Textdaten
Autor: Olena Ptschilka
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Titel: Mein erster Erfolg
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Erscheinungsdatum: 1898
Verlag: Johann Heinrich Wilhelm Dietz
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Erscheinungsort: Stuttgart
Übersetzer: Wladimir Czumikow
Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Commons, Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung: Die neue Zeit. - 16.1897-98, 1. Bd.(1898), H. 19, S. 605–608 und H. 20, S. 637–640
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[605]
Mein erster Erfolg.


Aus dem Kleinrussischen von Oljona Ptscholka.
Uebersetzt von Wladimir Czumikow.


Das war also vor drei Jahren, so begann er, als ich eben meine Universitätsstudien beendet hatte…. Ich hatte mein Juristenexamen gut gemacht, mein Diplom in der Tasche, aber natürlich noch keine Anstellung. Obschon sich eine solche bisher nicht einmal in der weitesten Perspektive zeigte, so brodelte in mir dennoch schon ein gewisser Bethätigungstrieb… . Wissen Sie, eben von der Universitätsbank, den Kopf voll von allen möglichen „Rechten“, vom „römischen“ bis zum „Völkerrecht“: gleich im Augenblick wäre ich bereit gewesen zu schaffen, zu untersuchen, zu richten, den allerverwickeltsten juristischen Knäuel zu entwirren!… Da sich aber für diesen Thätigkeitsdrang fürs Erste, Gottlob, noch kein geeignetes Feld bot, so lebte ich einfach zu Hause beim Vater, „im Schoße der Natur“. Ich ruhte vom Examen aus, spazierte viel, ging auf die Jagd, besuchte unsere Nachbarn auf dem Lande. Um mich herum, im Hause meines Vaters, des Pfarrers, und überhaupt in unserem Dorfe herrschte eine weihevolle Ruhe. Und in Erwartung des Kommenden gab ich mich dieser Ruhe vollkommen hin.

Diese Stille wurde aber plötzlich durch ein Ereigniß unterbrochen, welches uns alle in Aufruhr brachte! In unserem Dorfe wurde ein Verbrechen verübt: an einem schönen Morgen verbreitete sich die Nachricht, daß unser Grundherr auf dem Herrschaftsgut, am Ende des Dorfes, ermordet worden sei. Wie? Durch wen? Auf welche Weise? – Diese Fragen bildeten den Gesprächsstoff aller Dorfbewohner, besonders aber der örtlichen Honoratioren.

Aufrichtig gesagt, that der Grundherr eigentlich Niemandem leid, da er sich zu Lebzeiten der Zuneigung Niemands – weder der einfachen Leute, noch der „höheren“ – erfreut hatte. Er war ein alter Misanthrop, so recht ein Leibeigenschaftsschwärmer, ein harter Mann. Man erzählte sogar, daß er seine eigenen Kinder in die Welt hinausgetrieben habe – es war mit ihm kein Auskommen, seine Frau aber soll er durch seine Rauheit und Härte etwas früher, als die Natur es anfangs bestimmt hatte, ins Jenseits befördert haben… . Gott weiß, ob diese Gerüchte auf Wahrheit beruhten, aber man liebte nun einmal den Alten nicht.

Jedenfalls aber verursachte sein Tod in der ganzen Umgegend großes Aufsehen. Es war, wie man es auch nehmen sollte, ein fürchterliches Verbrechen [606] geschehen, ein Mensch in seinem eigenen Hause ermordet worden! Ein ungewöhnliches, ergreifendes Ereigniß.

