar keins war? Und wie kam ich dazu, nicht zu sein wie sie? Dunkel errötend sah ich an meinem eleganten Kleide hinab und blickte scheu zu den vielfach geflickten dürftigen Röckchen der Kinder hinüber, die sich wieder der Türe genähert hatten, um mich anzustaunen. Und ich fühlte plötzlich die Spitzen meines Hemdes auf meinem Körper brennen, – hatten nicht am Ende ebenso arme durchstochene Finger sie genäht, wie die der Witwe vor mir? O, wie ich mich schämte! Wären die Kinder auf mich zugestürzt und hätten mir das weiche Tuch meines Kleides vom Leibe gerissen, hätte die Mutter sich mit meinem Mantel bekleidet, – ich hätte es in diesem Augenblick ganz natürlich gefunden. Statt dessen ruhten die Augen der Kleinen mit keinem andern Ausdruck als dem der Bewunderung auf mir, und die Mutter pries überschwenglich mein „gutes Herz“.

Ich zog den gedruckten Bogen aus der Tasche, um das Notwendigste einzutragen. Mechanisch stellte ich meine Fragen. „Wie alt sind Sie?“ – „Sechsundzwanzig.“ – Erschrocken sah ich auf: dies gelbe, faltige Gesicht, der krumme Rücken, die dünnen Haare, der erloschene Blick, – und sechsundzwanzig Jahre! Ich sah plötzlich meine Tante vor mir, die vierzigjährige – und ein dumpfer Zorn bemächtigte sich meiner. „Wie lange [186] arbeiten Sie am Tage?“ – „I steh halt um fünfe auf und leg mich um zwölfen nieder!“ – Und das alles nur um das elende Leben am nächsten Tag weiter zu fristen!

„Was verdienen Sie in der Woche?“ – „Sechs Mark, und wanns arg gut geht, achte. In der stillen Zeit gibts oft keine drei und vier. Und fünf – sechs Wochen im Jahr is die Arbeit rar.“ – Also hatte sie für sich und die ihren weniger, als mein Taschengeld betrug, – und ich gebrauchte für bloßen Toilettentand mehr als sie mit den Kindern zum Leben hatte!

Ich ertrug es nicht länger. Das Weltbild verschob sich mir, und seine Farben flossen zusammen, so daß nichts als ein schmutziges Grau übrig blieb. Ich griff in die Tasche, und in der Empfindung etwas zu tun, was für mich weit beschämender war, als für die arme Frau, schüttete ich ihr den Inhalt meiner Börse in den Schoß und lief, so rasch ich konnte, davon. Als ich, trotz aller Mühe, mich zu beherrschen, atemlos und erregt von dem Erlebten berichtete, erklärte die Tante mich für „überspannt“. „Wie kannst du die Dinge nur von unsern Empfindungen aus bewerten. Die Leute sind das nicht anders gewöhnt, und wenn für das Notwendigste gesorgt wird, sind sie zufrieden. Sie übermäßig zu bedauern heißt, sie zu Sozialdemokraten machen.“

