Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
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Band 1 (1885), Seite 750753
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Arbeiterfrage. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 750–753. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Arbeiterfrage (Version vom 03.06.2024)

[750] Arbeiterfrage. In der A. wird das Wort Arbeiter (welches sprachlich eine Person bedeutet, die ihre Kraft äußert, um einen Wert hervorzubringen) in einem engern Sinn gebraucht. Es bezeichnet hier nur Lohnarbeiter und von diesen auch nur einen Teil. Die A., eine Lohnarbeiterfrage, bezieht sich nur auf diejenigen Lohnarbeiter, welche als solche in gewerblichen und landwirtschaftlichen Unternehmungen ihren Erwerb suchen. Sie ist ein soziales Problem, doch nicht das einzige soziale Problem, das heute existiert. Man nennt sie ab er häufig die soziale Frage schlechthin, weil sie unter den vielen sozialen Fragen der Gegenwart weitaus die wichtigste und bedeutsamste ist.

Soziale Probleme sind Aufgaben für den Staat und die Gesellschaft zur Besserung ungenügender Zustände ganzer Gesellschaftsklassen, welche ebensolchen Umfang angenommen haben, daß zur Beseitigung der Mißstände die Kraft der Einzelnen (der Individuen, resp. der betreffenden Klasse) nicht mehr hinreicht, sondern dazu die Mitwirkung der Gesellschaft (Gesellschaftshilfe) und des Staats (Staatshilfe) notwendig ist. Ein soziales Problem entsteht erst dadurch, daß die thatsächlichen Zustände der Gesellschaft in Widerspruch geraten mit einem Gesellschaftsideal, mit einem Zustand, wie er nach der idealen und sittlichen Anschauung sein sollte, und daß man allgemein zu der Überzeugung gelangt ist, daß Staat und Gesellschaft die Möglichkeit und die Pflicht haben, diesen Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen dem, was sein sollte, und dem, was ist, zu heben. Soziale Probleme können deshalb doppelten Ursprungs sein. Sie können einerseits entstehen dadurch, daß die thatsächlichen Zustände sich gegen früher verschlechtert haben. Sie können aber auch anderseits entstehen, ohne daß eine solche Verschlechterung eingetreten, lediglich dadurch, daß ein Volk sich höhere Gesellschaftsideale stellt als früher. Unter dieser Voraussetzung können sie sich auch dann bilden, wenn die thatsächlichen Zustände bessere geworden sind. Die A. gehört zu den Problemen der letztern Art.

Die A. hat zu ihrem Gegenstand die Lage der vorerwähnten Lohnarbeiter in ökonomischer, moralischer und sozialer Hinsicht. Diese Lage zeigt zahlreiche Mißstände, die im Widerspruch stehen einerseits mit den Anforderungen, welche vom Standpunkt der Moral und Humanität an das Leben der Einzelnen gestellt werden, und mit den Rechten, welche der moderne Staat als Grundrechte der Persönlichkeit anerkennt, insbesondere mit dem Prinzip der persönlichen Freiheit und Gleichberechtigung, anderseits mit den kulturellen Aufgaben und Zielen des modernen Kulturstaats. Die A. ist die Frage der Lösung dieses Widerspruchs, der Beseitigung dieses Mißverhältnisses, mit andern Worten die Frage der Verwirklichung der Forderungen der Moral, der Humanität, der Gerechtigkeit, der Sittlichkeit für diesen großen Teil des Volks, den sogen. vierten Stand. Es handelt sich hier im einzelnen um eine Reihe positiver Anforderungen an die Ausbildung, den Arbeitsvertrag, die Art der Beschäftigung, die Arbeitszeit, die persönliche Stellung zum Arbeitgeber, an das Einkommen, [751] die Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse, das Familienleben, an die Sicherung und Versicherung gegen Unglücksfälle, an die moralische, religiöse, soziale und politische Existenz dieser Klassen. Die A. ist daher nicht nur eine Lohn- oder Einkommensfrage, sondern eine Frage viel allgemeinerer, viel komplizierterer Art, und sie ist auch nicht bloß eine ökonomische, sondern zugleich eine sittlich-religiöse und eine politische Frage. Die Besserung von Arbeiterzuständen ist auch schon vor dem 19. Jahrh. Gegenstand sozialer Probleme gewesen. Aber das, was man heute unter der A. begreift, wenn von ihr schlechthin die Rede ist, ist doch erst eine Erscheinung, ein Problem des 19. Jahrh. Für die richtige Würdigung dieser A. ist wesentlich, daß sie ihren besondern Entstehungsgrund und Inhalt hat einerseits in Übelständen, die erst im letzten Jahrhundert durch die gegen früher völlig veränderten rechtlichen und technischen Verhältnisse der Volkswirtschaft hervorgerufen wurden, anderseits darin, daß die heutigen Kulturstaaten und ihre Gesellschaft sich viel höhere Aufgaben für die Verbesserung des Loses der untern Volksklassen stellen, als es früher geschah, daß man diese Klassen auf eine viel höhere Stufe der Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung erheben will, als sie früher erstrebt wurde. Das Auftreten der A. in unserm Jahrhundert ist daher nicht ein Zeichen des Rückschritts, nicht ein Beweis dafür, daß die Lage der Lohnarbeiter gegen früher eine schlechtere geworden, sondern im Gegenteil ein Zeichen des Fortschritts, ein Beweis dafür, daß die Völker, bei denen die A. eine brennende Tagesfrage ist, bewußt eine höhere Kulturstufe erreichen wollen, daß ihr Rechtsbewußtsein, ihre humanen und sittlichen Anschauungen, ihre sittlichen Bestrebungen höhere geworden sind.