Mich, als Juristen, und dazu noch einen neugebackenen, beschäftigte dieser Vorfall ganz besonders. Vor Allem aber zog mich das Räthselhafte dieses Verbrechens an: es waren gar keine Spuren und Anhaltspunkte dafür vorhanden, wer es verübt haben könnte! Der Grundherr war todt und ermordet – das war unzweifelhaft: die Gurgel war ihm augenscheinlich von fremder Hand durchschnitten worden, um ihn herum Blutlachen, Spuren eines Kampfes. Wer aber der Mörder war und wie überhaupt alles das geschehen war, das blieb ein Räthsel! Der Grundherr war zwar ziemlich reich, zeichnete sich aber durch Geiz aus, führte ein einsames Leben und hielt wenig Bedienung. In der verhängnißvollen Nacht hatte Niemand etwas gehört oder gesehen. Selbst das „Motiv“ des Verbrechens blieb räthselhaft: es war bei dem Morde nichts geraubt worden, obgleich im Besitz des Grundherrn Geld und manche Werthgegenstände waren, wie sie in jedem mehr oder minder wohlhabenden Hause zu finden sind. Alles blieb unangetastet, nirgends die Spuren eines Raubes. Wozu also und wem war der Tod des Hausherrn nöthig? Das war die Frage, die Alle beschäftigte und über welcher sich der zu diesem Zwecke kommandirte Untersuchungsrichter und – ich vergeblich den Kopf zerbrachen.

Ja, auch ich zerbrach mir darüber den Kopf und spielte mich als eine Art von Adjunkt des Untersuchungsrichters auf: ich war bei den Beweisaufnahmen zugegen, studirte mit ihm zusammen die Zeugenaussagen, half ihm sogar bei seinen Schreibereien.

Die Wahrheit gesagt, verhielt sich der Untersuchungsrichter meinem Eifer und meiner Bereitwilligkeit gegenüber ziemlich gleichgiltig. Manchmal hörte er meine Reden schon gar zu nachlässig und zuweilen mit einem verächtlichen Lächeln an. Endlich wurde sein Verhalten meiner aufdringlichen Einmischung in sein Untersuchungsgeschäft gegenüber unverkennbar ablehnend.

Das reizte mich noch mehr, denn es verletzte gewissermaßen meine Eigenliebe. Ja, dachte ich, bin ich denn nicht ebenso ein Jurist wie er? Er hat meinetwegen ein Amt, in dem er schon mehrere Jahre arbeitet – was ist denn dabei? Ich könnte ebenso gut an seiner Stelle sein, denn ich genieße dieselben Rechte, habe dieselben Kenntnisse, dieselbe Begabung – alles, was man zu dieser Art Arbeit braucht! Ich habe Gottlob nicht vergebens so und so viele Jahre „Rechte“ studirt – auch ich kann also in dieser Sache, deren ganze Wichtigkeit ich wohl verstehe, von Nutzen sein.

Kurz und gut, die Sache ärgerte mich, ließ mir keine Ruhe, regte mich auf.

Fand sich ein neuer Nagelstrich auf dem Fensterbrett im Hause des Grundherrn oder ein neuer Blutfleck in dem verdammten geheimnißvollen Kabinet, in dem er ermordet worden war – gleich gerieth ich in Aufregung! Ich dachte und grübelte: wieso? … woher? … was für eine „Kombination“ könnte man daran knüpfen?

Unterdeß ging das Leben um mich her seinen gewohnten Gang, in unserem Hause gab man sich den täglichen Beschäftigungen hin und ich selbst war schließlich auch nicht mehr so ganz vom geheimnißvollen Prozeß allein in Anspruch genommen, sondern machte mir etwas im Hause zu schaffen oder ergab mich den ländlichen Vergnügungen.

Eines Tages war ich auf die Jagd gegangen. Vergnügt strich ich im Walde herum. Ringsum blühte der Frühling in schönster Pracht. Das Gras unter den Füßen war so weich, die Vögel zwitscherten im grünen Laube so frisch [607] und munter. Herrlich war es! Ich hatte eine gute Strecke zurückgelegt, zwar nichts geschossen, nicht einmal ein Wild gesehen, war aber dennoch mit meinem Spaziergang zufrieden.

Ich ging und trällerte vor mich hin! Ich trat schon aus dem Walde heraus, als ich einigen Durst fühlte: von Hause war ich gleich nach dem Mittag weggegangen, und während des ganzen heißen Tages war ich umhergestreift ohne eine Erfrischung.

