MKL1888:Industrielle Arbeiterfrage

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Industrielle Arbeiterfrage“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 8 (1887), Seite 937940
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Industrielle Arbeiterfrage. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 8, Seite 937–940. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Industrielle_Arbeiterfrage (Version vom 24.11.2024)

[937] Industrielle Arbeiterfrage. Die i. A. ist die soziale Frage für die im gewerblichen Großbetrieb (Fabriken, Salinen, Berg- und Hüttenwerke, größere Hausindustrielle und Handwerksunternehmungen) beschäftigten Lohnarbeiter, somit ein Teil der oft schlechthin als „soziale Frage“ bezeichneten Arbeiterfrage (s. d.). Die besondere Behandlung derselben an dieser Stelle wird sich nur auf eine Charakterisierung der verschiedenen reformbedürftigen Mißstände wirtschaftlicher und moralischer Natur und der zu ihrer Beseitigung geeigneten Maßregeln erstrecken.

Materielle, wirtschaftliche Übelstände.

Dieselben können zunächst darin bestehen, daß das Einkommen dieser Klassen, welches fast ausschließlich Arbeitseinkommen (vgl. Arbeitslohn) ist, nicht genügend sichergestellt ist (Verschiebungen in der Produktion, Änderungen in Technik und Verkehr, Erfindungen, Krisen, welche Arbeiter entbehrlich machen; Gefahr der Erkrankung für Arbeiter, infolge deren der Verdienst auf einige Zeit in Wegfall kommt, etc.), daß dasselbe nicht zureicht, um den der errungenen Kulturstufe entsprechenden notwendigen Lebensbedarf zu decken, und daß es keine Aussicht auf Steigerung bietet. Das thatsächliche Einkommen der Lohnarbeiter ist außerordentlich verschieden. Unzweifelhaft reicht bei vielen Arbeiterklassen der Lohn hin, um bei sparsamer und wirtschaftlicher Lebensweise ein wirkliches Kulturleben und oft auch noch die Ansammlung von Ersparnissen zu ermöglichen. Es ist vielfach höher als das von kleinen Handwerkern und Beamten. Doch gibt es in fast allen Industriezweigen auch Arbeiter, deren Lohn bei einer mittelstarken Familie nur gerade die Befriedigung der dringendsten Bedürfnisse in dürftigster Weise, bei starker Familie aber nicht einmal diese gestattet; es ist dies die Klasse der sogen. mechanischen, der ungelernten Lohnarbeiter, des eigentlichen Proletariats. Nur für sie gilt das sogen. eherne Lohngesetz, welches von den meisten Sozialisten fälschlich als für alle Lohnarbeiter bestehend behauptet wird (vgl. Arbeitslohn). Doch liegt die Ursache der Unzulänglichkeit des Lohns nicht darin, daß letzterer durch freien Vertrag bestimmt wird, sondern sie liegt einerseits in der geringen Arbeitsfähigkeit dieser Personen, anderseits darin, daß in der Regel infolge übermäßiger Volksvermehrung ein Mehrangebot von Arbeitskräften vorhanden ist und nun diese Arbeiter durch ihre eigne Konkurrenz den Lohn herabdrücken. In andern Klassen wird das geringe Einkommen nur bei besonders kinderreichen Familien zum Übelstand. In beiden Fällen sind die Bedrängten an den ungünstigen Einkommensverhältnissen nicht schuldlos.

Einzelne Arbeiter können sich wohl zu Unternehmern emporschwingen (Krupp, Borsig etc.), auch kann ein kleiner Teil zu den bessern und einträglichern Stellungen eines Vorarbeiters, Aufsehers, Meisters in den Fabriken gelangen. Doch hat der bei weitem größere Teil der industriellen Arbeiter schon frühzeitig die höchste Stufe des Einkommens erreicht und keine Aussicht, ein höheres zu erlangen. Nun kann aber bei eintretender Arbeitsunfähigkeit (Krankheit, Alter, Tod) das Einkommen ganz in Wegfall kommen, wenn nicht die Arbeiter, bez. ihre Familien dagegen durch Unterstützungskassen, Versicherungsanstalten oder sonst (Invalidenversorgung) geschützt sind. Endlich ist hervorzuheben, daß isolierte, d. h. nicht in Gewerkvereinen organisierte, Lohnarbeiter in der Regel von den vorübergehenden günstigen Konjunkturen auf dem Produktenmarkt ihres Industriezweigs keinen Vorteil haben, unter den ungünstigen aber mit leiden. Vgl. über thatsächliche Löhne unter andern: Ducpétiaux, Budgets économiques des classes ouvrières en Belgique (Par. 1855); K. Marx, Das Kapital (3. Aufl., Hamb. 1883); Engels, Die Lage der arbeitenden Klassen in England (Leipz. 1848); Le Play, Les ouvriers européens (2. Aufl., Par. 1877–79, 6 Bde.); Böhmert, Arbeiterverhältnisse und Fabrikeinrichtungen der Schweiz (Zürich 1873, 2 Bde.); Fries, Die wirtschaftliche Lage der Fabrikarbeiter in Schlesien (1876); Jacobi, Über die Arbeitslöhne in Niederschlesien („Zeitschrift des Preußischen Statistischen Bureaus“ 1868).