Die A. gehört zu den schwierigsten Problemen, die je Völker in der Geschichte sich gestellt haben. Es kann daher nicht wundernehmen, daß die Ansichten über das Maß des Berechtigten und Erreichbaren und über den Weg zu diesem Ziel weit auseinander gingen und gehen. Und in der That zahllos sind die Vorschläge zur Lösung der A., und die Litteratur, in der die widersprechendsten Ansichten entwickelt sind, füllt eine große Bibliothek. Im allgemeinen aber lassen sich in diesem Chaos drei Hauptrichtungen als besonders charakteristisch und als allein bedeutsam unterscheiden: zwei sich extrem gegenüberstehende, falsche und eine dritte, richtige, die allein mögliche Lösung anbahnende, in der Mitte zwischen beiden stehend. Das hauptsächlich unterscheidende Kriterium für die verschiedenen Richtungen ist weniger die Ansicht über das berechtigte und erreichbare Ziel als die Stellung des Staats zur Lösung der Frage, das Verhalten der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung zur Hebung der Mißstände. Diese Richtungen sind die individualistische (vulgo Manchesterrichtung), die sozialistische und die sozialreformatorische.

Die individualistische Richtung.

Die Vertreter dieser Richtung sind eifrige Verfechter der absoluten wirtschaftlichen Freiheit der Einzelnen, welche für die A. nur die logischen Konsequenzen aus den ökonomischen Grundanschauungen der Physiokraten und des Smithianismus zogen (s. Physiokratisches System, Manchesterpartei). Sie gehen von der Grundanschauung aus, daß der beste Zustand der Volkswirtschaft naturgesetzlich aus der vollen Freiheit des Einzelnen sich entwickele. Der Staat könne durch eine positive Mitwirkung an den Aufgaben der Volkswirtschaft nur schädlich wirken und jene naturgesetzliche Entwickelung hindern. Sie weisen daher dem Staat in der Volkswirtschaft nur die Aufgabe zu, die Freiheit der Person und das Eigentum zu schützen und dafür zu sorgen, daß der Einzelne in seiner freien wirtschaftlichen Bewegung, in der Verfolgung seiner wirtschaftlichen Interessen nicht gehemmt werde. Deshalb verwerfen sie auch für die A. jede weitere Staatshilfe, z. B. jede, auch die geringste Fabrikgesetzgebung, durch welche ein Fabrikant irgendwie in seiner Freiheit beschränkt würde, also jede gesetzliche Regelung der Arbeit der Kinder, der jugendlichen und weiblichen Arbeiter, jede Zwangsvorschrift im Interesse der Gesundheit der Arbeiter, bezüglich der Arbeiterversicherung etc. Im Grund erkennen sie gar keine A. als ein berechtigtes, selbständiges ökonomisches Problem an. Sie führen nämlich alle Übelstände in den Arbeiterkreisen in der Hauptsache zurück entweder auf die Schuld der Arbeiter selbst, oder auf die frühere falsche Politik der Unfreiheit, oder auf die noch nicht genügend durchgeführte, resp. in ihren Wirkungen noch nicht voll und ganz zur Geltung gekommene wirtschaftliche Freiheit, oder auch auf die mit ihren Forderungen im Widerspruch stehende Militär-, Steuer-, Schutzzoll- und Schulpolitik der modernen Staaten. Mißstände, die sich nicht auf diese Ursachen zurückführen und durch Beseitigung derselben heben ließen, könnten nach ihrer Lehre nur noch in geringem Lohn ihren Grund haben. Wo dieser bestehe, sei er aber nicht die Folge etwa einer mangelhaften Verteilung des Volkseinkommens oder unberechtigter Handlungen der Arbeitgeber, der deshalb zu seiner Erhöhung eine neue besondere restriktive Wirtschaftspolitik erheische, sondern sei er lediglich die Folge von Kapitalmangel der Unternehmer (Arbeitgeber) und daher durch eine Erhöhung des Kapitals derselben zu beseitigen. Sie stützen diese Ansicht auf die sogen. Lohnfondstheorie (s. Arbeitslohn), nach welcher das Kapital, aus dem der Lohn definitiv gezahlt werde, das Unternehmerkapital sei und daher (nach dem allgemeinen Preisgesetz), wenn dieses steige, die Nachfrage nach Arbeitern und folglich die Löhne der Arbeiter steigen würden. Diese Seite der A. sei also lediglich die Frage, wie man das Kapital der Unternehmer zu vermehren habe, mithin eine Kapitalfrage. Die Lösung dieser Frage erfordere aber keine besondere Politik. Dieselbe ergebe sich von selbst aus der naturgesetzlichen Entwickelung der Volkswirtschaft bei freier Konkurrenz. Denn bei dieser finde eine stete Kapitalvermehrung statt.

Diese Richtung des laissez faire und laissez passer wurde in England durch die sogen. Manchesterpartei vertreten, welche in der A. alle Bestrebungen, die auf eine Fabrikgesetzgebung und auf weitere staatliche Fürsorge für das Wohl der Arbeiter gerichtet waren, auf das entschiedenste bekämpfte. Die Anschauungen dieser Richtung fanden in Deutschland seit dem Ende der 50er Jahre Anhänger in größerer Zahl, welche sich unter der Führung von Prince-Smith, Julius Faucher, Otto Michaelis, H. B. Oppenheim, K. Braun u. a. als „deutsche Freihandelspartei“ organisierten und in den 60er Jahren auf die Wirtschaftspolitik einen entscheidenden Einfluß ausübten. Diese Partei hat ihre frühern radikal-individualistischen Anschauungen aber sehr modifiziert, und das eigentliche krasse Manchestertum hat heute in Deutschland nur noch vereinzelte Anhänger.

Die sozialistische Richtung.