Ich trat gerade an das einsame Gehöft eines Zinsbauern heran, eines schlichten Mannes, der am Waldessaum ein Stückchen Land in langjährige Pacht genommen und sich dort angebaut hatte. Den alten Baidisch, den Besitzer dieses Höfchens, kannte ich ganz gut, auf meinen Jagdzügen während der Ferien hatte ich seine Hütte schon häufig aufgesucht.

So schritt ich auch jetzt auf das Gehöft des Baidisch rüstig zu, um dort um einen Trunk Wasser zu bitten. Ich stieg über den Zaun und näherte mich dem Gehöft von hinten. Längs einem Wirthschaftsgebäude einhergehend, traf ich plötzlich den Wirth selbst nebst seinem Sohne; sie standen beide hinter einer Ecke hart an der Wand des Gebäudes und unterhielten sich über irgend etwas leise. Auf dem weichen Rasen gehend, war ich an die Beiden so unerwartet herangetreten, daß sie meiner erst gewahr wurden, als ich schon dicht vor ihnen stand. Der junge Baidisch zuckte sogar vor Ueberraschung zusammen und antwortete auf meinen Gruß etwas zerstreut. Ich beachtete seine Verlegenheit nicht besonders und sagte sogar lachend:

„Aha, hab’ ich Euch erschreckt?“

„Wieso erschreckt?“ antwortete der alte Baidisch, „was haben wir denn gemacht, daß Sie uns erschrecken konnten? Wir sprachen nur so, über Wirthschaftsangelegenheiten! … Komm’, Andreas!“ Und er schritt auf die Zaunstiege zu. Gleich hinterm Zaun lag ihre Wiese.

„Und ich wollte Euch um einen Schluck Wasser bitten!“ rief ich hinter ihnen her.

„Gehn Sie ins Haus!“ antwortete der Alte, „dort ist die Alte, sie wird es Ihnen geben.“

Ich trat ins Haus, wechselte mit der alten Baidisch, während sie mir zu trinken gab, höflichkeitshalber einige Worte, und ging dann weiter, den Waldsaum entlang, vor mich her pfeifend. Die Wiese Baidischs fiel mir durch ihr ungewöhnlich schönes Aussehen auf: das Gras auf derselben war hoch und dicht, vor lauter Blumen ganz rosa gefärbt! Ein prächtiger Anblick!

So kam ich nach Hause. Mein Vater war eben erst von seinem Kirchenheuschlag heimgekehrt – es wurde bei ihnen an dem Tage gerade gemäht – und sprach, mit mir am Theetisch sitzend, die ganze Zeit nur über sein Heu: Wie das Gras gerathen war, wie er damit auskommen wollte u. s. w.

„Die Baidischs“, sagte ich, „die haben mal ein Gras auf der Wiese am Walde! Prachtvoll! Aber sie gehen noch nicht ans Mähen.“

„Na, es ist ja auch noch Zeit!“ antwortete der Vater. „Uebrigens wird es jetzt der alte Baidisch wohl schwieriger haben, mit der Wirtschaft fertig zu werden: sein ältester Sohn, Josef, sitzt ja im Gefängniß.“

„Im Gefängniß?“ fragte ich. „Wieso im Gefängniß? Warum?“

„Ja, da hat ihn noch der selige Grundherr hineingesteckt. Und, die Wahrheit gesagt, für eine Bagatelle…. Ueberraschte den Baidisch im Winter mit einer Ladung Holz – so trockener Bruch – im Walde, und gleich mit ihm ins Gericht. Die Folge davon war, daß man den Baidisch wegen ‚Diebstahl und [608] Widerstand gegen die Obrigkeit‘ (der Grundherr war, glaub’ ich, in Begleitung des Dorfältesten) zu einigen Jahren Gefängniß verurtheilte. Gott weiß wofür!… Jetzt hat der arme Josef ein junges Weib und ein Kind zurückgelassen, die Wirthschaft geräth in Unordnung, und mit ihm selbst wird es wohl auch nichts mehr, nachdem er einmal im Gefängniß gesessen…. Ein verpfuschter Mensch…. Das ist nun mal schon so…. Um eines Fuders Holz willen ist da ein Mensch verloren gegangen!… Die Baidischs natürlich schimpfen fürchterlich über den Grundherrn, daß er sie so ins Unglück gebracht hat – die ganze Familie geschändet – früher galten sie alle für ehrlich und brav!… Wie sie dem Grundherrn fluchen!… Nun, Gott verzeihe es seiner Seele! Er hat es gesühnt…. So einen Tod zu sterben: ohne das Sakrament, von Verbrecherhand! …“

