Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Finnen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 6 (1887), Seite 275277
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Finnen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 6, Seite 275–277. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Finnen (Version vom 19.09.2022)

[275] Finnen, ein Zweig der mongolischen Rasse und zwar zum uralaltaischen Volksstamm derselben gehörig, welcher vor dem Einrücken der indoeuropäischen Völker den Norden und Nordosten Europas innehatte, wo er zum Teil noch jetzt wohnt. Seine geographische Ausbreitung war vorzeiten eine weit bedeutendere, wenngleich keinerlei Beweise dafür vorhanden sind, daß er sich jemals, wie tendenziös der Franzose de Quatrefages will, über ganz Deutschland erstreckt hätte. Zu welchen Zeiten die F. von ihren Verwandten in Asien (Samojeden, Ostjaken, Sojoten etc.) sich losgerissen haben und in Nordeuropa eingewandert sind, ist schwer zu bestimmen. Jedoch muß dieses geraume Zeit vor Beginn unsrer Zeitrechnung geschehen sein, da Ptolemäos und Tacitus sie unter dem Namen Fenni und Phinni ungefähr in ihren heutigen Wohnsitzen gekannt haben. Man teilt den finnischen Stamm in folgende vier Familien: 1) die ugrische (ugrische Ostjaken, Wogulen, Magyaren); 2) die wolga-bulgarische (Tscheremissen und Mordwinen; auch die Tschuwaschen der Abstammung nach, deren Sprache und Sitten aber tatarisch sind); 3) die permische (Permier, Syrjänen und Wotjaken; 4) die finnische im engern Sinn (europäische F., Esthen, Liven, die 1846 in Kurland erloschenen Krewinen, die Lappen und wahrscheinlich auch der Abstammung nach die Meschtscherjäken und Teptjären). Die meisten der hierher gehörigen Völker, ursprünglich sämtlich Nomaden oder Jäger und Fischer, sind schon seit grauer Vorzeit durch den Einfluß zivilisierter Völker über den Naturzustand hinausgekommen und haben sich als Viehzüchter und Ackerbauer an ein ansässiges Leben gewöhnt. Nur die Ostjaken und Lappen sind durch die Natur des von ihnen bewohnten Landes gezwungen, das Renntiernomadenleben fortzuführen und sich nebenbei vom Fischfang zu ernähren. Ein [276] Vorzug dieses Stammes vor seinen Verwandten ist es, daß einzelne Völker desselben das Christentum und mit ihm auch die Zivilisation des Abendlandes angenommen haben. Zwei von den hierher gehörigen Völkern sind auch in der Geschichte handelnd aufgetreten, und es ist ihnen dabei gelungen, selbständige Staaten zu bilden: die Magyaren und Bulgaren. Jedoch hat man unter den Bulgaren, wie sie in der Geschichte des Mittelalters auftreten, nicht allein finnische oder tschudische Völker zu verstehen, sondern auch manche tatarische Stämme. Während aber die Bulgaren ihre Sprache und Nationalität eingebüßt und diejenige ihrer Unterworfenen, der südlichen Slawen, angenommen haben, ist es den Magyaren gelungen, beide zu behaupten. Die F. haben so lange mit andern Rassen in Berührung gelebt, daß auch sie oft einen sehr gemischten Charakter zeigen. Während der Völkerwanderung vermischten sich türkische Völker mit ihnen sowohl an der Ost- als an der Westseite des Urals; andre F., schon früher in Europa wohnhaft, erfuhren germanische und slawische Einwirkung; endlich beteiligten sich an dieser Vermischung noch nordsibirische Völker. Von Körper sind die F. meist stark; die Statur ist aber klein, ihr Kopf fast rund, die Stirn wenig entwickelt, niedrig und gebogen, das Gesicht platt; die Backenknochen sind vorstehend, wie bei den übrigen Mongolen, die Augen meist grau und schräg gestellt, so daß der äußere Winkel hinaufgeht; die Nase ist kurz und flach, der Mund hervortretend; die Lippen sind dick, der Nacken ist sehr stark, so daß der Hinterkopf flach erscheint und fast eine gerade Linie mit dem Genick bildet; der Bart ist schwach und zerstreut, das Haar ist aber nicht bloß schwarz, sondern auch braun, rot und blond, die Gesichtsfarbe bräunlich. Mit Ehrlichkeit und Gastfreiheit, Treue und Beharrlichkeit nebst einem empfindlichen Sinn für persönliche Freiheit und Unabhängigkeit verbinden sie Starrsinn, Rachsucht und Unbarmherzigkeit.