Wir verstehen hier darunter nach dem wissenschaftlich üblichsten Sprachgebrauch von Sozialismus und [752] sozialistisch (s. Sozialismus) diejenige Richtung, welche, von dem Grundgedanken ausgehend, daß die wirtschaftliche Freiheit der Einzelnen bei der bisherigen individualistischen Produktionsweise nur zur Unterdrückung der Schwächern durch die Stärkern, zu einer ungerechten Verteilung der Güter, zu einer Ausbeutung der besitzlosen Lohnarbeiter durch die besitzenden Klassen führe, diese wirtschaftliche Freiheit der Einzelnen und die bisherige individualistische Produktionsweise beseitigen, dem Einzelnen die Verantwortlichkeit für seine Lage abnehmen und auf die Gesamtheit überwälzen und zu diesem Zweck den bisherigen Wirtschaftsorganismus und die bisherige Rechtsordnung radikal umgestalten will. (Nach wissenschaftlichem Sprachgebrauch trennen wir auch den Sozialismus vom Kommunismus [s. d.], der demnach nicht als besondere Richtung in der A. erwähnt wird, weil er praktisch ohne jede Bedeutung ist.) Die Anschauungen und Forderungen des Sozialismus in Bezug auf die neue, die sozialistische Rechts- und Wirtschaftsordnung haben sich erst allmählich im Lauf des Jahrhunderts klarer, schärfer und bestimmter herausgebildet (s. Sozialismus). Die wesentlichen und Hauptforderungen des heutigen Sozialismus sind: 1) die Umwandlung des privaten individuellen Eigentums an den sachlichen Produktionsmitteln (Grundstücken, Kapital) in öffentliches und Kollektiveigentum der Gesellschaft (Abschaffung des individuellen Grund- und Kapitaleigentums); 2) die Ersetzung der freien individualistischen Produktionsweise durch die sozialistisch-genossenschaftliche oder kollektivistische, so daß nicht mehr in den Unternehmungen sich gewinnsuchende Arbeitgeber und Lohnarbeiter, Kapital und Arbeit, gegenüberstehen und vertragsmäßig in den Ertrag der Unternehmung teilen, sondern in genossenschaftlichen Unternehmungen, in denen alle Arbeiter Mitunternehmer sind, produziert wird (Abschaffung der Lohnarbeit); 3) der Ertrag dieser Unternehmungen soll lediglich an die Arbeiter nach dem Prinzip der Gerechtigkeit verteilt werden, alles Einkommen also nur Arbeitsertrag sein (Abschaffung des Einkommens aus Vermögen; über das Prinzip der gerechten Verteilung gehen die Ansichten der Sozialisten noch wieder auseinander); 4) diese Umwandlung der bisherigen Produktionsweise in die sozialistische und die planmäßige Regelung der letztern soll durch den Staat geschehen. Die heutigen Sozialisten appellieren an den Staat; er soll nicht nur das private Grundeigentum und das Erbrecht an sachlichen Produktionsmitteln aufheben, sondern auch die Organisation der neuen Unternehmungen leiten und regeln.

