MKL1888:Reineke Fuchs
[696] Reineke Fuchs, hochdeutsche Bezeichnung für die letzte bedeutende dichterische Gestaltung der deutschen Tiersage (s. d.). Das Alter der letztern reicht zurück in das Dunkel vorhistorischer Zeit. Bei den Franken begegnen wir deutlichern Spuren der Tiersage bereits im 7. Jahrh. (Fredegars Chronik), bei den Bayern um die Wende des 10. ins 11. Jahrh. Von den Franken aus hat sie sich über den Rhein nach Lothringen, Flandern und Nordfrankreich fortgepflanzt, und in diesen Gegenden ist ihre vorzüglichste Ausbildung erfolgt, wie denselben auch die ältesten poetischen Gestaltungen der Tiersage angehören. Die drei frühsten dieser Gestaltungen sind in lateinischer Sprache abgefaßt, so zunächst die älteste, zugleich an Wert geringste, mit dem Titel: „Ecbasis captivi“, welche ein Stück echter Tiersage in eine andre Fabel eingerahmt enthält und vermutlich von einem Mönch aus Tull (Toul) ungefähr gleichzeitig mit dem „Waltharius“ in Hexametern abgefaßt ist (hrsg. in J. Grimms und Schmellers „Gedichten des 10. und 11. Jahrhunderts“; neuerlich von Voigt, Straßb. 1875). Zu Anfang des 12. Jahrh. entstand dann eine weitere der Tiersage angehörige Dichtung: der in Südflandern wahrscheinlich gleichfalls von geistlicher Hand in Distichen niedergeschriebene „Isengrimus“, welcher von dem kranken Löwen und der Betfahrt der Gemse berichtet (s. Isegrim). Dieselben Begebenheiten nebst zehn andern Abenteuern aus der Tierwelt hat, etwa um 1150, ein nordflandrischer Magister Nivardus in dem auch in lateinischen Distichen (6596) abgefaßten „Reinardus vulpes“ erzählt (hrsg. von Mone, Stuttg. 1832), und nicht viel später gab, französischer Quelle folgend, der Elsässer Heinrich der Glichesäre in „Isengrîmes nôt“ die erste bekannte (mittelhoch-) deutsche Bearbeitung der Tiersage. Das von dieser in kurzen Reimpaaren gedichteten Bearbeitung uns erhaltene Bruchstück, etwa ein Drittel des Ganzen, ist von J. Grimm im „Sendschreiben an Lachmann über Reinhart Fuchs“ (Leipz. 1840) veröffentlicht worden. Zu Anfang des 13. Jahrh. hat dann ein Ungenannter die Version des Glichesäre ohne Änderung des Inhalts in die seit Heinrich von Veldeke herrschenden reinern Reime umgeschmolzen, welche Überarbeitung unter dem Titel: „Reinhart Vuhs“ bis auf 140 Verse erhalten geblieben ist (zuerst hrsg. von Mailáth und Köffinger im „Koloczaer Kodex“, Pest 1818; in reinerer Gestalt in J. Grimms „Reinhart Fuchs“, Berl. 1834). Während im 13. und 14. Jahrh. das Tierepos in Nordfrankreich mannigfache Bearbeitung fand (am berühmtesten der weitschichtige, zuletzt 62,000 Verse umfassende „Roman de Renart“, hrsg. von Méon, Par. 1826, 4 Bde.; von Martin, Straßb. 1881–87, 3 Bde.), trat, wie es scheint, in Deutschland selbst seit jener oben erwähnten geraume Zeit hindurch keine auf. Inzwischen aber erhielt die Tiersage, wahrscheinlich um 1250, in Flandern ihre vollkommenste künstlerische Gestaltung im „Reinaert de Vos“ (hrsg. von J. Grimm im „Reinhart Fuchs“, S. 115 ff.; von Willems, neue Aufl., Gent 1850; von Jonckbloet, Groning. 1835; von Martin, Paderb. [697] 1874; hochdeutsch von Geyder, Bresl. 