Ein andermal kam ich zu einem alten Manne, dessen Tochter Fabrikarbeiterin war. Die Armenunterstützung, die er erhielt, reichte zu seiner Erhaltung nicht aus, und sie hatte erklärt, von ihrem Lohn nur wenig erübrigen zu können. Der Alte saß am Fenster eines reinlichen Zimmerchens, als ich eintrat; er hustete beinahe ununterbrochen, [187] rauchte aber trotzdem die Pfeife, und fast undurchdringliche Wolken umgaben ihn. Meinem Wunsch, ein Fenster zu öffnen, widerstand er heftig. „I hobs auf der Brust und vertrag ka Zugluft nöt,“ sagte er. Unter Räuspern und Husten begann ich mein Verhör. Er beklagte sich lebhaft über die Tochter, die „a schön’s Stück Geld“ verdiene, aber „alleweil mehr an Putz denkt als an den alten Vater,“ und lieber auf „die Tanzböden umanand hupft“ als bei ihm zu sein, der „dös ausgeschamte Ding doch nu amal in die Welt gesetzt hat.“ Grade ging die Türe und „d’ Resi“ kam nach Haus, ein schmalbrüstiges junges Mädchen mit hektischem Rot auf den Wangen und fiebrig glänzenden Augen. Sie hustete. „Kannst nit a bissel s’ Fenster auftun,“ bat sie nach einer verlegnen Begrüßung, „wenn man eh’ den ganzen Tag gar nix wie Staub schluckt.“ Aber der Alte gab nicht nach, sondern eiferte bloß über die ungeratenen Kinder – „zu meiner Zeit gab’s koanen eignen Willen nöt bei die Madl. Heut zu Täg is aus mit’n schuldigen Respekt.“ Die Resi bat mich, ihr mit meinem Fragebogen in die Küche zu folgen. Dort riß sie das Fenster auf, und ein Hustenanfall erschütterte ihre Brust, so daß ihr vor Anstrengung die Schweißtropfen auf der Stirne standen. Seit vier Jahren arbeitete sie, die eben erst achtzehn geworden war, in der großen Spinnerei, zu deren Aktionären auch meine Tante gehörte, wie ich aus ihrem eifrigen Studium der betreffenden Kurszettel erfahren hatte. Sie verdiente sieben Mark in der Woche, wovon sie dem Vater die Hälfte abgab. „Für mehr langt’s gewiß nit, Fräulein,“ fügte sie mit tränenden Augen hinzu, „i brauch a bissel was für’s Gewand, und dann, [188] – schauen’s, wie’s mi grad gepackt hat – dös kommt alle Tag’ a paar Mal – der Herr Doktor hat gesagt, i soll viel Milli trinken, da hol’ i mi heimli an halben Liter am Tag“ – aus dem Winkel des Schränkchens suchte sie ein Töpfchen hervor, dabei ängstlich nach der Türe schielend, ob auch der Vater nichts merken könne. „Recht a gute Luft, meint der Herr Doktor, wär’ halt auch nötig“ – ein bittres Lächeln huschte um ihre Lippen – „Sie merken’s ja selber, wie’s hier damit steht, und schlafen muß i a no bei ihm drinnen! Wie’s aber in der Fabrik is, das wissen’s gewiß nit, – da schluckt einer weiter nix wie Baumwolle.“

Zu Hause meinte ich, es wäre am besten, der Alte käme ins Spital. Die Tante war empört über meine Herzlosigkeit. „Ein Kind gehört zu seinen Eltern,“ sagte sie, „und dann am sichersten, wenn sie alt und krank sind.“ Nach einer neuen, „sachverständigeren“ Untersuchung wurde festgestellt, daß die Resi am Sonnabend stets auf dem Tanzboden zu finden sei und für bunte Bänder immer Geld übrig zu haben scheine. Diese Entdeckung wurde mir mit allen Zeichen einer Entrüstung mitgeteilt, die ich beim besten Willen nicht zu teilen vermochte. „Wir gehen doch auch in Gesellschaften – noch dazu ohne die ganze Woche gearbeitet zu haben,“ sagte ich naiv, „und die Resi ist jung wie wir, dazu arm und krank – laßt ihr doch das bißchen Lebensfreude.“

Von da an wurden mir die Armenbesuche verboten. Nur zu Weihnachten durfte ich an der allgemeinen Bescherung des Krippenvereins teilnehmen. In einem langen niedrigen Saal standen hölzerne Tafeln mit geschmacklosen [189] bunten Wollsachen, Schuhen, derben Wäschestücken, ein paar Pfefferkuchen und verschrumpelten Äpfeln bedeckt; ein dürftig geschmückter Baum streckte seine großen Zweige wie lauter wehklagend erhobene Arme nach der Zimmerdecke. Lieblos und nüchtern – gar nicht nach Weihnachten – sah es aus, und ich mußte der Großmutter denken, die selbst den Ärmsten immer irgend eine „Überraschung“ bereitete, denn „les choses superflus sont des choses très nécessaires“ pflegte sie mit ihrem gütigsten Lächeln zu sagen. Auf der einen Seite drängten sich die Frauen und Kinder eng zusammen, auf der anderen saßen die Damen des Vorstands, und unter dem Baum stand Pfarrer Haberland, der die Festpredigt hielt. Er war mir völlig fremd diesen Abend, als er so viel vom „Vater im Himmel“ sprach, „der die Armen nicht verläßt,“ von „den wahrhaft christlichen Seelen der gütigen Geberinnen,“ von der gebotenen „Dankbarkeit und Zufriedenheit der Empfangenden.“ Dann wurde gesungen und dann beschert, wobei die Mütter ihre Kinder immer wieder ermahnten „vergelts Gott“ zu sagen, obwohl die kleine Gesellschaft offenbar nicht recht wußte, warum. – Über eine Gummipuppe und ein Holzpferdchen hätten sie sich tausendmal mehr gefreut, als über all die prosaischen Nützlichkeiten.