Der Sozialismus zeigt wie in der Vergangenheit, so auch in der Gegenwart noch wieder verschiedene Richtungen. In Deutschland speziell lassen sich heute zwei unterscheiden, die sozialdemokratische, welche den sozialistischen Volksstaat durch die sozialdemokratische Republik erstrebt, und die autoritäre, monarchische (der sogen. Staatssozialismus), welche die Verwirklichung eines konservativen und monarchischen sozialistischen Staats durch das soziale Königtum empfiehlt (s. Sozialismus).

Die sozialreformatorische Richtung.

Die Richtung der sozialen Reform steht in der Mitte, aber nicht vermittelnd zwischen den extremen Richtungen. Sie ist die in der Wissenschaft herrschende und in der praktischen Politik der Kulturstaaten zur Geltung kommende Richtung. Sie macht gegen beide extreme Richtungen Front. Gegenüber dem Manchestertum erkennt sie die Notwendigkeit auch einer positiven Mitwirkung der Staatsgewalt und einer Einschränkung der individuellen Freiheit an, dem Sozialismus tritt sie entgegen, indem sie seine Organisation der Volkswirtschaft verwirft und an dem Prinzip festhält, daß der Einzelne grundsätzlich für seine Lage verantwortlich zu machen sei und der Staat nur dann ergänzend einzutreten habe, wenn der Einzelne oder die Gesellschaft sich nicht selbst helfen können. Sie hält positiv fest an der gewerblichen Freiheit und rechtlichen Gleichheit als Grundbedingungen für den allgemeinen Kulturfortschritt und für die größtmögliche Entfaltung aller Fähigkeiten der Einzelnen; aber sie erkennt an, daß diese Freiheit keine absolute sein kann, und daß sie selbst als beschränkte ohne weitere positive Maßnahmen des Staats Mißstände erzeugt, die geradezu eine Unfreiheit einzelner Volksklassen herbeiführen, die schwächern Elemente von der Teilnahme an den Kulturfortschritten ausschließen, ja an einem auch nur bescheidenen Kulturleben verhindern. Sie will daher auf dem Boden der bestehenden Eigentums- und Erwerbsordnung teils durch gesetzliche Normen, teils durch Maßregeln der Verwaltung, teils durch freiwillige Organisationen die sozial Schwächern gegen den Mißbrauch der Übermacht der Stärkern schützen und in den Stand setzen, vereint den Kampf der wirtschaftlichen Interessen mit den Stärkern aufzunehmen und zu bestehen. Sie will auf diese Weise einen Wirtschaftszustand schaffen, in welchem jede Klasse durch eigne Kraft zu einem Kulturleben ihrer Mitglieder und zur Teilnahme an dem allgemeinen Kulturfortschritt gelangen, jeder auf der Stufenleiter der wirtschaftlichen und sozialen Klassenordnung von niedern zu höhern Sprossen emporklimmen kann und, soweit noch soziale Mißstände bei den untern Klassen sich finden, diese die Schuld der unter ihnen leidenden Personen sind und von denselben durch eigne Kraft beseitigt werden können. Über die Reform im einzelnen im Sinn dieser Richtung s. die Art. Landwirtschaftliche Arbeiterfrage und Industrielle Arbeiterfrage.