Der Vater sprach noch weiter, nachdenklich mit dem Haupte schüttelnd, während bei mir gleichsam etwas in der Brust zusammenzuckte und das Blut jäh emporschoß… . Ganz heiß wurde es mir!… Die Baidischs … der Grundherr … eine „Kollision“ des Grundherrn mit dieser Familie, das „Einstecken“ des ältesten Sohnes, die Wuth der übrigen Familie…. Das alles irrte anfangs in abgerissenen Gedanken in meinem Kopfe herum, bis allmälig diese einzelnen Verdachtssplitter sich in einem mehr oder weniger symmetrischen Plane zu gruppiren begannen.

Gewiß! dachte ich, warum sollte die Begierde nach Rache die Baidischs nicht bis … bis zur Ermordung des Grundherrn, den sie für ihren schlimmsten Feind hielten, geführt haben? …

Diese Vermuthung wurde durch einen Umstand, den ich früher unbeachtet gelassen hatte, verstärkt. Ich weiß nicht, warum gerade in dem Augenblick, als mein Vater von den Baidischs und ihrer gerichtlichen Verfolgung von Seiten des Gutsherrn sprach, in meiner Phantasie die Szene hinter der Scheune der Baidischs, wie der Alte mit seinem Sohne geheimnißvoll tuschelte und wie sie dann beide durch mein Erscheinen verlegen gemacht wurden, erstand. Jetzt erschien es mir fast unbegreiflich, wie mir das alles nicht gleich verdächtig erschien!? Wie war es möglich, daß ich nicht gleich bemerkte, daß es kein gewöhnliches Familiengespräch, sondern eine richtige „konspirative“ Tuschelei war! Natürlich, die Baidischs müssen sich jetzt besonders häufig und besonders vorsichtig miteinander zu berathen haben… . Natürlich! Die Untersuchung ist jetzt gerade in vollem Gange…. Noch heute hatte der Untersuchungsrichter ein erneutes Verhör veranstaltet…. Die Baidischs hören und wissen davon selbstverständlich… wie sollen sie sich denn da nicht in der Stille zu berathen haben!

Ich sagte meinem Vater nichts von meinem furchtbaren Verdacht und fragte ihn nur noch einmal ordentlich nach dem Prozeß aus, ob der junge Baidisch schon lange im Gefängniß sitze u. s. w. Der Vater antwortete mir, erzählte alles, was er wußte, ohne auch nur zu ahnen, wozu ich das alles brauchte. Dann legte er sich, von den Tagessorgen ermüdet, zur Ruhe, während ich – ich konnte an den Schlaf natürlich nicht denken, obgleich auch ich von dem Herumstreifen im Walde so ziemlich müde war. Erregt und unruhig ging ich im Zimmer auf und ab und – dachte! Ab und zu setzte ich mich nieder aufs Bett, lehnte mein erhitztes Haupt ans Kissen und sprang dann wieder auf und begann von Neuem im Zimmer auf und ab zu laufen. [637] Nach einigen Stunden hatte ich schon die klare und sichere Ueberzeugung: unseren Grundherrn haben die Baidischs gemordet. In meiner Einbildung sah ich deutlich den jungen Baidisch, Andreas, vor mir stehen: sein erblaßtes Gesicht, das Zucken seiner Schultern, seine ganze erschrockene Figur, wie sie damals bei der plötzlichen Ueberraschung erschien. Ja, aller Wahrscheinlichkeit nach hatte gerade Andreas den Mord verübt, mit Vorwissen des Vaters natürlich.