Weitere Übelstände können darin bestehen, daß auf Kosten von Gesundheit und Sittlichkeit die Arbeitszeit zu lange bemessen ist und keine genügenden Ruhetage (Sonntage) gewährt werden. Zwar ist je nach der Art der Arbeit und der Anstrengung die berechtigte Grenze der Arbeitszeit verschieden für die verschiedenen Arbeiterklassen, doch dürfte im allgemeinen bei eigentlicher Fabrik- und Bergwerksarbeit die Forderung einer zehnstündigen wirklichen Arbeit, also eines nur zwölfstündigen Arbeitstags (zwei Stunden Ruhepausen), nicht unbillig sein. Sonntagsarbeit sollte nur da stattfinden, wo die Technik einen ununterbrochenen Betrieb erheischt, und hier auch nur in der Weise, daß ein regelmäßiger Schichtwechsel vor sich geht und die Arbeiter nur einen Sonntag um den andern arbeiten. Gesetzgebung (über Kinder- und Frauenarbeit), Agitation der Arbeiter (Gewerkvereine) und humanitäre Bestrebungen haben zwar schon manche Besserung erzielt, doch ist die Arbeit noch nicht überall in wünschenswerter Weise geregelt. In Deutschland ist die Regel eine zehn- bis elfstündige wirkliche Arbeitszeit, in der Textilindustrie steigt sie nicht selten bis 12 und 13 Stunden, und regelmäßige Sonntagsarbeit besteht auch noch vielfach da, wo die Technik sie nicht gebieten würde. Auch Nachtarbeit sollte nur da stattfinden, wo sie aus technischen Gründen unentbehrlich ist, und dann mit regelmäßigem Schichtwechsel, so daß die Nachtarbeiter einer Woche die Tagarbeiter in der nächsten sind. Die Art der Beschäftigung kann Sittlichkeit, Gesundheit und Leben gefährden, indem die Arbeit allzu eintönig und einförmig ist, in ungesunden Räumen unter Einatmung schädlicher Stoffe, ohne genügende Sicherung gegen gefährliche Maschinen etc. stattfindet (s. Gewerbekrankheiten) oder auch männliche und weibliche Arbeiter, Erwachsene und Kinder zusammen arbeiten.

Viel Material zur Würdigung dieser Übelstände [938] findet sich unter anderm in den angeführten Werken von Engels und Marx, in den Berichten der englischen Fabrikinspektoren und der großen Enquetekommissionen; vgl. ferner L. Faucher, Études sur l’Angleterre (2. Aufl., Par. 1856, 2 Bde.); Buret, Misère des classes laborieuses en Angleterre et en France (das. 1841, 2 Bde.); Villermé, Tableau de l’état physique et moral des ouvriers employés dans les manufactures, etc. (das. 1840, 2 Bde.); Chadwick, Report or an inquiry into the sanitary condition of the labouring population of Great Britain (Lond. 1842, 3 Bde.); Kay, The social condition of the people of England and Europe (das. 1850, 2 Bde.); Ketteler, Die Arbeiterfrage, Anl. 3; für deutsche Zustände die Berichte des Bundesrats über die beiden Enqueten, betreffend die Arbeit in den Fabriken (1874 und 1876), und neuerdings die Berichte der deutschen Fabrikinspektoren. Viele Lohnarbeiter, insbesondere solche, welche keinem Arbeiterverband angehören, befinden sich trotz Freizügigkeit, Freiheit des Arbeitsvertrags in einer Abhängigkeit von ihren Arbeitgebern, die schädlich auf Lohnhöhe, Arbeitszeit, Art der Arbeit und persönliche Behandlung einwirkt. Hauptursache derselben sind Einseitigkeit der Ausbildung, die Abgelegenheit einer Fabrik oder eines Bergwerks von andern Unternehmungen, in denen der Arbeiter Beschäftigung suchen könnte, Mangel an Zeit, andre Arbeit zu suchen, Gebundenheit an einen Ort durch Land- oder Hausbesitz.

