Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Esthen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 5 (1886), Seite 868870
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Esthen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 5, Seite 868–870. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Esthen (Version vom 23.09.2022)

[868] Esthen (Ehsten, Esten), Volksstamm im europäischen Rußland, der zur finnischen Völkerfamilie und zur mongolischen Rasse gehört und als Urbevölkerung das eigentliche Esthland (s. d.), die Insel Ösel und den ganzen benachbarten Archipel: die Inseln Mohn (Moon), Dagö, Worms, Nuckö, Nargen, Wrangelsholm u. m. a., sowie die nördliche Hälfte von Livland und kleinere Teile der Gouvernements Pskow, St. Petersburg und Witebsk bewohnt. Der ganze Umfang ihres Ländergebiets mag ungefähr 38,500 qkm (700 QM.) betragen, und ihre Zahl beläuft sich auf 750,000 Individuen, wovon 290,000 im eigentlichen Esthland, über 440,000 in den esthnischen Kreisen Livlands, 1100 im Gouvernement Witebsk, 5500 im Gouvernement Pskow und 4900 im Gouvernement St. Petersburg wohnen. Sie trieben von jeher mehr Ackerbau als irgend ein andrer ihrer bloß jagenden und fischenden Bruderstämme, gehörten aber auch zu den berüchtigtsten Seeräubern der Ostsee, bis die Dänen und später die Deutschen sie unterjochten und für mehrere Jahrhunderte ausschließlich auf die Beschäftigungen des Ackerbaues, der Viehzucht, des Fischfanges und einer wenig entwickelten bäuerlichen Hausindustrie verwiesen. Sie wurden durch freiwilligen Beschluß der deutschen liv- und esthländischen Ritterschaft 1816 und 1819 von der Leibeigenschaft, in den letzten Jahrzehnten allmählich auch vom Frondienst und von der Bevormundung durch die Gutsherren befreit und sind in jüngster Zeit bei immer zunehmendem Wohlstand vielfach in den Besitz selbständiger Höfe und selbst Rittergüter gelangt. Von den Russen werden die E. Tschuchni oder Tchuchonzi („Fremdlinge“), von den Letten, ihren südlichen Nachbarn, Iggauni („Vertriebene“, mit Anspielung darauf, daß die E. von den Letten weiter nach N. hinaufgedrängt wurden), von den Finnländern Wirolaiset („Grenzländer“) genannt. Sie selbst nennen sich Tallopoëg („Sohn der Erde“) oder auch Maamees („Mann des Landes“). Während einer 600jährigen Sklaverei hat das Volk der E. ungeachtet der endlich überall durchgedrungenen Lehre des Christentums und der steten Berührung mit den Deutschen dennoch im großen und ganzen seine ursprüngliche Nationalität, Körperbildung, Sprache, Gesinnung, Tracht, Wohnung, Lebensweise und seine Sitten reiner und unveränderter bewahrt als irgend eine andre europäische Völkerschaft, und während die Unterjochung der Letten den Deutschen im ganzen nicht schwer wurde, dauerten die Kämpfe mit den E. ungemein lange und waren sehr blutig. Noch gegenwärtig ist das Mißtrauen der E. gegen die Deutschen, ihre einstmaligen Unterdrücker, nicht völlig geschwunden, wiewohl die deutsche Ritterschaft schon seit geraumer Zeit und nicht ohne sichtlichen Erfolg durch verbesserte Seelsorge, Stiftung von Schulen und andern Instituten, wie z. B. der Bauernrentenbank, auf ein weit besseres Einvernehmen zwischen der Landbevölkerung und den „Herren“ (saksad, d. h. Sachsen) hingewirkt hat. Das Wesen der E. war von jeher überhaupt rauh, schroff und eckig und zeichnete sich durch Falschheit, Trägheit und Gleichgültigkeit gegen jede Verbesserung ihres Zustandes aus. Daß diese Fehler jedoch nur Produkte der traurigen äußern Verhältnisse sind, ursprünglich dagegen dem Esthen eine edlere Natur innewohnt, davon zeugt das Sinnige, das sich bei ihm in seiner Betrachtungsweise der Natur kundgibt, das tiefe Gefühl, das sich bei der Behandlung von Kindern, schwächern und ältlichen Personen offenbart, die richtige Beurteilung des Schicklichen und endlich die Innigkeit, mit welcher religiöse und moralische Begriffe aufgefaßt werden. Merkwürdig ist ihre entschiedene Neigung zu kleinen Diebereien, während [869] Einbrüche, größere Beraubungen etc. selten vorkommen. In geschlechtlicher Beziehung haben sie ziemlich lockere Begriffe, doch kommt Ehebruch äußerst selten vor. Letztern nennen sie „tulli tö“, d. h. eine That, die des Feuers wert ist; in der That wurde der Ehebrecher nach einem alten esthnischen Gesetz verbrannt. Der Wuchs der E. ist weder schön noch kräftig, nur die Strandbewohner machen eine Ausnahme; die im Innern des Landes aber sind um so kleiner, je härtere Sklaverei ihre Vorfahren erlitten, und je magerer die Scholle ist, die sie nährt. Kopf und Gesicht sind klein, breit und von gedrückter Form. Überhaupt lassen sich die mongolischen Gesichtszüge nicht verkennen: weder die eng geschlitzten Augen noch die breiten Backen und der kleine Mund. Das meist schlichte, blonde oder braune Haar hängt ungeschoren herab. Dichte Augenbrauen beschatten das tief liegende graue Auge, dessen gutmütiger Blick oft mit den mißmutigen Gesichtszügen kontrastiert. Bei geringer Schulterbreite sind die Arme lang, die Hände dagegen breit mit kurzen Fingern. Das breite Becken ist von hinten her abgeflacht und wird von kurzen Beinen und kleinen Füßen gestützt, daher die Haltung nachlässig, der Gang schleppend ist.