Ich konnte es nicht mehr zu Hause aushalten, nahm meine Mütze und ging hinaus.

Ich ging in das Gemeindehaus, wo der Untersuchungsrichter abgestiegen war. Er saß und schrieb etwas, wahrscheinlich betreffs des am Morgen vorgenommenen Verhörs, welches freilich ziemlich resultatlos verlaufen war.

Ich setzte mich neben den Untersuchungsrichter und setzte ihm alles auseinander. Er sah mich anfangs unzufrieden und mit einem spöttischen Lächeln an, biß sich dann auf die Lippe und begann mir endlich aufmerksam zuzuhören. Aha, dachte ich, jetzt sperrst Du die Ohren auf, während Du mich früher wie so einen jungen Hund, der Einem immer zwischen die Füße läuft und auf der Jagd nur stört, behandeltest…. Aha … wer anders als ich hat aber die richtige Fährte gefunden? O, unsereiner versteht auch was davon und kann auch was leisten! … Ja, die Kombinationsfähigkeit, das Verständniß auch für die scheinbar geringfügigsten Umstände – das ist die Hauptsache! Wie viele der schlimmsten Verbrechen sind nicht durch Kennzeichen aufgedeckt worden, die den gewöhnlichen Menschen belanglos und unwesentlich, dem Kenner aber von entscheidender Bedeutung erschienen? Diese letzte Betrachtung theilte ich dem Untersuchungsrichter mit…. Die Sicherheit und Ueberzeugtheit meiner Rede begannen allmälig auf ihn einzuwirken. Zwar lächelte er noch ein paarmal ironisch und nannte mich einen neuen Lecoq, das Ende war aber doch, daß wir Zeugen nahmen und in den Wald zum Gehöft der Baidischs gingen.

Es war schon Nacht – aber, mein Gott, was für eine wundervolle Nacht! Warm und hell! Der Mond schien so hell, daß man eine Stecknadel hätte auflesen können! Am Waldsaum hoben die Bäume klar und deutlich sich ab, jeder einzeln. Wie verzaubert standen sie in der silberhellen, klaren Luft. Und wie die Nachtigallen sangen! Der verträumte, lautlose Wald und das schallende Geschmetter ihrer Triller….

Wir gingen den Wald entlang. Endlich kamen wir an das Gehöft. Drinnen lag natürlich alles schon im Schlafe, Fenster und Thüren waren geschlossen. Wir klopften an. Die Leute wachten auf und Jemand sah aus dem Fenster; man öffnete uns aber noch nicht. Wir hörten blos, wie drinnen ein Wegräumen, ein Hin- und Hergehen begann. Endlich ließ man uns ein.

Es wurde Feuer angemacht. Wir erklärten, daß wir zum Zwecke einer Haussuchung gekommen waren und gingen ans Werk.

Wir suchten: Ich warf einen Blick auf die Baidischs: der jüngere, Andreas, stand bleich und finster wie eine Wand da; der Vater stand auch wie versteinert am Ofen, den Kopf tief auf die Brust gesenkt. Die Schwiegertochter, die Frau des älteren Sohnes, Josefs, der im Gefängniß saß, machte sich erschrocken etwas [638] an der Wiege zu schaffen und beruhigte laut das aufgewachte Brustkind. Die alte Mutter saß zerzaust, wie sie aus dem Schlafe aufgesprungen war, auf dem Bette, die Beine herunterhängen lassend, die braunen Hände krampfhaft verschränkt, und verfolgte mit den Augen aufmerksam unsere Arbeit. Ich erinnere mich, daß mir damals der Gedanke kam, wie doch solch ein altes, völlig verblühtes Weib so funkelnde, glänzende Augen haben kann.