1844). Der Verfasser dieses trefflichen Werkes ist nicht mit Gewißheit ermittelt. J. Grimm sieht ihn in einem zu Anfang des „Reinaert“ genannten Willem (de Matoc), während der niederländische Herausgeber Willems einen gewissen Willem Utenhove für den Dichter hält, jenem Willem de Matoc aber eine gegen 1350 in schlechtem Stil abgefaßte Überarbeitung und Fortsetzung des „Reinaert“ zuschreibt. Diese letztere nun (welche im 15. Jahrh. von Hinric von Alkmar mit einer prosaischen Glosse versehen wurde) erschien 1498 zu Lübeck in plattdeutscher Übertragung als „Reynke de Vos“. Der Urheber der Übersetzung ist strittig. Nach einer Angabe G. Rollenhagens in der Vorrede zum „Froschmäusler“ galt für denselben lange Zeit Nikolaus Baumann, der 1526 zu Rostock als Sekretär des Herzogs Magnus von Mecklenburg starb; Zarncke hat dagegen (Haupts „Zeitschrift für deutsches Altertum“, Bd. 9) einen Hermann Barkhusen, weiland Stadtschreiber und Buchdrucker zu Rostock, als Verfasser des „Reineke Vos“ nachzuweisen versucht. Diese niedersächsische Fassung, welche erst in der Neuzeit, besonders durch J. Grimm (Einleitung zum „Reinhart Fuchs“) und Hoffmann von Fallersleben, als bloße, wenn auch sehr gelungene Übertragung eines fremden Originals, nämlich des „Reinaert“, dargethan ist, hat mit letzterm die köstliche Frische und Lebendigkeit der Darstellung und die freilich zum Teil im sprachlichen Idiom liegende Naivität und Komik gemein. Sie erzählt die abenteuerlichen Händel des Fuchses mit dem Wolf, die Begebenheiten am Hof König Nobels, des Löwen, die Überlistung der Hofleute und Unterthanen des Tierbeherrschers durch die verschlagene Tücke Reinekes, welcher den biedern Vierfüßern Braun dem Bären, Hinz dem Kater, dem Hündlein Wackerlos u. a. m. aufs ärgste mitspielt, trotzdem aber schließlich an Nobels Hof zu hohen Ehren gelangt. Von dem Originaldruck des Lübecker „Reineke Vos“ ist nur noch ein einziges Exemplar (zu Wolfenbüttel) vorhanden. Eine zweite Ausgabe erschien 1517 zu Rostock, und dieser folgten während des 16. und 17. Jahrh. Ausgaben in großer Menge, in denen sich der Text zusehends verschlechterte. Den Druck von 1498 ließ Hackmann (Wolfenb. 1711) in genauer Wiederholung auflegen; die letztere liegt der von Gottsched (Leipz. 1752) besorgten Ausgabe zu Grunde, die auch eine prosaische Übersetzung (neuer Abdruck der letztern, Halle 1886) und Auslegung nebst einer Abhandlung über Urheberschaft, Alter und Wert des Gedichts enthält. Weitere Ausgaben rühren her von Bredow (Eutin 1798), Scheller (Braunschw. 1825), Scheltema (Haarl. 1826), die aber sämtlich an Wert weit zurückstehen hinter der mit einem trefflichen Wörterbuch versehenen von Hoffmann von Fallersleben (Bresl. 1834, 2. Aufl. 1852) sowie hinter den Ausgaben von Lübben (Oldenb. 1867), Schröder (Leipz. 1872), Prien (Halle 1887). Übersetzt wurde der „Reineke Vos“ ins Holländische (von van der Putte, Amsterd. 1694), ins Englische (Lond. 1681), ins Dänische (1555), ins Schwedische (1621). Die erste hochdeutsche Übertragung, die, obwohl sie „schattenhaft hinter dem Original zurückbleibt“, mehr als 20mal aufgelegt worden ist, lieferte, wunderlicherweise als zweiten Teil zu Paulis „Schimpf und Ernst“, M. Beuther (Frankf. 1544); fernere Übersetzungen ins Hochdeutsche sind die prosaische „Der lustige R. F.“ (ohne Ort und Jahr), die schon erwähnte von Gottsched, die beiden im Versmaß des Originals abgefaßten von Soltau (Berl. 1803; neue Ausg., das. 1867) und K. Simrock (2. Aufl., Frankf. 1847), endlich die von Hartmann (Leipz. 1864). Mehr aber als alle diese Übersetzungen trug Goethes Bearbeitung des R. F. in Hexametern (zuerst Berl. 1794), zu der Kaulbach später seine genialen Zeichnungen schuf (Münch. 1847), dazu bei, das Interesse des lebenden Geschlechts für die alte Dichtung zu beleben. Vgl. Genthe, Reineke Vos, Reinaert, Reinhart Fuchs im Verhältnis zu einander (Eisl. 1866); Rothe, Les romans du Renart examinés, analysés et comparés (Par. 1845).