Bei aller geographischen Verschiedenheit der Wohnsitze dieser Völker finnischen Stammes und ungeachtet der vielen wesentlichen Abweichungen in den Sprachen derselben tragen doch alle zur finnisch-ugrischen Gruppe gehörigen Idiome einen gemeinsamen Grundcharakter. Alle zeichnen sich rücksichtlich der Laute durch eine gewisse Weichheit aus, welche die Häufung von Konsonanten vermeidet, sowie durch ihren Reichtum an Mitteltönen und Diphthongen. Eine besondere Eigentümlichkeit derselben ist ferner die Einteilung der Vokale in zwei Klassen, weiche und harte, und die darauf gegründete sogen. Vokalharmonie. Der Vokal der Stammsilbe eines Wortes übt nämlich auf die Vokale der Nebensilben desselben insofern Einfluß aus, als die letztern der Klasse des erstern angehören müssen. In allen finnischen Sprachen fehlt beim Substantivum der Artikel (nur in der magyarischen Sprache kommt ein unverkennbar aus dem Demonstrativum entstandener vor) sowie die grammatische Unterscheidung des Genus. Der Numerus des Substantivums ist zweifach, Singular und Plural (der letztere wird fast in allen diesen Sprachen durch die Endung t [k] bezeichnet); ein Dualis kommt nur im Lappischen vor und zwar beim Pronomen und Verbum. Die Zahl der Kasus steigt in manchen finnischen Sprachen bis auf 14, wodurch die Deklination eine große Mannigfaltigkeit erhält. Doch bezeichnen die meisten dieser sogen. Kasus nichts als Präpositionalverhältnisse, wofür andre Sprachen sich eben der Präposition selbst bedienen, die hier meistenteils nur als Suffixum dem Hauptwort angehängt wird und mit demselben in ein Wort verschmilzt. Dieselbe Deklination wie das Substantivum hat auch das Adjektivum; nur wenn es mit einem Hauptwort verbunden ist, wird es in den meisten finnischen Sprachen nicht flektiert. Die zueignenden Fürwörter werden ihrem Substantivum als Suffixe angehängt, und daneben kommt häufig noch der Genitiv des persönlichen Pronomens vor. Bei der Konjugation des Verbums werden drei Personen in zwei Zahlen unterschieden, deren Entstehung aus dem persönlichen Pronomen unverkennbar ist. Das Verbum ist reicher in der Bildung der Modus- als Tempusformen und entbehrt namentlich fast durchgängig einer besondern Form für das Futurum, wogegen besondere Formen für das Passivum, Medium, Kausativum u. andre Modifikationen des Verbalbegriffs, selbst für das Negativum (mit Ausnahme des Magyarischen), vorhanden sind.

F. im engern Sinn oder Tschuden sind die am nördlichen und östlichen Gestade des Baltischen Meers verbreiteten Stämme. Sich selbst nennen sie Suomalaiset, ihr Land Suomi, was nach einigen als Sumpfvolk und Sumpfland zu deuten ist; den europäischen Namen F. haben sie von den deutschen Nachbarn erhalten, und dieser hängt mit Fenn (Torfmoor) zusammen. Diese baltischen F. haben sich vielfach mit Germanen und Slawen vermischt und von ihnen eine Anzahl Wörter für Kulturwerkzeuge und mit den Wörtern auch die Gegenstände selbst entlehnt. Daraus läßt sich (nach Ahlquist) ein Bild von ihren Zuständen vor Empfang jener Hilfsmittel entwerfen. Als Haustiere züchteten sie nur den Hund, das Roß und das Rind; von Getreidearten bauten sie nur Gerste. Im Sommer lebten sie in Lederzelten, im Winter in halb unterirdischen Jurten, wie alle Polarvölker der Alten Welt. Demnach können die heutigen Ostjaken und Wogulen uns noch jetzt ein Gemälde liefern, wie die Zustände ihrer westlichen Geschwister, der baltischen F., in der Vorzeit beschaffen waren. Wohnsitze und Anzahl der F. im engern Sinn und der zu ihnen gehörigen Karelier, Tschuden und Liven sowie der Esthen und Quänen s. in diesen Artikeln und im Art. „Rußland“. Die baltischen F. schildert Hjelt als rechtschaffen, treu, beharrlich, gastfrei, genügsam, sehr empfindlich für persönliche Freiheit und Unabhängigkeit, dabei aber auch als eigensinnig, langsam, träge, unbesorgt und rachsüchtig. Mit dem Fremden wird der Finne, so gastfreundlich er ihn aufnimmt, nicht leicht vertraut; auch ist er ein Feind aller Neuerungen, und jemand durch Schmeichelei für sich zu gewinnen, wie es die russischen Bauern zu thun pflegen, ist dem Finnen zuwider. Im Zustand der Gereiztheit ist er auffahrend und rachsüchtig. Der Bauer ist arbeitsam und begnügt sich mit schlechter Kost. Die Sitten sind noch ziemlich rein, namentlich ist Achtung vor fremdem Eigentum ein Hauptzug in dem finnischen Nationalcharakter. Als Schattenseiten desselben sind Trunksucht und Trägheit zu bezeichnen. An mechanischen Geschicklichkeiten fehlt es den F. nicht. Den Nordfinnen wirft man Schlauheit vor, und sie waren früher von den Südfinnen als große Hexenmeister (im Mittelalter war der Name Finne gleichbedeutend mit Zauberer) betrachtet und gefürchtet. Die Wohnungen der F., „Pörten“ (pirtti) genannt, boten sonst einen abschreckenden Anblick dar; jetzt findet man in den meisten Gegenden bessere Wohnungen mit reinlichen Zimmern. Das Baden ist eine Nationalsitte der F., und fast jeder Bauer hat neben seinem Haus eine besondere Badestube. Tracht und Sitten haben manches Besondere und Altnationale, z. B. die Hochzeitsgebräuche. Die christlichen Feste werden zum Teil [277] mit großem Jubel und lustigen Spielen und Aufzügen gefeiert, Weihnachten besonders mit Wohlleben. Allerheiligen ist zugleich das Erntefest, welches mit lustigen Liedern und abergläubischen Zeremonien begangen wird. Die F. besitzen eine reiche und schöne alte Volkspoesie (s. Finnische Sprache und Litteratur), wie denn das Volk, besonders im Innern von Finnland, noch heute viel Neigung zur Naturdichtung zeigt. Die finnischen Bauern führen zum Teil Familiennamen, zum Teil hängen sie, wie die schwedischen Bauern, dem Vornamen das Wort poika („Sohn“) an (z. B. Juhanpoika); auch nennen sie sich nach dem Namen des Hofes, den sie gerade bewohnen. Die eigentlichen F. bekennen sich zur lutherischen Konfession, eine verhältnismäßig sehr geringe Zahl ist für die griechisch-russische Lehre gewonnen (vgl. Finnland). Sie leben von Ackerbau, Viehzucht, Fischerei etc.