Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Volksbücher“ in Meyers Konversations-Lexikon
Seite mit dem Stichwort „Volksbücher“ in Meyers Konversations-Lexikon
Band 16 (1890), Seite 263264
Mehr zum Thema bei
Wikisource-Logo
Wikisource: Volksbücher
Wikipedia-Logo
Wikipedia: Volksbuch
Wiktionary-Logo
Wiktionary: Volksbuch
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Indexseite
Empfohlene Zitierweise
Volksbücher. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 16, Seite 263–264. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Volksb%C3%BCcher (Version vom 30.05.2021)

[263] Volksbücher, im weitern Sinn alle diejenigen Bücher, welche unter allen Klassen und Ständen eines Volkes Verbreitung gefunden haben (s. Volksschriften); im engern Sinn und namentlich in litterarhistorischer Hinsicht die in Prosa abgefaßten Unterhaltungsbücher, die im 15. und 16. Jahrh. teils im [264] Volk selbst entstanden, teils aus gebildetern Kreisen, meist mit formalen Abänderungen, in dasselbe übergingen. Ihrem Inhalt nach sind diese V. der deutschen Litteratur meist aus der schon vorhandenen und verbreiteten ältern Sage geschöpft, ja zum großen Teil nur Umarbeitungen oder Übertragungen älterer Produkte. Bei diesen Umarbeitungen wählte man aber nicht die nach Gehalt und Form vollendetsten deutschen Gedichte des 13. Jahrh. (wie etwa Wolframs „Parzival“), denn diese standen dem Verständnis des 15. und 16. Jahrh. bereits zu fern; auch aus der deutschen Heldensage gestaltete sich nur ein ziemlich roher Teil, die Jugendgeschichte Siegfrieds, aus einer Auflösung des ältern Siegfriedliedes zu dem prosaischen Volksbuch vom „Hürnen Siegfried“. Dagegen ward unmittelbar zum Volksbuch der „Reineke Fuchs“ (s. d.) in seiner damaligen poetischen Gestalt, wie überhaupt die Tiersage von jeher recht eigentlich dem Volk angehört hat. Ferner beziehen sich auf deutsche Sage und Geschichte die gereimten V. von „Heinrich dem Löwen“ (aus dem 15. Jahrh.) und vom „Ritter von Staufenberg“ (um 1480) sowie das prosaische vom „Kaiser Friedrich Barbarossa“ (zuerst 1519). Das Volksbuch von „Herzog Ernst“ (s. d.) schloß sich nicht an das ältere deutsche Gedicht, sondern an eine lateinische prosaische Version an, wie auch Steinhöwels zum Volksbuch gewordener Bearbeitung des „Königs Apollonius von Tyrland“ die lateinische Erzählung des Gottfried von Viterbo zu Grunde liegt. Beliebte V. waren auch verschiedene Reisebeschreibungen, namentlich die Reisen Marco Polos und Maundevilles. Ansehnlich vermehrt ward die Litteratur der deutschen V. durch zahlreiche Übersetzungen aus dem Französischen; doch ließ man auch hier die großen alten Epen des karolingischen Sagenkreises unbenutzt, und nur drei zu diesem gehörige Romane wurden aus jüngern Bearbeitungen übertragen: die „Haimonskinder“ (s. d.), „Fierabras“ (Simmern 1535) und „Ogier“ (durch K. Egenberger von Wertheim, Frankf. 1571). Ein andrer an die Karlssage sich anlehnender Roman: „Florio und Bianceffora“ (Metz 1499), ward dem „Filocopo“ Boccaccios entnommen. Dem karolingischen Sagenkreis gehört noch an „Loher und Maller“, übersetzt durch Elisabeth von Nassau (1437; erster Druck, Straßb. 1514; neubearbeitet von Simrock, Stuttg. 1868). Die Geschichte Hugo Capets behandelt der von derselben bearbeitete „Hug Schapler“ (Straßb. 1500). Weitverzweigten Sagenstoff vereinigt „Pontus und Sidonia“, übersetzt durch Eleonore von Österreich (um 1450; erster Druck, Augsb. 1485). Weiter gehören hierher: die „Melusine“ (s. d.), übersetzt (1456) durch Thüring von Ringoltingen; die „Magelone“ (s. d.); „Herzog Herpin“ (Straßb. 1514); „Ritter Galmy“ (das. 1539); „Kaiser Oktavian“ (das. 1535) und der durch Marquard vom Stein übersetzte „Ritter vom Thurn“ (Bas. 1493). Erzählungen, deren Ursprung oft in die ältesten orientalischen Litteraturen hinaufreicht, wanderten von einem Volk zum andern und wurden wiederholt in Sammlungen vereinigt. Zwei der beliebtesten Sammlungen dieser Art sind die Gesta Romanorum (s. d.) und die „Sieben weisen Meister“ (s. d.). Daneben entstanden auch neue Sammlungen ähnlicher Art, wie: „Der Seele Trost“ (Augsb. 