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Mutter bis zur Vollendung gelernt hatte, war die Selbstbeherrschung. Erst abends im Bett, nach einem Tag, an dem ich nicht einen Augenblick mir selbst gehört hatte, kam die Verzweiflung über mich und fassungslos schluchzte ich in die Kissen. Aber auch die Möglichkeit, mich auszuweinen, sollte mir genommen werden. Sah ich morgens verweint aus, oder zeigten sich dunkle Ränder um meine Augen, so erregte das den heftigsten Zorn der Tante, – „ein junges Ding hat frisch und rosig auszusehen“, erklärte sie; und da der bloße Befehl nichts helfen wollte, kam sie abends, wenn ich zu Bett war, wiederholt in mein Zimmer, um zu kontrollieren, ob ich schlief. So gewöhnte ich mich rasch an die große Kunst, nach innen zu weinen. Grund genug hatte ich dazu. Es verging kein Tag, ohne daß ich gescholten worden wäre: wenn an ihrem behandschuhten Finger, mit dem sie über jede Leiste in meinem Zimmer fuhr, Staub haften blieb; wenn meine Krawatte nicht richtig gebunden war, meine Handschuhe nicht sorgfältig ausgereckt in der Schublade lagen, wenn ihre scharfen Augen einen Fleck auf dem Kleide entdeckten, oder wenn ich gar zu einer Zeit las oder schrieb, wo ich Strümpfe stopfen sollte! Briefe, die nicht die Handschrift der Eltern aufwiesen, wurden von ihr zuerst geöffnet und gelesen. Dadurch erfuhr sie, daß ich meiner Kusine Mathilde mein Leid geklagt hatte. „Es ist sehr traurig, daß Deine geistigen Bedürfnisse so wenig berücksichtigt werden und Deine Begabung keine Anerkennung findet,“ hatte sie mir daraufhin geschrieben; höhnend las die Tante mir die Stelle vor und erklärte dann: „Ich verbiete dir jede Korrespondenz, außer der mit deinen

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Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 164. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/166&oldid=- (Version vom 31.7.2018)