„Statt deinen englischen Aufsatz zu machen, treibst du Narrenspossen.“ Damit zerriß sie meine Kardinalsnovelle in tausend Stücke. Ich fühlte, wie alles Blut mir aus den Wangen wich; mit der Selbstbeherrschung war es vorbei. „Du willst mich umbringen – langsam zu Tode martern“ – stieß ich hervor; „tue ich nicht alles, was du willst, lasse mich sogar einsperren und kontrollieren, wie einen Verbrecher? Gönne mir doch mein bischen eigenes Leben – schenk mir ein paar Stunden am Tag –. Gefällt Dir nicht, was ich schreibe, so laß es mir wenigstens. Ich werde ja niemanden damit quälen. –“ „Das wäre auch noch schöner, wenn du mich mit dem eiteln Herumzeigen solchen Geschreibsels blamieren wolltest!“ “ entgegnete sie. „Ich kann tintenklexende Frauenzimmer bei mir nicht dulden. Und du willst, ich soll dir noch extra Freistunden dafür ansetzen! Eine Frau hat überhaupt nicht für sich zu leben, sondern für andere.“ Gequält lachte ich auf – ich dachte daran, wie die Tante „für andere“ lebte! „Ich halte es aber nicht aus, ich muß los werden, was mich gepackt hat. Andere denken auch nicht wie du. Großmama ist immer dafür gewesen, daß ich dem inneren Zwang gehorche.“
„Deine Großmama!“ – höhnisch schürzte die Tante die vollen Lippen; „ich will ja gewiß der alten Dame nicht zu nahe treten, aber du solltest doch besseres tun, als sie zum Kronzeugen anzurufen!“
Empört fuhr ich auf: „Großmama ist die beste Frau, die ich kenne, der einzige Mensch, der mich lieb hat und mich versteht!“
„Mag sein, daß sie dich versteht!“ rief die Tante. „Sie ist gerade so überspannt wie du. Kein Wunder
Lily Braun: Memoiren einer Sozialistin. Albert Langen, München 1909, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:De_Memoiren_einer_Sozialistin_-_Lehrjahre_(Braun).djvu/177&oldid=- (Version vom 31.7.2018)