Kämpfe mir geschlagen hatten; sie waren nur mühselig überklebt, aber nicht geheilt worden, und ich sehnte mich mehr denn je nach der Heilung. Auf meinen dringenden Wunsch bat meine Tante den Pfarrer, mir privaten Religionsunterricht zu erteilen; er war bereit dazu, und so ging ich denn allwöchentlich ein paarmal in das stille Haus an der Fuggerstraße. In seiner sonnigen Studierstube saß ich dem gleichmäßig gütigen Mann mit den feinen, von blondem Vollbart umrahmten Zügen und den weißen, schmalen, gepflegten Händen viele Stunden gegenüber, und ganz, ganz langsam gelang es ihm, aus meinem ängstlich verschlossenen Inneren all meine Zweifel und Verzweiflungen herauszulocken. Sein Christentum, das den religiösen Glauben weit mehr im Sinne des Vertrauens, statt in dem des Für-wahr-haltens, auffaßte, wirkte zunächst auf mich, wie der Eintritt in die freie Natur auf einen Menschen wirkt, der zwischen den Mauern enger Gassen lange zu leben gewohnt war.
Mein Glaubensbekenntnis konnte zu Recht bestehen, und ich war doch ein Christ. Ich brauchte nicht an die göttliche Inspiration der Bibel, an die Wunder des Alten Testaments, an die Jungfräulichkeit der Mutter des Heilands zu glauben und war doch keine aus der Kirche Ausgestoßene. Als heiliges Symbol konnte aufgefaßt werden, was ich wörtlich für wahr zu halten verpflichtet worden war, – demnach hatte ich vor dem Altar keinen Meineid geschworen! Mein Verstand beruhigte sich dabei. Ich hatte auch hier die „goldene“ Mittelstraße erreicht, auf der so viele, selbst alte Leute gehen, die keine Heuchler zu sein brauchen, die aber, beherrscht von jener gefährlichsten Eigenschaft unserer Denkkraft – der Bequemlichkeit
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/173&oldid=- (Version vom 31.7.2018)