Für Verbesserung der Arbeiterwohnungen (s. d.) ist zwar in neuerer Zeit viel geschehen, aber trotzdem entspricht eine große Zahl, wenn nicht die Mehrzahl derselben keineswegs den im Interesse der Gesundheit und Sittlichkeit an sie zu stellenden Anforderungen. Gerade die Wohnungsfrage ist noch wichtiger als die Lohnfrage, indem viele Übelstände (große Sterblichkeit, Unsittlichkeit etc.) dadurch verursacht werden, daß die Wohnungen ungesund, schmutzig und zu klein sind. Die Arbeiter sind meist genötigt, ihren Lebensbedarf im kleinen bei Krämern einzukaufen; dabei müssen sie oft höhere Preise, noch dazu gewöhnlich für schlechtere Ware, zahlen. Früher hielten auch wohl Unternehmer oder deren Aufseher solche Kramläden und verpflichteten ihre Arbeiter, in denselben die Waren zu kaufen. Leider ist diese Maßregel häufig zu einem Mittel der Ausbeutung geworden, indem den Arbeitern schlechte Waren zu hohem Preis verkauft wurden (Trucksystem).

Moralische Übelstände.

Zu unterscheiden sind solche, welche bei verheirateten Arbeitern, bei männlichen Arbeitern überhaupt und bei unverheirateten weiblichen Arbeitern vorkommen. Bei verheirateten Arbeitern stehen Häuslichkeit und Familienleben oft im Widerspruch mit den Forderungen von Sittlichkeit und Kultur. Die Ursache hiervon liegt häufig in Unzulänglichkeit des Einkommens oder übermäßiger Ausdehnung der Arbeitszeit der Familienväter; aber nicht selten wirken doch auch andre Ursachen mit, wie frühe leichtsinnige Eheschließungen, Mangel des Bewußtseins der sittlichen Pflichten der Eheleute und Eltern, Unwirtschaftlichkeit der Frauen und Unfähigkeit derselben, dem Mann ein ordentliches, behagliches Hauswesen zu bereiten, regelmäßige Erwerbsthätigkeit der Frau außerhalb der Wohnung etc. Ein schwerwiegender Übelstand beruht darin, daß die Kinderzahl diejenige Grenze übersteigt, welche Kultur und Lohnhöhe gestatten. Folge hiervon ist eine beklagenswerte Ausbeutung der Arbeitskraft der armen Kinder, große Kindersterblichkeit, häufige Krankheiten und frühzeitiger Tod der Frauen, dann aber auch der Nachteil, daß jede dauernde Steigerung des Lohns über eine Höhe, bei der nur gerade der notwendige Lebensbedarf für die Durchschnittsfamilie notdürftig gedeckt wird, erschwert oder gar unmöglich gemacht wird. Dazu gesellt sich die mangelhafte Ausbildung der Kinder. Die Schule allein reicht für die Ausbildung meist nicht hin. Der Familie fällt insbesondere die Pflege der sittlichen Eigenschaften als wesentliche Aufgabe zu. Diese wird aber leider nur zu oft in ungenügender Weise erfüllt, ja es wird häufig noch verdorben, was Schule und kirchlicher Einfluß Gutes geschaffen. Vgl. darüber namentlich die englischen Enqueten: „Childrens Employment Commission“ (first report: „Mines“, 1862, 3 Bde.; second report, 1843, 3 Bde.); „Childrens Employment Commission“ (six reports, 1863–67); „Agriculture, Employment of women and children“ (4 reports, 1867–70). Auch der Mangel an Gelegenheit und Fähigkeit zu einer das Leben verschönernden Erholung und weitern Ausbildung in den freien Stunden ist oft zu beklagen und ein für die ganze Existenz dieser Klassen schwer ins Gewicht fallender Übelstand.

Bei männlichen Arbeitern überhaupt, verheirateten wie unverheirateten, finden sich oft unter andern als unmoralische Erscheinungen: geringer Arbeitsfleiß, Unwirtschaftlichkeit, Mangel an Sparsinn, wo das Einkommen an sich ein Sparen gestatten würde, geringer Trieb zu besserer Ausbildung etc.; eine feindselige bis zu fanatischem Hasse sich steigernde Gesinnung gegen die besitzenden Klassen und Mißtrauen, auch gegen uneigennützige, humane Reformmaßregeln; roher Materialismus und Irreligiosität; Mißachtung des gegebenen Wortes (Kontraktbruch) und des bestehenden Rechts; Mißbrauch der Koalitionsfreiheit etc.