1478) und Joh. Paulis „Schimpf und Ernst“ (Straßb. 1522; neu hrsg. von Österley, Stuttg. 1866), denen als Nachahmungen sich anschlossen Valtin Schumanns „Nachtbüchlein“ (um 1559), Kirchhofs „Wendunmut“ (Frankf. 1563; neu hrsg. von Österley, Stuttg. 1869), Wickrams „Rollwagen“ (Straßb. 1557), Jakob Freys „Gartengesellschaft“, Martin Montanus’ „Wegkürzer“ etc. Auch aus der Fremde kamen mehrere einzelne Novellen unter unsre V., so aus dem Französischen die „Geduldige Helena“ (Straßb. 1508) und, durch Steinhöwel aus dem Lateinischen des Petrarca übersetzt, die „Griseldis“ (Augsb. 1471). Aus lateinischer Quelle stammt auch das prosaische Volksbuch von „Salomon und Marcolf“ (Nürnb. 1487) her, welches den Marcolf zum Träger demokratischer Schalksnarrenweisheit macht. Dieser Lust an Schwänken verdanken auch einige echt deutsche Originalwerke ihren Ursprung, wie vor allen der „Eulenspiegel“ (s. d.), die „Schildbürger“ oder das „Lalenbuch“ (s. d.), zwei gereimte V.: „Der Pfarrer vom Kalenberg“ (von Philipp Frankfurter um 1400; erster Druck, Frankf. 1550) und „Peter Leu von Hall“, auch „Der andre Kalenberger“ genannt (von Achilles Jason Widmann, das. 1560); ebenso „Der Finkenritter“ (Straßb. um 1559), ein Vorläufer der Münchhauseniaden, und zwei dem Eulenspiegel verwandte Sammlungen von Schwänken: „Der Klaus Narr“ von Wolfgang Büttner (Eisl. 1572) und der „Hans Clawert“ von Barth. Krüger (Berl. 1587). Mehrere deutsche V. ernsten Inhalts sind in Deutschland selbst entstanden, darunter der „Fortunatus“ (s. d.) und der „Faust“ (s. d.), welch letzterm schon im 15. Jahrh. der „Bruder Rausch“ vorangegangen war, der den Bund mit dem Teufel in humoristischer Auffassung darstellte. Einen Vertrag mit dem Teufel enthält auch die durch Georg Thym gereimte Sage von „Thedel Unverferd von Walmoden“ (Magdeb. 1550). Vielleicht das jüngste aller V., aber von echt deutschem Ursprung ist die Erzählung von der Pfalzgräfin Genoveva (s. d. 2). Endlich ist noch der Sprüche und Gewohnheiten mancher Handwerkerzünfte u. dgl. zu gedenken, die aufgezeichnet und gedruckt auch außer der Zunftgenossenschaft im Volk Leser fanden. Im 17. Jahrh. wendeten sich die höhern Stände hochmütig von den Volksbüchern ab, die durch Veränderungen, namentlich Verkürzungen, sowie dadurch viel an dichterischem Wert einbüßten, daß sie dem sich selbst ändernden Geschmack des Volkes, in welchem die Empfänglichkeit für wahre Poesie abnahm, angepaßt wurden. So sanken sie zu den verachteten Büchlein „gedruckt in diesem Jahr“ herab. Der unvergängliche poetische Gehalt, der den meisten Volksbüchern innewohnt und der selbst durch die äußerste Entstellung nicht ganz vertilgt werden konnte, wurde von den Gebildeten erst in der neuern Zeit wieder erkannt. Zuerst besprach J. Görres in seiner Schrift „Die deutschen V.“ (Heidelb. 1807) 49 derselben und wies mit überzeugender Kraft auf den Schatz tüchtiger und echter Poesie hin, der hier zum Teil noch ungehoben liege. Dennoch fand v. d. Hagens „Narrenbuch“ (Halle 1811), das die Schildbürger, den Kalenberger Pfaffen, Peter Leu und Salomon und Marcolf enthält, nur geringe Teilnahme. Erst G. Schwab in den „Deutschen Volksbüchern“ (Stuttg. 1836, 13. Aufl., Gütersl. 1880) und Marbach („Deutsche Volksbücher“, Leipz. 1838–47, 44 Bde.) gelang es, die alten V. zu allgemeinerer Kenntnis zu bringen. Die größten Verdienste aber hat sich in dieser Hinsicht Simrock durch seine auf die alten Ausgaben gegründete „Sammlung deutscher V.“ (Frankf. 1845–67, 13 Bde.; neue Ausg. 1886 ff.; Auswahl 1869, 2 Bde.) erworben. Eine Auswahl poetischer V. bietet Bobertags „Narrenbuch“ (Bd. 11 von Kürschners „Deutscher Nationallitteratur“). – Englische V. hat Thoms (Lond. 1828, 3 Bde.) gesammelt; über die französischen belehrt Nodiers „Nouvelle bibliothèque bleue“ (Par. 1842).