In dieser Richtung lassen sich noch wieder mannigfache Schattierungen und Parteien unterscheiden. Die Unterschiede in den Anschauungen und praktischen Forderungen treten im allgemeinen in zwei Punkten der sozialen Reform hervor: in dem Grad und der Art der positiven Mitwirkung des Staats und in dem Grad und der Art der Mitwirkung der Kirche an der Lösung der A. In jener Beziehung wollen die einen eine stärkere, die andern eine geringere Mitwirkung der Staatsgewalt. Die letztern, Mitglieder der liberalen politischen Parteien, stellen sich namentlich für die notwendigen sozialen Organisationen auf den Boden des Voluntarismus, der Freiwilligkeit, verweisen die Arbeiter mehr auf die Selbst- und Gesellschaftshilfe und wollen polizeiliche Zwangsmaßregeln möglichst vermeiden. Die andern, den konservativen politischen Parteien angehörend, legen dem Voluntarismus, der Selbst- und Gesellschaftshilfe, eine geringere Bedeutung bei, erachten deshalb eine Verstärkung derselben durch die Staatshilfe und staatlich-soziale Organisationen für geboten, ebenso polizeiliche und andre Zwangsmaßregeln. Nach diesem Unterscheidungsmerkmal aber gibt es nicht bloß zwei, sondern eine ganze Reihe verschiedener Schattierungen; in Deutschland weicht fast jede der hierher zu rechnenden politischen Parteien von der Fortschrittspartei bis zu den Deutschkonservativen in dem Grad und der Art der Staatshilfe, die sie für notwendig, resp. zweckmäßig erachten, von der andern ab. Bezüglich der kirchlichen Mitwirkung betonen die einen den hervorragend christlichen [753] und kirchlichen Charakter der A., sie fordern deshalb eine sehr weitgehende Beteiligung auch der Kirche an ihrer Lösung und verteidigen auch konfessionelle Arbeiterverbindungen; andre geben zwar den religiösen Charakter der A. zu, sehen aber doch die Frage nicht als eine konfessionell-kirchliche an, erachten die Mitwirkung der Kirche als solcher nur in geringerm Grad geboten und verwerfen konfessionelle Verbände; noch andre sehen in der A. gar keine kirchliche, sondern lediglich eine allgemein moralische Frage. Es sind in Deutschland vorzugsweise die orthodoxen Katholiken und Protestanten, welche den christlichen und kirchlichen Charakter der A. betonen, die erstern dem Programm des verstorbenen Bischofs v. Ketteler, der zuerst diese Stellung der Katholiken, resp. der katholischen Kirche zur A. präzisierte, folgend, die andern unter der Führung des preußischen Hofpredigers Stöcker. Während in jenem Punkte die Orthodoxen beider Konfessionen übereinstimmen, unterscheiden sie sich in einem andern wesentlichen Punkte: die Katholiken stellen sich, entsprechend dem Programm Kettelers, auf den Boden des Voluntarismus und unterscheiden sich in dieser Hinsicht nur dadurch von den liberalen Reformfreunden, daß diese mehr auf Gesichtspunkte des eignen Interesses der Arbeiter und der Humanität, sie mehr auf christlich-religiöse Gesichtspunkte sich stützen. Das Zentrum im Reichstag steht auch auf diesem Standpunkt, daher seine ablehnende Haltung gegen staatlich-soziale Organisationen. Stöcker dagegen und die von ihm 1878 gegründete und geleitete christlich-soziale Arbeiterpartei (1882 etwa 3–4000 Mitglieder, darunter aber nur wenige Arbeiter) fordern eine sehr weitgehende Staatshilfe; ja, das Programm derselben zeigt schon eine stark sozialistische Färbung, und es kann zweifelhaft sein, ob diese Partei nicht schon den Vertretern des Staatssozialismus zuzuzählen ist.