Die esthnische Sprache gehört ihrem Grundstock nach der finnisch-ugrischen Gruppe der großen „ural-altaischen Sprachenfamilie“ (s. d.) an und zeichnet sich vor der finnischen durch größere Kürze und Gedrungenheit aus. Wie der ganze Stamm des esthnischen Volkes sich in drei Hauptäste teilt, so zerfällt auch die Sprache in drei Hauptdialekte, die man nach den vorzüglichsten Städten in den Kreisen, in welchen sie gesprochen werden, den dörptischen, revalischen (der für den reinsten gilt) und pernauischen genannt hat. Die Hauptmasse des Volkes ist durchweg national-esthnisch und versteht kaum ein Wort Deutsch. Auch in allen bisher zur Bildung der Bauern errichteten Schulen wird der Unterricht in der Sprache des Volkes erteilt. Sobald jemand unter den E. sich eine höhere Bildung aneignet, tritt er zur deutschen oder (in vereinzelten Fällen) zur russischen Nationalität über. Zur Pflege der Volkssprache besteht seit 1873 eine Litterarische Gesellschaft, deren Veröffentlichungen besonders für die reifere Jugend bestimmt sind und sich über alle Lehrfächer erstrecken. Vgl. Rosenplänter, Beiträge zur genauern Kenntnis der esthnischen Sprache (Pernau 1813–32, 20 Hefte); Wiedemann, Esthnisch-deutsches Wörterbuch (Petersb. 1865); Derselbe, Esthnische Grammatik (das. 1875); Weske, Untersuchungen zur vergleichenden Grammatik des finnischen Sprachstammes (Leipz. 1873); Fählmann, Versuch, die esthnischen Verba in Konjugationen zu ordnen (Dorpat 1842); Derselbe, Über die Deklination der esthnischen Nomina (das. 1844). – Der Hang zur Poesie ist bei den E. ungemein stark. Wie die Letten, improvisieren sie bei allen ihren Zusammenkünften Verse und Gedichte, die in einer melancholischen Tonart (immer nur fünf Töne umfassend) gesungen werden. Sie singen und dichten (und zwar vorzugsweise die Frauen) bei allen ihren Arbeiten, im Wald, auf dem Feld, zu Haus, in den Spinnstuben, in den Riegen (Scheunen) etc. Nachdem das große Nationalepos der Finnen, die Kalewala (s. d.), erschienen war und die höchste Beachtung der europäischen Gelehrten hervorgerufen hatte, sann man auch in Esthland darauf, die Überbleibsel des dortigen Volksgesanges zu sammeln, die dem Stoff und Charakter nach mit der „Kalewala“ eine unverkennbare Verwandtschaft zeigen, und nach vieljähriger Arbeit ist durch eine Reihe eifriger Kenner (Mitglieder der 1838 gegründeten, noch heute bestehenden „Gelehrten Esthnischen Gesellschaft“), die alle alten Überreste der Volkspoesie sorgfältig aufspürten, das Vernommene aufschrieben und später kombinierten, sonderten und ergänzten, ein Pendant zu dem finnischen Epos hergestellt worden. Es führt den Namen „Kalewi Poëg“ („Sohn Kalews“) und enthält 20 Gesänge mit im ganzen 19,087 Versen, welche sämtlich aus vierfüßigen Trochäen bestehen, in denen statt des Reims die Assonanz und Allitteration vorherrschen. Der Herausgeber dieser interessanten Dichtung (Dorp. 1857) ist Fr. Kreutzwald in Werro; eine Übersetzung besorgten K. Reinthal und Bertram (das. 1861). Vgl. Schott, Die Sagen vom Kalewi Poeg (Berl. 1863). Andre Sammlungen veröffentlichten H. Neuß („Esthnische Volkslieder, Urschrift und Übersetzung“, Reval 1850–52, 3 Tle.) und Kreutzwald und Neuß („Lieder der E.“, Petersb. 1854). Esthnische Sagen und Märchen gab gleichfalls Kreutzwald heraus (1866; deutsch von F. Löwe, Halle 1869). Als eine vorzügliche Dichterin in esthnischer Sprache aus neuester Zeit wird Lydia Jannsen genannt.