Bei unverheirateten Arbeiterinnen kommen außer einer inhumanen Arbeitszeit und Arbeitsart in Betracht einerseits die mangelnde Gelegenheit, sich in den freien Stunden die für ihren künftigen Beruf als Hausfrauen notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten anzueignen, anderseits eine weitverbreitete geschlechtliche Unsittlichkeit, welche ihre Gesundheit schädigt, uneheliche Geburten herbeiführt und das künftige Familienleben gefährdet. Befördert wird dieselbe nicht selten durch die Art ihrer Beschäftigung (unkontrollierter Verkehr mit männlichen Arbeitern), durch die Art ihrer Schlafstellen etc.

Doch wäre es verfehlt, nur gegen die arbeitende Klasse allein Vorwürfe zu erheben; auch die Arbeitgeber und besser situierten Gesellschaftsklassen lassen sich schwere Sünden zu schulden kommen, so, wenn erstere ihr Verhältnis zu ihren Arbeitern nur als ein rein juristisches Vertragsverhältnis und nicht zugleich als ein moralisches auffassen, wenn sie sich begnügen, ihre vertragsmäßigen Verpflichtungen zu erfüllen, ohne sich weiter um die soziale Lage ihrer Arbeiter zu bekümmern und an der Hebung ihrer Lage mitzuwirken. Der Mißstand wird viel größer, wenn die Unternehmer in rücksichtsloser Weise ihre Arbeiter nur als Produktionsmittel ausbeuten, dieselben geringschätzig behandeln und ihnen überdies durch eigne Unsittlichkeit und Unwirtschaftlichkeit ein schlechtes Beispiel geben. Die höhern Klassen sollten sich dessen bewußt sein, daß sie im eignen Interesse handeln, wenn sie auch für die untern Klassen besorgt sind, und daß ohne ihre Mitwirkung keine genügende Besserung in der Lage der letztern zu erzielen ist. Nur wenn jene Klassen von dieser Pflicht erfüllt handeln, kann die soziale Reform gelingen.

[939]
Die Heilmittel

lassen sich in zwei Kategorien scheiden: in Maßregeln, welche die Mitwirkung der öffentlichen Gewalt erfordern (obrigkeitliche Maßregeln), und in solche, welche ohne diese Mitwirkung durch die einzelnen anzuwenden sind (private Maßregeln).

1) Die obrigkeitlichen Maßregeln haben zunächst dahinzugehen, die thatsächlichen Verhältnisse der Arbeiter genau festzustellen (Zahl, Lohnhöhe, Familien-, Wohnungsverhältnisse etc.), eine Aufgabe, welcher bisher nur England genügt hat. Vgl. „Das Verfahren bei Enqueten über soziale Verhältnisse“, Band 13 der „Schriften des Vereins für Sozialpolitik“ (Leipz. 1877).

Der Forderung der Gerechtigkeit und Billigkeit entspricht die gesetzliche Anerkennung des Koalitionsrechts (Rechts der freien Vereinigung der Lohnarbeiter zur Besserung ihrer Lage)[WS 1], weil die Arbeiter nur durch Vereinigung mit andern dem großen Unternehmer gegenüber in die Stellung eines diesem gleichen Kontrahenten gelangen. Sie erfolgte in England teilweise 1824, voll 1859, in Frankreich in beschränkter Weise 1864, in Belgien 1864, Österreich 1870, in Deutschland in den meisten Staaten durch die Gewerbeordnung von 1869, in einzelnen schon zu Anfang der 60er Jahre. Allerdings dürfte die Vereins- und Agitationsfreiheit keine unbedingte sein, wie denn die Ausübung von Zwang gewöhnlich auch bei Koalitionsfreiheit bei Strafe verboten ist (vgl. Kontraktbruch). Von hoher Wichtigkeit ist die dem Staat obliegende Fürsorge für einen guten (obligatorischen) Unterricht in der Volksschule, welcher durch denjenigen der Fortbildungsschule (s. d.) zweckmäßig zu ergänzen ist. Dann bedarf die Arbeit der Kinder, jugendlicher Personen (14.–18. Lebensjahr) und Frauen (über 18 Jahre) der gesetzlichen Regelung und obrigkeitlicher Überwachung, da diese Personen nicht in der Lage sind, ungünstige Bedingungen der Arbeit zu verhüten.