Während dessen wurde die Haussuchung fortgesetzt: Ich weiß nicht, was mit mir damals vorging. In meiner Brust kochte es, eine Leidenschaft, wie sie nur der Jäger kennt, bemächtigte sich meiner. So ähnlich muß auch ein Hund empfinden, wenn er im Gebüsch das verwundete Wild aufsucht. Das Wild ist getroffen, aber dennoch kann es noch immer entgehen, wenn es nicht sofort gefaßt wird. Also suchen!…

Diese leidenschaftliche Aufregung machte mir sogar den Athem stocken. Ich durchsuchte gemeinsam mit dem Richter alle Winkel, durchstöberte die Kleider, die Kisten. Sogar solche Ecken, wo man gleich sah, daß da nichts war, durchspürten wir. Will man einmal ein „Lecoq“ sein, muß man eben alles beachten, alles prüfen.

So durchsuchten wir denn alles – das Haus, die Ställe, den Boden, guckten in eine leere Scheune hinein. Aber nirgends fand sich etwas! Nirgends etwas Besonderes, Auffallendes.

Dem Untersuchungsrichter verging die Laune. Ziemlich vernehmlich murrte er über mich: Weiß der Teufel, wozu Sie die ganze Geschichte eingerührt haben! Ihren Chimären zu Liebe schleppen Sie mich und die Leute mitten in der Nacht umher – auch ein „Lecoq“! Hol’s der Teufel! Ich begreife nur nicht, wie ich Ihnen Gehör schenken konnte….

Ich war also wie man so sagt „hereingefallen“, murmelte etwas, zuckte mit den Achseln, der Schweiß trat mir auf die Stirn…. Ich wußte selbst nicht, was thun, was sagen, denn ich sah selbst, daß nirgends etwas zu finden war!… Teufel! dachte ich für mich: – sollten wirklich alle meine „Kombinationen“, mein Verdacht grundlos sein? … Vielleicht! … Gott weiß es!… Ich fühlte mich weder dem Untersuchungsrichter noch mir selbst gegenüber besonders behaglich. Aber was war da zu machen – ein Irrthum, wie er vorkommen kann.

Wir kehrten vom Hofe ins Haus zurück; der Untersuchungsrichter wollte sich auf dem Wege eine Zigarette anstecken und auch sein Portefeuille mit den Akten holen. Ich hatte mich auf die Bank gesetzt, um einen Augenblick auszuruhen. Während ich so dasaß, fiel mein Blick zufällig auf einen mit Teig gefüllten Trog – früh Morgens sollte wohl Brot gebacken werden. Gleichgiltig betrachtete ich den Trog, als mir plötzlich ein Umstand auffiel: der Teig war in der Mitte wie eingefallen und seine ganze Oberfläche war überhaupt merkwürdig ungleich, wie zerissen … Ich zupfte den Untersuchungsrichter am Aermel und sagte es ihm…

Und als wir uns an den verdächtigen Teig heranmachten, zeigte es sich, daß ich Recht hatte: drinnen steckte ein zusammengerolltes Packet. Wie wir es herauszogen, sahen wir: eine zerknillte graue Jacke, Brust und Aermel mit eingetrocknetem Blute besudelt! Die Jacke gehörte Andreas.

So war also im Teig das wichtigste Beweismittel verborgen gewesen! Ja, und zugleich mein Triumph, mein großartigster Triumph!

Wir nahmen unsere Beute, unsere kostbare Trophäe und zogen mit ihr, nachdem die nothwendigen Formalitäten erledigt waren, ab.

Nach diesem, in jener glücklichen Nacht gethanen Funde, nahm die ganze Untersuchung, die jetzt die richtige Direktion erhalten hatte, einen glänzenden [639] Verlauf. Alles ging, wie wir uns ausdrückten, „wie am Schnürchen“! Die Stiefel des Andreas Baidisch paßten prachtvoll zu irgend welchen, unterm Fenster des Grundherrn gefundenen Spuren, es fanden sich Hüterjungen, die während der Nachtwache auf der Pferdekoppel gesehen hatten, wie Baidisch in der Nacht, wo der Grundherr ermordet wurde, sehr spät heimkehrte. Mit einem Worte, es ging alles „wie am Schnürchen“, am Schnürchen, das ich gefunden hatte!… „Ein Prachtkerl, ein richtiger Lecoq sind Sie!“ lobt mich der Untersuchungsrichter, während ich stolz und in bescheidenem Selbstbewusstsein dreinschaue.

