– da einen Punkt machen, wo die eigentliche Arbeit erst anfangen sollte.
Aber die Befriedigung des Verstandes konnte auf die Dauer über den Hunger des Gemüts nicht hinwegtäuschen. Es blieb leer in mir, viel leerer als zu der Zeit, wo der alte strenge Gott der orthodoxen Kirche sich noch nicht in einen so milden, hinter fernen Nebeln fast verschwindenden väterlichen Greis verwandelt hatte. In kalte Schauer des Entsetzens hüllte mich diese trostlose Öde, je länger ich in dem glänzenden Blumenhaus am Königsplatz wohnte, je mehr ich mich unter den rastlos formenden Händen der Tante der Idealgestalt, die ihr vorschwebte, näherte. Nie ließ sie mir Zeit für mich selbst; mein Tag war, was das Arbeitspensum und die Art der Erholung betrifft, so genau eingeteilt, daß für meine persönlichen Neigungen kein Platz übrig blieb. Wenn mich aber einmal in den langen Stunden, die ich bei irgend einer Handarbeit saß, die Gestalten meiner Träume überwältigten und ich mich ihrer nicht anders zu erwehren vermochte, als daß ich heimlich nachts darauf zu Feder und Tinte griff, um mit klopfenden Pulsen in Worte und Reime zu fassen, was mich erfüllte, so konnte ich sicher sein, daß die Tante oder die Jungfer mein streng verbotenes Tun entdeckten. „Unnütze Phantasien“ hatte ich zu beherrschen; mußte durchaus gedichtet werden, so boten Familienfeste Gelegenheit genug dazu.
Einmal, im Frühjahr wars, als die Tante zu einer ärztlichen Konsultation nach München hatte fahren müssen. Da benutzte ich die Erlaubnis eines Besuchs bei einer Freundin, um allein nach Herzenslust in der
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/174&oldid=- (Version vom 31.7.2018)