Für Kinder ist das Verbot jeder regelmäßigen Erwerbsarbeit zu fordern und höchstens ausnahmsweise mit obrigkeitlicher Genehmigung die Beschäftigung dann zu gestatten, wenn die Konkurrenz- oder Familienverhältnisse eine vollständige oder unvermittelte Beseitigung der Kinderarbeit nicht zulassen. Jedenfalls sollte ein Minimalalter der Beschäftigung und eine Maximalarbeitszeit festgesetzt, Sonntags- und Nachtarbeit sowie jede gesundheitsschädliche Arbeit verboten werden. Alle industriellen Staaten außer Belgien haben Gesetze zum Schutz der Kinderarbeit, die meisten aber ungenügende. Ähnliche Beschränkungen sind für jugendliche Arbeiter zu fordern. Für weibliche Arbeiter sollten die gleichen Schutzbestimmungen (mit einzelnen Abänderungen) erlassen werden wie für jugendliche Arbeiter; aber weiter wären zu verbieten: die Bergwerksarbeit unter Tag und andre Arbeiten, welche die Moral dieser Personen gefährden, ferner schwangern Personen in der zweiten Hälfte ihrer Schwangerschaft gewisse ihnen schädliche Arbeiten; Wöchnerinnen sollten eine Zeit nach und möglichst auch noch vor der Entbindung nicht arbeiten dürfen, und Hausfrauen sollten mittags eine Pause von 11/2 Stunde und den Sonnabend-Nachmittag frei haben. Abgesehen von der Schweiz, läßt die Gesetzgebung aller Staaten auf diesem Gebiet noch viel zu wünschen übrig (vgl. Fabrikgesetzgebung).

Eine vollständig genügende Arbeiterschutzgesetzgebung kann erst durch internationale Regelung erzielt werden. Zu den berechtigtsten Forderungen der Arbeiterklasse gehört die Durchführung einer humanen Arbeitszeit und Arbeitsart auch für erwachsene Arbeiter. Sie zu verwirklichen, gibt es nur zwei Mittel: die Organisation der Arbeiter in Verbänden (Gewerkvereinen, s. d.) und die staatliche Intervention. Letztere ist an sich das einfachere und sicherere Mittel. Daß der Staat dazu, selbst zur Bestimmung einer Maximalarbeitszeit (sogen. Normalarbeitstag), das Recht hat, unterliegt keinem Zweifel. Ob er eingreifen soll, ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. Einen solchen Normalarbeitstag hat die Gesetzgebung in der Schweiz und in Österreich eingeführt, in andern Ländern, wie insbesondere in England, wurde durch die Bestimmungen über Arbeit von Kindern, Frauen und jugendlichen Personen mittelbar auch auf die Arbeitszeit von Männern eingewirkt. Dagegen sollten Nacht- und Sonntagsarbeit überall beseitigt werden, wo nicht die Technik den ununterbrochenen Betrieb erheischt. In der Schweiz nahm der Gesetzgeber an, daß Nacht- und Sonntagsarbeit unbeschadet der Konkurrenzkraft fortfallen könnte, und verbot sie unbedingt. Andre Staaten gingen nicht so weit. Allgemein aber sollte auch in diesen für die gestattete Nacht- und Sonntagsarbeit die Gesetzgebung den Schichtwechsel vorschreiben. Auf Verhinderung der gesundheitsschädlichen Arbeitsart können Arbeiterverbände naturgemäß in geringerm Grad einwirken. Hier ist Einschreiten des Staats teils auf gesetzlichem, teils auf dem Verwaltungsweg geboten; am weitesten gehen in dieser Beziehung England und die Schweiz (s. Fabrikgesetzgebung). Weiter sind zu fordern: Bestimmungen über Erlaß von Fabrikordnungen (s. d.); polizeiliche Überwachung der Arbeiterwohnungen und das Verbot der Benutzung schlechter, insbesondere gesundheitsschädlicher, Wohnungen (ein Arbeiterwohnungsgesetz, das wenigstens einem Teil der Übelstände begegnet, besteht allein in England, Gesetz vom 29. Jan. 1875); die Errichtung von Gewerbegerichten (s. d.); die staatliche Anerkennung von Einigungsämtern (s. d.); die gesetzliche Regelung des Hilfskassenwesens (s. Hilfskassen), der Haftpflicht (s. d.); das Verbot des Trucksystems (s. d.) und endlich die Errichtung besonderer obrigkeitlicher Organe (Fabrikinspektoren, Gewerberäte in Preußen) zur steten Kontrolle der thatsächlichen Arbeiterverhältnisse und zur Sicherung der guten Durchführung der Schutzgesetze (s. Fabrikinspektion).