Trotzdem von der Riesentanne in unserm Musiksaal wenige Stunden später hunderte von Kerzen ein warmes strahlendes Licht verbreiteten und alle Geschenke meiner Eitelkeit zu schmeicheln schienen, verlebte ich noch nie ein so trauriges Weihnachtsfest. Ich sei „schlechter Laune“, meinte die Tante ärgerlich, der mein Dank nicht stürmisch genug war. Nachts darauf hatte ich wieder [190] einen heftigen Anfall von Seitenschmerzen und wußte bald nicht mehr, ob meine Tränen um das körperliche Leib oder um die Zerrissenheit meines Innern flossen.

Ich mochte die Sitzungen der Vereine nicht mehr besuchen, trotzdem mir dringend empfohlen wurde, mir die gute Gelegenheit, so viel zu lernen, nicht entgehen zu lassen. Nur nichts hören und sehen von dieser Hölle, in die die Armen mir rettungslos verdammt erschienen!

Ich ging aufs Eis, und in Gesellschaften und ins Theater, und je mehr die natürliche Lebenslust befriedigt und die Eitelkeit genährt wurde, desto leichter wurde mir ums Herz. Fuhren wir spazieren, die Tante und ich, und unser blauer Wagen rollte in der Vorstadt mitten durch den Zug der heimkehrenden Arbeiter, so schloß ich am liebsten die Augen, nachdem meine Bitte, diese Gegend zu meiden, als „sentimental“ unerfüllt geblieben war. Aber grade wenn ich nicht hinsah und nur die müden Schritte hörte und das freudlose Gemurmel vieler Stimmen, war es mir, als ginge ich mitten unter ihnen und sähe meinen Doppelgänger bequem in die seidenen Kissen gelehnt an mir vorüber rollen. Und dann packte mich eine Wut – eine Wut, daß ich am liebsten den nächsten Stein genommen und ihn den vornehmen Faullenzern ins Gesicht geschleudert hätte!

Sah ich dann, wie aus wüstem Traum erwachend, um mich, so fiel mein Blick nur auf gleichgültige oder bewundernde Mienen – es gab sogar Männer, die die Mütze zogen vor uns. Ich wandte jedesmal den Kopf ab.

Im Mai kam mein Vater, um mich heimzuholen. Er war von überströmender Freude und Zärtlichkeit, die ich [191] gerührt und dankbar empfand. Seine Schwester rühmte mich als das Produkt ihrer Erziehung, wobei sie ihrer Mühen und Opfer ausgiebig gedachte und es an Seitenhieben auf die Eltern nicht fehlen ließ, die mich in so „verwahrlostem“ Zustand ihr übergeben hatten. Seltsam, wie mein sonst so heftiger Vater sich das alles gefallen ließ; zwar schwollen ihm oft die Adern auf der Stirn, aber er schwieg. Ich freute mich auf Zuhause, auf die Liebe, die mich umgeben, die Freiheit, die ich genießen sollte, auf die Pflichten, von deren Erfüllung ich mir Befriedigung versprach. Alles Böse wollte ich den Eltern vergessen machen, was sie durch mich erfahren hatten! Meine Gedanken und meine Empfindungen waren schon lange, lange vor mir daheim.

Als ich zum stillen Abschied am letzten Abend im dämmernden Park auf und nieder ging, kam es über mich, wie eine Vision. Ein großes, dunkles Tor sah ich und eine endlose schwarze Schlange langsam schleichender Menschen, die daraus hervorkroch: Mädchen, wie die Resi, und Frauen, wie die arme Witwe, und viele, viele Kinder mit sonnenlosen Gesichtern. – Ich warf mich ins Gras und weinte bitterlich. Als ich dann ins helle Licht der Lampen trat, schlang die Tante, beim Anblick meiner tränenfeuchten Augen, gerührt über so tiefen Abschiedsschmerz, die Arme um mich.

„Bleibe mein gutes Kind,“ sagte sie beim Abschied mit Betonung.

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