Hinsichtlich der Religion gehören die E. mit Ausnahme von 48,000 seit 1846 zur griechischen Kirche übergetretenen der lutherischen Kirche an, deutsche Prediger halten den esthnischen Gottesdienst. Der Aberglaube, die Hexenkünste, das Gespensterwesen etc. spielen bei den E. eine große Rolle. Der Johannistag ist ein Freudenfest. Bei den Taufen, Hochzeiten und Leichen haben sie eigentümliche Gebräuche, die zum Teil noch aus der Heidenzeit stammen. (Vgl. Böcler und Kreutzwald, Der E. abergläubische Gebräuche, Petersb. 1854.) Über ihre Mythologie vgl. Schwencks Werk „Mythologie der Slawen, Finnen etc.“ (2. Ausg., Frankf. a. M. 1855) und besonders Kreutzwald und Neuß in den „Liedern der E.“ (s. oben), wo sich über die Magie und Mythologie der alten E. eingehende Erörterungen finden. Auch die Schriften über finnische Mythologie enthalten vieles hierher Gehörige, z. B. die von Jarander, Renvall, Castrén („Vorlesungen über finnische Mythologie“, deutsch von Schiefner, Petersb. 1853) und Schiefner, und haben jedenfalls das Verdienst, die erste Anregung zu Forschungen über die Mythologie der E. gegeben zu haben.

Die Tracht der E. ist sich ziemlich gleich. Die meisten gehen in langen, schwarzen Röcken (ohne Kragen, Aufschläge etc.) von einem Zeug, das sie Wattmann (Vadmel) nennen. Darunter tragen sie ein Wams von blauem Tuch, kurze lederne oder leinene Hosen, wollene Strümpfe und statt der Stiefel eine Art Schuhe, Pasteln genannt, die, aus ungegerbter Kuhhaut gefertigt, mit einer Schnur um den Fuß zusammengezogen werden, im Sommer einen runden Hut, im Winter eine Fuchspelzmütze und einen Schafpelz ohne Überzug. Die Weiber tragen faltige, bunt gestreifte wollene Unterröcke und einen eng anschließenden schwarzen Oberrock, die verheirateten eine eng anschließende Mütze, Haube etc., die Mädchen des revalschen Kreises und auf den Inseln dagegen ein breites Kopfband, Perg genannt. In neuerer Zeit jedoch beginnt die Nationaltracht mehr und mehr zu schwinden und einer städtischen Platz zu machen. Wie die Kleidung, so sind auch die Wohnhäuser im Esthenland im allgemeinen sich ähnlich, meist plump und roh und ohne Schornsteine, indem die Schlafkammern von den Riegen aus geheizt werden, wo der Rauch zum Dörren des Korns von dem Ofen und Herd frei durchstreicht und durch die offen stehende Thür hinausgeht. Doch kommen neuerdings die steinernen Schornsteine mehr und mehr in Gebrauch, [870] und es werden dann die Riegen öfters abgesondert von den Wohnhäusern gebaut. Auch bei den Wagen, die oft klein und niedrig sind, findet man jetzt einen Fortschritt, insofern die noch vor einigen Jahrzehnten im ausschließlichen Gebrauch befindlichen ganz hölzernen, der Nägel und des Eisenbeschlags entbehrenden Wagen heutzutage zu den vereinsamten Überbleibseln der Vergangenheit gehören. Beim Ackerbau ist das Dreifeldersystem vorherrschend, doch auch das Mehrfeldersystem nicht gerade selten. Ziemlich verbreitet ist daneben noch das sogen. „Küttisbrennen“, d. h. die Sitte, das gleichmäßig auf dem Acker verteilte und mit Rasen bedeckte gefällte Strauchwerk abzubrennen, um auf diese Weise dem Land höhere Ernten abzugewinnen. Im esthnischen Livland wird der Flachsbau mit Eifer betrieben. Im allgemeinen ist durch die liberale Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte, eifrig gepflegten Schulunterricht (jeder erwachsene Esthe versteht mehr oder weniger gut zu lesen, während die gleichzeitige Kenntnis des Schreibens erst bei der jüngern Generation in Aufnahme kommt), eine sehr regsame Presse (es bestehen fünf sehr verbreitete Zeitungen in esthnischer Sprache) und durch den wachsenden Wohlstand ein im Vergleich zu den frühern Verhältnissen großer Aufschwung hervorgerufen worden. – Die E. haben, gleich den stammverwandten Kuren und Liven, seit den ältesten Zeiten die Küsten der Ostsee bewohnt und sind unter den Fenni des Tacitus mit begriffen. Weiteres über die Geschichte der E. s. Esthland. Vgl. v. Parrot, Entwickelung der Sprache, Abstammung etc., der Liwen, Lätten, Eesten etc. (Stuttg. 1828; neue Ausg., Berl. 1839); F. H. Müller, Der ugrische Volksstamm (das. 1837–39); Fr. Kruse, Urgeschichte des esthnischen Volksstammes (Mosk. 1846); O. Grube, Anthropologische Untersuchungen an E. (Dorp. 1878); Wiedemann, Aus dem innern und äußern Leben der E. (Petersb. 1876), und die „Verhandlungen der Gelehrten Esthnischen Gesellschaft zu Dorpat“ (1840 ff.).