2) Private Maßregeln können sich erstrecken auf Beschaffung gesunder und billiger Wohnungen (vgl. Arbeiterwohnungen), dann darauf, daß man den Arbeitern die Vorteile des Genossenschaftswesens (s. Genossenschaften) zugänglich macht, wobei möglichst zu sorgen ist, daß (bei Konsumvereinen) der Arbeiter auch Ersparnisse erzielen kann.

Eine Erhöhung des Einkommens der Arbeiter kann im allgemeinen nicht durch eine anderweitige Verteilung des bisherigen Ertrags der Unternehmungen erreicht werden, sondern nur durch Steigerung von Arbeitsfähigkeit und Arbeitsfleiß und durch eine Organisation der Lohnarbeiter (in Gewerkvereinen), welche bewirkt, daß der hierdurch entstehende Mehrwert der Arbeitsleistungen auch wirklich den Arbeitern zu teil werde. Als besondere Mittel, um Arbeitsfleiß und Arbeitserfolg zu erhöhen, sind zu erwähnen: die Einführung des Akkord- oder Stücklohns, wo diese Lohnzahlung anwendbar, statt des Zeitlohns und, wo der Zeitlohn die einzig mögliche Lohnart ist, die Gewährung von Prämien für Mehrleistungen über die Normalleistungen; ferner die nur in beschränktem Maß anwendbare, früher in ihrer Bedeutung [940] sehr überschätzte Beteiligung am Gewinn. Auch kann durch Gründung von Produktivgenossenschaften (s. Genossenschaften) das Einkommen bisheriger Lohnarbeiter erhöht werden, doch lassen leider die Schwierigkeiten, welche sich der Gründung und dem Betrieb derselben entgegenstellen, diese Unternehmungsform nur in einem eng begrenzten Maß anwendbar erscheinen. Eins der wichtigsten und für die friedliche Lösung der industriellen Arbeiterfrage unentbehrlichen Mittel sind die Gewerkvereine (s. d.) in der Organisation und mit den Zielen der englischen Trades’ Unions. Weitere wesentliche Heilmittel sind die Hilfs- und Versicherungskassen (Kranken-, Unfall-, Alters-, Witwen-, Waisen-, Begräbniskassen), die Arbeiterbildungsvereine, Sparkassen (insbesondere auch in der Form von Postsparkassen, Fabriksparkassen und Pfennigsparkassen), Einigungsämter etc. (s. die betreffenden Artikel).

Für industrielle Arbeiterinnen sind insbesondere von Frauen aus den besitzenden Klassen zu gründen und zu leiten: Vereine zur Pflege der kleinen Kinder, deren Mütter den Tag über außer dem Haus beschäftigt sind, in Kleinkinderbewahranstalten (Krippen, Kindergärten), Vereine zur Unterstützung von Wöchnerinnen und Vereine, welche unverheirateten Arbeiterinnen eine ordentliche Wohnung und Verpflegung vermitteln und ihnen in den freien Stunden Gelegenheit geben, sich in weiblichen Arbeiten und anderm, was eine tüchtige Arbeiterfrau wissen sollte, auszubilden.

Ein Hauptmittel für die Lösung ist aber auch noch die individuelle Einwirkung der Arbeitgeber auf ihre Arbeiter zur Besserung der Lage derselben. Gerade die Arbeitgeber vermögen, wenn sie in dem Bewußtsein ihrer sittlichen Pflichten energisch für das Wohl ihrer Arbeiter sorgen, dasselbe am meisten zu fördern. Der Haß und die Erbitterung von Arbeitern gegen Arbeitgeber, über welche so oft geklagt wird, wären sicher nicht vorhanden, wenn alle Arbeitgeber diese Pflichten erfüllten. Gute, humane, für das Wohl der ihnen anvertrauten Personen sorgende Menschen laden nicht auf sich den Haß und die Erbitterung derer, denen sie nur Gutes erwiesen. Vgl. Schönberg, Die gewerbliche Arbeiterfrage („Handbuch der politischen Ökonomie“, 2. Aufl., Tübing. 1885); weitere Litteratur s. Arbeiterfrage.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: die schließende Klammer fehlt