Die A. ist materiell ein nach Lohnklassen verschiedenes Problem. Man kann in dieser Hinsicht insbesondere drei Gruppen von Lohnarbeitern und danach auch drei verschiedene Arbeiterfragen unterscheiden: 1) Die landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, die landwirtschaftliche A. Eine solche A. existiert in Deutschland wesentlich nur für die Lohnarbeiter auf großen Gütern und in Gegenden, wo diese weitaus überwiegen (s. über diese Frage den Art. Landwirtschaftliche Arbeiterfrage). 2) Die Lohnarbeiter im Kleingewerbe, die Handwerksgesellen. Die Verhältnisse dieser Arbeiterklasse sind nur in einem geringen Grad Anlaß und Gegenstand eines sozialen Problems; die Gesellenfrage tritt an Inhalt und Bedeutung weit hinter die beiden andern zurück (s. darüber den Art. Gesellen). 3) Die Lohnarbeiter in großen gewerblichen, insbesondere industriellen, Unternehmungen, die sogen. industrielle A. Sie umfaßt die eigentlichen Fabrikarbeiter, die hausindustriellen Arbeiter, die Lohnarbeiter in größern Handwerksunternehmungen, in Berg- und Hüttenwerken und Salinen (weiteres darüber im Art. Industrielle Arbeiterfrage). Die industrielle A. und die Gesellenfrage werden auch zusammen als gewerbliche A. bezeichnet.

Litteratur. Über die A. im allgemeinen: H. v. Scheel, Die Theorie der sozialen Frage (Jena 1871); Adolf Wagner, Rede über die soziale Frage etc. (Berl. 1872); G. Schönberg, Arbeitsämter (das. 1871); Derselbe, Die sittlich-religiöse Bedeutung der sozialen Frage (2. Aufl., Stuttg. 1876); Becher, Die A. etc. (Wien 1868); Böhmert, Der Sozialismus und die A. (Zür. 1872); M. Wirth, Beiträge zur sozialen Frage (Bd. 4 seiner „Grundzüge der Nationalökonomie“, Köln 1873); Bamberger, Die A. (Stuttg. 1873); A. F. Lange, Die A. (4. Aufl., Winterth. 1879); v. Ketteler, Die A. und das Christentum (Mainz 1864); G. Ratzinger, Die Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen (Freib. i. Br. 1881); Schäffle, Sozialismus und Kommunismus (Tübing. 1870); Brentano, Die gewerbliche A. (in Schönbergs „Handbuch der politischen Ökonomie“, Bd. 1, S. 905 ff., das. 1882; dort auch weitere Litteratur); Derselbe, Das Arbeitsverhältnis gemäß dem heutigen Recht (Leipz. 1877); G. Schmoller, Die soziale Frage und der preußische Staat („Preußische Jahrbücher“, Bd. 23, Berl. 1874); R. Meyer, Der Emanzipationskampf des vierten Standes (das. 1874–75, 2 Bde.); Hitze, Die soziale Frage etc. (Paderb. 1877); Derselbe, Kapital und Arbeit etc. (das. 1881). – Über die verschiedenen Richtungen in der A.: v. Scheel, Unsre sozialpolitischen Parteien (Leipz. 1878); Brentano in Schönbergs „Handbuch der politischen Ökonomie“, Bd. 1, S. 929 ff.; dort auch weitere Litteratur. Speziell über die individualistische Richtung: G. Schönberg, Die deutsche Freihandelspartei etc. („Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“, Bd. 29, Tübing. 1873); G. Schmoller, über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirtschaft (Jena 1875); H. v. Treitschke, Der Sozialismus und seine Gönner (Berl. 1875); H. B. Oppenheim, Der Kathedersozialismus (das. 1872); Adolf Wagner, Offener Brief an Herrn H. B. Oppenheim (das. 1872); Stöcker, Christlich-sozial (Bielef. u. Leipz. 1885). Über die sozialistische Richtung s. Sozialismus.