Man sprach jetzt wieder von Neuem, und noch eifriger als früher, über das „Ereigniß“. In unserem Dorfe, in der Kreisstadt, überall wurde darüber geredet. Viele befragten mich über den Fall, über die Aufdeckung des Verbrechens, des so fürchterlichen, frechen und, was die Hauptsache des, wie man früher geglaubt hatte, so räthselhaften Verbrechens.

Und ich ertheilte meinen Bekannten – gerade ich war in der Lage das zu thun – die allergenauesten und interessantesten Auskünfte. Und ich ertheilte sie um so lieber, als, zu meinem größten Aerger, der Untersuchungsrichter plötzlich anfing, sich allein die Ehre der Enthüllung des Verbrechens zuzuschreiben!

Es verging einige Zeit.

Eines Morgens gegen acht Uhr ging ich baden. Um zu der Badestelle zu gelangen, mußte ich von unserem Hofe aus ein gutes Stück durch die Dorfgassen zurücklegen. Ich ging so vor mich hin, ohne auf irgend etwas besonders Acht zu geben. Als ich aber an dem Gemeindehause vorbeikam, bemerkte ich unwillkürlich auf dem Hofe einen Haufen Leute stehen und daneben einen Wagen. Kaum hatte ich auf die Gruppe einen Blick geworfen, als ich sofort alles begriff: man transportirte da den Andreas Baidisch ins Gefängniß.

Und es war gerade der letzte Akt der Abreise. Andreas, den man bis dahin bei der Gemeindeverwaltung internirt hatte, war schon auf den Hof herausgeführt worden und stand neben dem Wagen. Seine Angehörigen waren gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen.

Ich sah hin – und es wurde mir kalt ums Herz…

Andreas stand da, ohne sich zu rühren, finster und dunkel, wie die Nacht.

Plötzlich trat er einen Schritt vor, in der Richtung zum Vater, und sagte leise einige Worte, die ich nicht recht verstehen konnte, vielleicht: „Leb wohl Vater!“ … Der Alte blieb stumm, wahrscheinlich konnte er kein Wort hervorbringen. Seine Lippen waren von einem unsäglichen Leiden verzerrt. Thränen, stille Thränen rollten über sein altes, hageres Gesicht auf den langen grauen Bart. Ich sah ganz deutlich, wie diese großen Thränen perlten….

„Nun, nun! Es ist Zeit zum Aufbrechen!“ hörte man von der Treppe aus die Stimme des Gemeindeältesten.

In diesem Augenblick stürzte auf Andreas ein Weib zu. Ich hatte dasselbe früher nicht bemerkt, da es hinten am Zaune gestanden hatte. Jetzt warf es sich Andreas an den Hals. Ich erkannte das Weib, es war die alte Baidisch, die Mutter Andreas’! Sie umschlang ihn mit den Armen und begann zu schluchzen und zu klagen. O mein Gott, was war das für ein Schluchzen! Es war kaum mehr ein menschlicher Schrei, ein Schrei, wie ich ihn niemals früher gehört hatte!…

Und dieser herzzerreißende Schmerz war schließlich sehr begreiflich. Den letzten Sohn entriß man dieser Mutter: den einen hatte man ihr wegen eines Fuders Holz genommen, den anderen nahm man wegen der Rache. Und diesen letzten Sohn noch einmal wiederzusehen durfte die Alte nicht mehr hoffen: sein Weg war weit – nach Sibirien, auf viele lange Jahre!…

[640] „Oh mein Andreas! Mein Sohn, mein letztes Kind“ … heulte und klagte die Alte.

Ich weiß nicht, wie mir geschah, als ich diesen Schrei vernahm! Eine Art äußerer Gewalt trieb mich vom Hofe weg und jagte mich immer weiter und weiter, daß ich nur nicht mehr dieses furchtbare[WS 1] Klagen und Heulen hörte!… … Ich durchschritt das Dorf und ging immer weiter, wie im Nebel, nur hinaus in die Ferne….

Ich kam erst zu mir in einem einsamen Waldwinkel. Was damals in meiner Seele vorging, vermag ich nicht zu beschreiben…. Ich suchte die Beweggründe zu meiner so verhängnißvoll gewordenen Handlungsweise zu analysiren. In der That, was hatte mich zu meinen Spürereien, Dank denen jetzt all diese Menschen weinten, bewogen? War es vielleicht Mitleid mit dem ermordeten Alten, den ich garnicht gekannt und von dem ich nur gehört hatte, daß er ohne Zaudern eine ganze Familie wegen eines in seinen ungeheuren Wäldern gesammelten Fuder Holzes unglücklich gemacht? That er mir vielleicht leid?… Nein, an dem verfluchten Abend, als ich mit dem Richter auf die Suche ausging, dachte ich gar nicht einmal an ihn; ich dachte nur daran, daß ich das Geheimniß seines Todes aufdecken werde. Dieses – nicht das Mitleid mit dem Ermordeten oder das Prinzip einer höheren Gerechtigkeit, nein, eine richtige fessellose Spürsucht, ein bei Jagdhunden wohlbekannter Instinkt, trieben mich damals an und führten mich zu jenem unglückseligen Trog, aus dem ich die verrätherische Jacke zog! Und als wir uns um die Ehre dieser Entdeckung mit dem Untersuchungsrichter stritten – was interessierte uns damals eigentlich? …

Ich lag auf dem Boden im Grase und litt fürchterlich. Ich suchte mich mit der Betrachtung, daß Andreas jedenfalls ein schweres Verbrechen verübt hatte, zu beruhigen. Aber sogleich erstand in meinem Innern die Frage: wessen Schuld war größer, Baidischs oder – die meinige? …

Diese Frage quälte mich natürlich am meisten. In meinen Ohren tönte das unmenschliche Schluchzen Andreas’ Mutter, vor meinen Augen sah ich die stummen Thränen seines alten Vaters. Auch Andreas selbst sah ich vor mir stehen, wie ich ihn zuletzt im Gedächtniß behalten – ohne Mütze, mit hängendem Kopf, einem qualvollen Blick, diesen schönen Jüngling gefällt, getödtet – durch meine Hand!… Meine Finger knackten, so sehr drückte ich sie zusammen.

Um mich herum aber war es so wunderbar schön, so heiter! Das Stückchen Waldes um mich her war voller Leben, voll Genuß. Das hohe Gras athmete Kühle, eine unsichtbare Grille zirpte irgendwo darin; neben mir summte über einer saftigen Waldblume ein kleines, munteres Bienchen; durch die frischen, grellen Zweige guckte die Morgensonne, und ihre Strahlen vergoldeten das Gras und spielten auf der Oberfläche des Bächleins, welches, von grünem Schilf umsäumt, heiter dahinfloß. Und über alles das goß sich das Lied einer Nachtigall aus: irgendwo im dichten Nußgehege sang eine Nachtigall laut und schmetternd!… Das erinnerte mich an den Gesang der Nachtigallen in jener Nacht, wennschon es jetzt etwas anderes war: in jenem nächtlichen Gesange, der in dem vom Mondschein übergossenen Walde ertönte, lag ein geheimnißvoller Zauber, eine Leidenschaft, die in Sehnsucht überging; während jetzt, beim Sonnenlicht, das Lied der Nachtigall von heller Freude, von der Poesie des Glückes, von Freiheit erfüllt schien. – Aber das Lied zerriß mir die Seele! Ich stand auf und ging aus dem Walde, um es nicht mehr zu hören.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: furchbare